Supermärkte unter Beschuss So trotzen ukrainische Kaufleute dem Krieg

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Es braucht Supermärkte für ein gutes Leben. 
In der Ukraine sind Lebensmittelgeschäfte deshalb zu Angriffszielen geworden. Wie die Kaufleute im Land Ware beschaffen – und sich Hoffnung bewahren.

Montag, 12. August 2024 - Strategie
Santiago Engelhardt
Artikelbild So trotzen ukrainische Kaufleute dem Krieg
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Serhii Kozhenikov sitzt vor einer Pinnwand mit Bildern von Männern und Frauen in Tarnkleidung. ­Unter der Pinnwand: ein Transportbehälter für amerikanische Raketen, leer, aber mit Unterschriften übersät – Grüße von der Front.

Dass seit fast zweieinhalb Jahren Krieg herrscht in der Ukraine, ist nirgendwo im Land übersehbar: Es ist selbst hier, im Besprechungsraum eines Kiewer Metro-Markts, präsent. Kozhenikov, 42 Jahre alt, Vater zweier Kinder, leitet die Filiale des deutschen Konzerns. Er sagt: „Wir haben Glück, es ist schon Mittag, und es gab noch keinen Luftalarm.“ Denn Luftalarm gehört inzwischen zum Alltag: Manchmal mehrmals täglich unterbrechen Kozhenikovs Kollegen jegliche Arbeit. Meist hat dann hinter der Frontlinie ein russischer Jagdbomber mit einer Gleitbombe abgehoben. Der Alarm, den das auslöst, zwingt die Angestellten, alles stehen und liegen zu lassen, die Kunden aus dem Markt zu geleiten, dann einen Luftschutzraum aufzusuchen. Wenig später kommt üblicherweise die Entwarnung, die eigentlich bedeutet, dass die tödliche Ladung des Flugzeugs ein anderes Ziel getroffen hat.

Supermärkte sind kritisch aus Sicht von Invasoren und Verteidigern in Putins Krieg. Der russische Präsident lässt offenkundig auf sie schießen: Schon nach den ersten zwei Kriegsmonaten berichtete der ukrainische Handelsverband RAU über 354 zerstörte oder beschädigte Lebensmittelgeschäfte. Bilder von Volltreffern auf Supermärkte gingen auch später immer wieder um die Welt. Denn funktionierende Lebensmittelläden sind Voraussetzung für einen Hauch von Normalität in Zeiten des Kriegs: Im Metro-Markt von Serhii Kozhenikov und in den rund 5.000 weiteren Mini-, Super- und Hypermärkten im Land kämpfen die Angestellten einen Kampf um die Moral der Bevölkerung. Sie sichern die Versorgung und bescheren kurze Genussmomente im Ausnahmezustand: verkaufen Feinkost, wenn auch weniger als vor dem Krieg, während draußen der Feind das Land mit Terror eindeckt. Lebensmittelhändler wie Metro und der einheimische Filialist Silpo verfolgen gar Wachstumspläne in der Ukraine: Silpo hat während des Krieges 19 neue Filialen eröffnet. Metros ukrainische Tochter will das Geschäft mit Großabnehmern stärken, wie es die Konzernmutter auch in Deutschland und anderswo vorhat, um Umsatz und Gewinn zu steigern.

Umsatzverlust

Ohne Diesel kein Strom

Wie nur soll das gelingen, fragt man sich – und trifft in der Ukraine auf Menschen wie Andriy Tsvykh, ebenfalls Metro-Manager, Director of Operations sein Titel. Tsvykh gelingt das Kunststück, dass so gut wie immer Strom fließt in den Märkten des Händlers. „Gott sei Dank“, sagt er, „hat die Metro von Anfang an in jeden Markt leistungsstarke Dieselgeneratoren installiert.“ Die Angriffe, die die Fliegeralarme auslösen, nämlich gelten zuweilen Kraftwerken, Umspannwerken und Staudämmen. Sie kosten viele
 Zivilisten das Leben, und sie sollen mittlerweile rund die Hälfte der ukrainischen Stromversorgungskapazität zerstört haben. Vor allem am Abend, wenn besonders viele Verbraucher Strom beziehen, kommt es immer wieder zu Ausfällen. Der Chef des Energieversorgers Ukrenerho warnte unlängst, es könne bald zu Abschaltungen für bis zu zwölf Stunden am Tag kommen.

Handelsmanager Tsvykh brachte seine Familie zügig in den Westen des Landes, als das russische Militär im Februar 2022 die Ukraine angriff. Er selbst ist geblieben. Und beschäftigt sich nun mit völlig anderen Fragen als vor dem Krieg. „Wir müssen immer genug Diesel vorrätig haben“, sagt er. Die Versorgung der Stromgeneratoren mit dem Treibstoff ist eine logistische Herausforderung. Teuer ist sie außerdem: Der Notstrom koste rund zweieinhalb Mal so viel wie Elektrizität aus dem Netz, berichtet Tsvykh.

Metro gehört gemessen am Umsatz zu den kleineren Lebensmittelhändlern in der Ukraine. Wesentlich größer ist Silpo, die zweitgrößte Lebensmittelkette des Landes, ein Unternehmen mit umgerechnet rund 2 Milliarden Euro Umsatz, mehr als 300 Märkten und rund 30.000 Mitarbeitern. In einer Filiale in Kiew empfängt der Manager Ivan Palchevskyi mit den Worten: „Hier dreht sich alles um Atmosphäre.“ Es folgt ein Ladenrundgang, wie er auf den ersten Blick auch in Deutschland stattfinden könnte: Der Markt an der Yaroslavska-Straße ist modern gestaltet, kreativ dekoriert. Wandbilder spielen auf die stolze Geschichte des ältesten Stadtviertels von Kiew an. Biblische Figuren schmücken die Obst- und Gemüseabteilung. Der hauseigene Radiosender beschallt die Kunden mit ukrainischer Popmusik.

Einzig das mangelnde Licht fällt unangenehm auf. „Wir müssen Strom sparen“, sagt Oleksandr Oksin, der Chef des Marktes. Und er kündigt an: „In 30 Minuten wird der Strom abgeschaltet.“ Dann würden die Generatoren anspringen.

Silpo ist eines der vielen ukrainischen Unternehmen, die der Krieg gezwungen hat, alle Standorte mit Dieselgeneratoren auszustatten. Und mit einer autarken Internetanbindung: Silpo ließ Antennen für das von Elon Musks Unternehmen SpaceX betriebene Satellitennetzwerk Starlink installieren. In einem Land, in dem zwei Drittel aller Zahlungen bargeldlos abgewickelt werden, ist funktionierendes Internet ein Muss.

Wie sich in Krisensituationen, bei Naturkatastrophen etwa, das Geschäft und die Versorgung aufrechterhalten lassen, ist auch für westliche Händler ein Thema. Das lässt sich lernen von den Kollegen in der Ukraine. Silpo macht außerdem vor, wie ein Händler im Ausnahmezustand die Herzen der Menschen gewinnt: Etwa in Charkiw im Nordosten der Ukraine versorgt die Supermarktkette mit ihren Generatoren zuweilen die Bevölkerung. Dort hat das Unternehmen Ladestationen für Handys aufgebaut und öffentliche Arbeitsplätze mit Stromanschluss für Laptops eingerichtet, wie Palchevskyi berichtet. Die Kriegsschäden dort seien so groß, dass schon heute bis zu zehn Stunden am Tag der Strom ausfalle.

Inflation

Mit der Zerstörung, die russische Raketen anrichten, muss auch Silpo selbst umgehen: In den zwei ersten Kriegsjahren wurden 30 Filialen des Unternehmens zerstört, von denen 17 wieder aufgebaut werden konnten. Auch Lager für Lebensmittel waren schon häufig Ziel russischer Raketen: Im März 2022 zerstörten Putins Streitkräfte eines von Silpos Lagerhäusern bei Kiew. Dabei wurden 10.000 Paletten mit Tiefkühlwaren mit einem Gesamtwert von mehr als 16 Millionen Euro zerstört. „Im Jahr 2023 hatten wir einen Verlust von etwa 80 Millionen Euro“, sagt Palchevskyi mit wütender Stimme.

Psychotherapie gegen die Angst

Die menschlichen Verluste wiegen noch weit schwerer, und sie drohen kein Ende zu nehmen: Allein von den 50.000 Mitarbeitern des Silpo-Mutterkonzerns Fozzy Group kämpfen rund 2.700 an der Front. Die große Hoffnung ist, sie irgendwann wieder in ein ziviles Leben integrieren zu können. Für die Aufgabe hat das Unternehmen nach eigenen Angaben schon eine Managerstelle geschaffen.

Bis dahin aber zerfrisst die Sorge viele Ukrainer. Seine 125 Mitarbeiter hätten ständig Angst um ihre kämpfenden Familienangehörigen und Kollegen, berichtet Metro-Filialleiter Serhii Kozhenikov. Das führe bei manchen zu Schlafstörungen und Depressionen, die die Arbeit erschwerten. „Metro zahlt weiterhin die Gehälter unserer 193 Kollegen, die an der Front kämpfen, und die Psychotherapie für viele von uns anderen“, berichtet er.

Ivan Palchevskyi deutet in der Silpo-Filiale in Kiew auf einen Laib Brot, auf dem in Handarbeit das ukrainische Nationalsymbol eingeprägt wurde. Es sei einer der beliebtesten Artikel, sagt er. Viele Ukrainer besönnen sich im Krieg auf die eigene Kultur. Ukrainische Filme, Musik, Literatur und eben auch ukrainische Lebensmittel seien gefragt. „Die Menschen verstehen, dass es um Steuern, Arbeitsplätze, um unsere Wirtschaft geht, und wollen ihren Teil beitragen.“

Über Deutschland statt Odessa

Zahlen des ukrainischen Handelsverbandes RAU zeigen, welche enormen Summen der Krieg allein die Handelsbranche kostet: Nachdem der Einzelhandel im Vorkriegsjahr 2021 noch fast 45 Milliarden Euro umgesetzt hatte, gingen die Erlöse 2022 auf 34 Milliarden Euro zurück – trotz heftiger Inflation (siehe Grafik S. 8). „Unsere Branche hat als erste den demografischen Wandel, den der Krieg mit sich brachte, zu spüren bekommen“, sagt Metro-Manager Andriy Tsvykh. Acht Millionen Ukrainer haben das Land verlassen und leben seitdem im Ausland.

Ein weiteres Problem sind die unterbrochenen Lieferketten. Die Blockade des Hafens von Odessa hat die großen Lebensmittelhändler vor enorme Herausforderungen gestellt. Ein Teil der Importe wird nun über den rumänischen Hafen von Constanta oder das litauische Klaipeda umgeleitet. Aber der Großteil kommt in Lastwagen über Holland, Deutschland und Polen ins Land. Die Logistikkosten sind allein dadurch nach Branchenangaben um 10 Prozent gestiegen. Als vor einigen Monaten polnische Spediteure und Landwirte die Grenze zur Ukraine monatelang blockierten, sollen sie gar um 80 Prozent höher gelegen haben als vor Ausbruch des Krieges. Hinzu kommt der Mangel an Fahrern. Ein Teil der männlichen Bevölkerung kämpft an der Front, der Rest darf das Land nicht ohne Weiteres verlassen. Silpo hat deshalb ein Programm ins Leben gerufen, um Frauen zu Lkw-Fahrerinnen auszubilden.

Und dann sind da noch die vielen vergleichsweise kleinen Schwierigkeiten des Lebens im Kriegszustand, die nächtliche Ausgangssperre zum Beispiel. Sie dauert bis 5 Uhr morgens. Das Anliefern und Einsortieren beginnt deshalb bei Metro erst um 5.30 Uhr. Filialleiter Kozhenikov lässt also im Laufe des Tages immer wieder einzelne Gänge absperren – damit Gabelstapler die Europaletten in dem Großverbraucher-Markt an die richtigen Stellen bringen können.

Das größte Problem der Lebensmittelhändler aber bleibt die Energieversorgung. Generatoren seien keine Dauerlösung, argumentiert der ukrainische Handelsverband – zu sehr steigerten die Zusatzkosten die Inflation. Letztlich hält deshalb vor allem ein Faktor die Geschäfte am Laufen: die Hoffnung auf Frieden. Der Metro-Filialleiter Serhii Kozhenikov formuliert es so: Er hoffe auf ein baldiges Ende des Krieges, darauf, dass die vielen Ukrainer, die in Westeuropa Schutz gesucht haben, zurückkommen. Seine Landsleute hätten viele Talente, „starke Herzen und Fähigkeiten, um das Land wieder aufzubauen“.

Ausführliches Interview mit Andriy Tsvykh, Metro Ukraine