Supermärkte unter Beschuss Warum Metro-Manager Andriy Tsvykh bei jedem Luftalarm evakuieren lässt

Der ukrainische Metro-Manager Andriy Tsvykh spricht mit der LP über das Geschäft im Kriegszustand.

Montag, 12. August 2024 - Strategie
Santiago Engelhardt
Artikelbild Warum Metro-Manager Andriy Tsvykh bei jedem Luftalarm evakuieren lässt
Bildquelle: Santiago Engelhardt

Vor welche Herausforderungen 
stellt Sie der Krieg?
Andriy Tsvykh: Aktuell ist unsere größte Herausforderung, die Sicherheit unserer Mitarbeiter und Kunden zu gewährleisten. Dazu kommen die komplett zerstörte Lieferkette, die wir wieder aufbauen mussten, Hersteller, die Probleme mit ihrer Produktion hatten, und die Abwanderung unserer Kunden ins Ausland.

Welche Produkte sind am schwierigsten 
zu beschaffen?
Alle hiesigen Hersteller haben ihre Produktion wieder hochgefahren oder sie in den Westen des Landes verlagert. Aber am Anfang des Krieges hatte sogar Coca-Cola die Produktion eingestellt. Auch Pepsico und Danone betrieben Fabriken im Osten und Süden der Ukraine. Manche Produktionsstätten dort waren beschädigt, andere vorübergehend geschlossen. Wieder andere waren sogar besetzt. Auch importierte Produkte wie die von Procter & Gamble bereiteten zunächst Schwierigkeiten, weil die Lieferketten unterbrochen waren. Die größte Herausforderung war natürlich das Frischesortiment, vor allem Fisch und Meeresfrüchte. Aber trotz all dieser Probleme haben wir es geschafft, wieder das Angebot von vor dem Krieg zu erreichen.

Welche ist Ihre wichtigste Warengruppe?
Das ist eindeutig Fleisch. Wir sind dafür bekannt, das größte Sortiment und die beste Qualität zu bieten. Wir sind von Qualität besessen.

Wie schlimm ist die Sicherheitslage?
Wir haben 24 Märkte, einige von ihnen in Gebieten, die täglich unter Artilleriebeschuss stehen. Das Leiden der Menschen dort ist immens. Deshalb haben wir sehr strikte Sicherheitsregeln eingeführt. Wir sind eines von wenigen Unternehmen, die ihre Märkte bei Luftalarm schließen. Wenn es einen Luftalarm in Kiew gibt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Raketenangriffs zwar recht gering. Aber sie besteht, und wir können in diesem Falle nicht mit dem Leben unserer Angestellten und Kunden spielen. Da muss man den Markt schließen.

Wie geht das vonstatten?
Wir haben fünf bis acht Minuten, um den Markt zu räumen. Alle Tätigkeiten müssen abgeschlossen oder abgebrochen werden. Wir müssen die Kunden bitten, den Markt zu verlassen. Dann schließen wir den Markt ab, und die Angestellten gehen in den Luftschutzraum.

Wie lange warten die Mitarbeiter dort?
Etwa nach 20 Minuten kommt üblicherweise die Entwarnung, und es wird klar, dass es nur eine theoretische Bedrohung war. Also gehen alle zurück an ihren Arbeitsplatz, und wir öffnen den Markt. Dann müssen wir die verlassenen Einkaufswagen wieder einsammeln. Die nicht verderbliche Ware wird in die Regale einsortiert. Die verderbliche Ware muss entsorgt werden, um die Qualität zu gewährleisten. Schließlich machen wir den Markt wieder auf.

Wie reagieren die Kunden 
auf die ­Evakuierungen?
Die Akzeptanz ist gestiegen, denn auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs sehr niedrig ist, spielten sich in anderen Geschäften schreckliche Situationen ab: Raketen schlugen ein, Kunden starben.

Metro Ukraine

593

Millionen Euro Umsatz im Jahr 2022

24

Märkte

3.200

Mitarbeiter

 Quelle: Unternehmen/Ukrainischer Handelsverband RAU

Wie haben sich die Prozesse 
bei Ihnen ­verändert?
Wir tun alles, um den Prozess der Evakuierung so unkompliziert wie möglich zu gestalten. Wir lassen den Kunden, der gerade an der Kasse ist, seinen Vorgang abschließen. Und wenn Sie sich unseren Markt ansehen, werden Sie nirgends eine Schlange an den Kassen sehen. Wir haben festgelegt, dass an jeder Kasse maximal zwei Kunden stehen. Sobald das Risiko besteht, dass mehr als zwei Kunden an einer Kasse warten, wird eine weitere Kasse geöffnet.

Das bringt viel Komplexität in 
den Alltag der Mitarbeiter.
Ja, und darüber hinaus haben wir Stromausfälle. Gott sei Dank hat die Metro von Anfang an in jeden Markt leistungsstarke Dieselgeneratoren installiert. Als die Stromausfälle vor zwei Jahren begannen, waren wir eines der wenigen Unternehmen, die im Notfall auf eine Alternative umschalten konnten.

Wie hat der Krieg die Bedürfnisse 
der ­Kunden verändert?
Vor zwei Jahren, als der Krieg begann, gab es einen großen Mangel an Grundnahrungsmitteln. Damals war es die erste Priorität unserer Kunden, überhaupt Zugang zu Essen zu bekommen. Mittlerweile sind unsere Kunden wieder genauso anspruchsvoll wie vor dem Krieg. Sie fordern gute Qualität und eine große Vielfalt.

Wie gut bedienen Sie diesen Anspruch?
Unser Zufriedenheitsindex, der Net Promoter Score, liegt bei 65 und ist damit sogar besser als vor dem Krieg. Im B2B-Geschäft liegen wir bei 75 und bei Lebensmittellieferungen bei 85. Wir sind sehr stolz darauf, dass wir es trotz des Albtraums, der sich um uns herum abspielt, schaffen, unseren Kunden einen guten Service zu bieten. Seit Beginn des Krieges hatten wir nur an einem Tag geschlossen: am ersten Tag des Krieges. Schon am nächsten Tag haben wir unsere Märkte wieder geöffnet, um unseren Auftrag zu erfüllen: die Lebensmittelversorgung. Darauf bin ich sehr stolz.

Wie sieht die Zukunft der Metro 
in der Ukraine aus?
Unser Ziel ist es, durch die konsequente Umsetzung der S-Core-Großhandelsstrategie bis 2030 die Hälfte des Umsatzes mit B2B-Profikunden zu machen. Dieses Ziel wurde schon 2022 beschlossen. Seitdem musste manches angepasst werden, da wir damals davon ausgingen, dass der Krieg Ende 2023 enden würde. Aber im Großen und Ganzen ziehen wir den Plan durch. Es ist wichtig für unsere 3.200 Mitarbeiter, zu wissen, dass ihr Unternehmen nicht nur von der Hand in den Mund lebt, sondern eine langfristige Strategie hat. Das ist eine enorme Motivation. Das beflügelt auch mich.