„Als mich nachts um zwei der Wachdienst übers Telefon geweckt hat, saß ich erst einmal kerzengerade im Bett“, erzählt Alexander Kreuzberg. Schnell zog sich der Koblenzer Kaufmann etwas über, fuhr zu seinem E-Center. Schon als er auf dem Parkplatz einbog, sah er fünf Streifenwagen mit Blaulicht und wusste: Dieses Mal handelte es sich um keinen Fehlalarm.
496 Attacken im vergangenen Jahr
Vielmehr war auch dieser Kaufmann Opfer einer Geldautomaten-Sprengung geworden. Diese schweren Straftaten greifen in Deutschland um sich. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) wurde 2022 mit 496 dieser Attacken ein neuer unrühmlicher Rekord aufgestellt. 2020 und 2021 hatte es bereits rund 800 solcher Sprengungen gegeben. Das BKA führt keine eigene Statistik darüber, wie oft Automaten in Supermärkten und Einkaufszentren zum Ziel werden. Aber eine Medienauswertung zeigt: Selten ist das nicht.
„Ich hätte eine warme Jacke mitnehmen sollen“, schoss es Kreuzberg durch den Kopf, der erst zu Jahresbeginn 2023 offiziell die Geschäftsführung von seinem Vater Konrad übernommen hatte. Er musste im kalten Januar bis 7 Uhr warten, ehe er überhaupt das Gebäude betreten durfte. In der Zwischenzeit prüfte ein Sprengstoffkommando, ob noch Gefahr im Verzug war.
„Es sah katastrophal aus“, schildert der Händler den Moment, als er im Morgengrauen über einen Seiteneingang auf die Verkaufsfläche gelangte. Überall dichter Rauch, Scherben, Splitter, zerborstene Einkaufskörbe und Geldscheine, die mit ausgelaufenem (normalerweise leckerem und regionalem) „Kreuzberg“-Apfelsaft an den Bodenfliesen festklebten. Die Explosion verursachte eine enorme Zerstörung. Die Täter hatten gleich drei Pakete Sprengstoff mit einem Gesamtgewicht von 1,4 Kilogramm eingesetzt, um ins Gebäude einzudringen und den Geldautomaten im Eingangsbereich zu sprengen.
Sowohl die Tatzeit im Koblenzer E-Center als auch die Art der Explosion waren typisch. „Die überwiegende Tatzeit liegt zwischen 0 und 5 Uhr in der Nacht“, erläutert Christoph Wickhorst im LP-Gespräch. Er ist Sprecher für Polizeiangelegenheiten im nordrhein-westfälischen Innenministerium. Kunden seien deshalb in der Regel nicht in Gefahr. Allerdings: „Die Täter gehen professionell und skrupellos vor. Bei den Sprengungen nehmen sie nicht nur starke Beschädigungen von Gebäuden, sondern auch nicht kalkulierbare Gefahren für Leib und Leben von Unbeteiligten in Kauf.“ Statt Gasgemischen wie früher werden inzwischen Explosivstoffe mit enormer Durchschlagskraft verwendet. Bei der Flucht nutzen die Täter hochmotorisierte Fahrzeuge, rasen rücksichtslos und mit hohem Tempo. Außerdem seien die Täter nicht selten bewaffnet, warnt Christoph Wickhorst.
Viele Täter aus den Niederlanden
„Nicht auszudenken“, so Alexander Kreuzberg, „wenn der Anschlag in unserem anderen Koblenzer Markt passiert wäre.“ Dieser kleinere Markt liegt im Wohngebiet, in der Nähe des Hauptbahnhofs. Das E-Center hingegen befindet sich frei stehend in einem Mischgebiet, direkt an einer großen Ausfallstraße. Praktisch für die beiden jungen Täter. Sie wollten auf direktem Weg zur Autobahnauffahrt, planten die Flucht in ihre Heimat, die Niederlande. Noch am gleichen Tag wurden sie von der Polizei gefasst.
Die niederländische Herkunft der Täter war ebenfalls typisch. Nach BKA-Angaben stammen ungefähr die Hälfte der Verbrecher aus dem benachbarten Königreich. Hintergrund: In den Niederlanden schrumpft die Zahl der Automaten immer mehr. Mit ihnen sinkt die Zahl der Sprengungen: 2022 waren es nur noch neun.
Und wie sah der Alltag von Alexander Kreuzberg direkt nach der Geldautomaten-Sprengung aus? Zuerst wurde die Frühschicht komplett nach Hause geschickt; die Kollegen hatten unfreiwillig einen freien Tag. Mittags konnten die Mitarbeiter der nächsten Schicht mit dem Aufräumen beginnen, unterstützt von der Reinigungsfirma.
Warenverlust in Höhe von 100.000 Euro
In der Zwischenzeit bestellte der Inhaber zwangsläufig eine komplette Ladung Obst und Gemüse für den Folgetag. Denn schnell war klar: Alle Produkte aus der Obst- und Gemüseabteilung, die räumlich neben dem gesprengten Automaten liegt, mussten vernichtet werden. Nicht nur wegen kleiner und kleinster Glassplitter, sondern auch wegen der Rauchentwicklung. Zwei große Container mit je zehn Kubikmetern, bis oben gefüllt mit Ware, wurden entsorgt. Schaden: etwa 100.000 Euro.
Doch so groß der Schreck und so hoch der Verlust auch war – Alexander Kreuzberg ist froh, dass kein Mensch zu Schaden gekommen ist. Die Versicherung kommt für die Sachschäden und für den Ausfall auf, der durch die Schließung verursacht wurde. Schon am nächsten Tag konnte das E-Center wieder öffnen. „Das verdanke ich nur meinen Mitarbeitern, die unermüdlich aufgeräumt haben“, sagt der Koblenzer. Ob er einen neuen Geldautomaten in Betrieb nimmt, weiß Kreuzberg noch nicht. Wenn überhaupt, dann nur einen an der Außenfassade. Der Sparkasse Koblenz wäre daran gelegen. Doch auch jetzt können die Kunden Geld abheben, direkt an der Edeka-Kasse. Die Zahl dieser Abhebungen ist immens gestiegen, stellt Kreuzberg fest.
Was ihn ein wenig traurig stimmt: Neben dem Geldautomaten stand eine gläserne Vitrine, in der die Familie Kreuzberg einige Pokale ausgestellt hatte. Darunter war auch der Pokal zum „Supermarkt des Jahres 2014“ der LP. Die Trophäen sind alle zerstört. Alexander Kreuzberg: „Da müssen wir uns wohl erneut bewerben.“
3 Fragen an
Nancy Faeser, Bundesinnenministerin (Sprecher-Antwort im Auftrag der Ministerin)
Wie gefährlich sind die Tätergruppen der Geldautomaten-Sprenger?
Nancy Faeser: Geldautomaten werden inzwischen überwiegend mithilfe fester Explosivstoffe gesprengt. Die Nutzung dieser hochgefährlichen Sprengstoffe durch die Täter birgt erhebliche Gefahren für die körperliche Unversehrtheit und das Leben unbeteiligter Dritter, vor allem für Anwohner in der Umgebung.
Im November tagte zum ersten Mal ein runder Tisch Geldautomaten-Sprengungen, unter anderem mit Vertretern der Kreditwirtschaft. Können Sie das Ergebnis auf den Punkt bringen?
Die Teilnehmenden aus Polizeibehörden, Kreditwirtschaft, Deutscher Bundesbank und Versicherungswirtschaft haben eine gemeinsame Erklärung mit einer Reihe von Präventionsmaßnahmen unterzeichnet. Darunter sind unter anderem der Einsatz von Nebelsystemen sowie von Einfärbe- oder Klebesystemen.
Wie geht es da weiter?
Ende Juni 2023 werden die Unterzeichner der gemeinsamen Erklärung zusammen mit mir die erreichten Fortschritte und Erfolge bewerten. Sollte sich herausstellen, dass die gemeinsame Erklärung nicht ausreichend umgesetzt wird, halte ich gesetzliche Verpflichtungen der Geldautomatenbetreiber für erforderlich.