Trend 2023 „Positionierung gegen Discount nicht aus den Augen verlieren“

Vollsortimenter versuchen steigenden Kosten und Personalmangel durch Leistungseinschränkungen zu begegnen. Das kann gefährlich sein, sagt Michael Gerling (Bild), Hauptgeschäftsführer des EHI Retail Institute e. V., dem  Forschungs- und Bildungsinstitut für den Handel in Köln.

Mittwoch, 11. Januar 2023 - Management
Reiner Mihr
Artikelbild „Positionierung gegen Discount nicht aus den Augen verlieren“
Bildquelle: Intuitive Fotografie Köln

LP: Michael, wie ist Dein Fazit für 2022 und Dein Ausblick auf 2023 in Bezug auf den Lebensmittelhandel?
Michael Gerling: Nach zwei sehr guten Jahren für den Lebensmittelhandel war 2022 von großen Herausforderungen geprägt. Die Kaufzurückhaltung der Haushalte durch steigende Kosten und die Unsicherheit bezüglich der weiteren Entwicklung war deutlich spürbar. Preiserhöhungen der Lieferanten konnten nicht zu 100 % weitergegeben werden und es gab Verschiebungen in den Sortimenten. Das führte zu einer Reduzierung der Spanne. Gleichzeitig sind die Energiekosten sehr stark gestiegen. Je nach Unternehmen und Grad der Absicherung hat das die Unternehmen allerdings unterschiedlich stark getroffen.

Das Weihnachtsgeschäft war für viele dann doch ein Lichtblick. Wir können also hoffen, dass sich die Situation im kommenden Jahr wieder stabilisiert.

Risiken?
Die Energiekosten werden allerdings weiterhin hoch sein und es ist auch mit deutlich steigenden Personalkosten zu rechnen. Die Inflation in Nahrungsmittelbereich wird die extrem hohen Werte des Jahres 22 nicht mehr erreichen, sie wird aber weiter dazu führen, dass die Menschen auch in 2023 sehr preisbewusst einkaufen müssen. Es wird also bestimmt nicht leichter.

Wo siehst Du die größten Herausforderungen für 2023 in der Branche?
Im Vollsortimentshandel versuchen viele, den steigenden Kosten und auch den Personalengpässen durch Einschränkung von Öffnungszeiten und Serviceleistungen entgegenzutreten. Das kann man natürlich zunächst sehr gut nachvollziehen, darin besteht aber auch eine große Gefahr. Sicherlich gehört eine Menge Mut dazu, im Supermarkt auch weiterhin die klare Abgrenzung zum Discounter zu suchen. Eine Annäherung an die Discounter durch Einschränkung von Leistungen wird aber mittelfristig das klare Profil der Supermärkte verwässern. Die Supermärkte haben in den letzten Jahren gezeigt, dass sie mit einem deutlichen Leistungsabstand zu den Discountern erfolgreich sind.

Wer kommt gestärkt aus der gegenwärtigen Lage: Discounter, Vollsortimenter oder Online-Verkauf?
Die Discounter haben im abgelaufenen Jahr verlorene Marktanteile aus der Corona-Zeit zurückgewonnen. Vor allem der Bio-Fachhandel hat das deutlich gespürt und die bekannten Insolvenzen in diesem Bereich unterstreichen das ganz deutlich. Der Lebensmittelbereich war in 2022 eines der wenigen Wachstumssegmente im Onlinehandel. Wir können hier auch für die Zukunft weiteres Wachstum erwarten, für die Unternehmer bleibt das Online-Geschäft mit Lebensmitteln aber wirtschaftlich nach wie vor eine große Herausforderung.

Viele Händler treibt die Sorge um fehlende Mitarbeiter. Wie schätzt Du das ein und was wären Deine Lösungsvorschläge, um Menschen für den Lebensmittelhandel zu begeistern?
In den kommenden 10 Jahren werden wir im Saldo etwa 6 Millionen Erwerbstätige verlieren. Im Lebensmittelhandel spüren wir die große Knappheit an Arbeitskräften bereits heute. Es wird nicht ausreichen, sich als Arbeitgeber besonders positiv in Szene zu setzen. Employer Branding und ausgefeilte Recruitingstrategien sind sicherlich wichtig, sie werden aber nicht reichen.  Der Lebensmittelhandel muss mehr denn je die Produktivität in den Märkten erhöhen. Effiziente Prozesse und Automatisierung sind unverzichtbar.

Was meinst du konkret?
Etwa 20 % der Arbeitsstunden in einem Supermarkt entfallen auf die Kasse. Es ist daher nicht verwunderlich, dass hier bereits viele Maßnahmen unterwegs sind, um durch Self-Check-System in unterschiedlichsten Varianten den Kunden in die Prozesse einzubinden. Auch die Digitalisierung von Coupons, Kassenbons oder Handzetteln wird weiter voranschreiten. Elektronische Regaletiketten sind heute überall im Roll out und es wird auch mehr und mehr zu Tests mit Robotern geben. Zum Beispiel in der Reinigung oder auch im Bereich der Regalauffüllung. Wir sehen schon heute, dass Roboter die Bestandssituation in den Regalen über Nacht automatisiert aufnehmen, dass digitale Zwillinge von Filialen tagesaktuell erstellt werden und damit nicht nur das Personal in den Märkten entlastet wird, sondern auch die vorgelagerten Lieferstufen ihre Arbeit im Hinblick auf den optimalen Ablauf in den Märkten besser gestalten können. 

Siehst Du im Mitarbeitermangel mit allen Konsequenzen (Öffnungszeiten, Bedientheken, Service, Kompetenz) eine Gefahr für den vollsortierten Handel? Droht eine Marktbereinigung?
Wie gesagt, die Hauptgefahr sehe ich darin, dass man die strategische Positionierung der Vollsortimenter gegenüber den Discountern aus den Augen verliert. Wir hatten bereits in den neunziger Jahren eine Phase, in der die Supermärkte versucht haben, Erfolgsbausteine der Discounter zu kopieren. Bedienungstheken wurden verkleinert und Sortimente reduziert. Dadurch wurde das Wachstum der Discounter nicht verringert, sondern weiter beschleunigt. Erst, als die Supermärkte konsequent auf Abgrenzung gesetzt haben, konnte das Wachstum der Discounter gestoppt werden. Das sollten wir nicht vergessen.

Energiesparen wird im LEH mehr denn je zur Pflichtaufgabe. Wo sind aus Sicht des EHI die wichtigsten Hebel anzusetzen?
Die Lebensmittelhändler haben in den letzten Jahren als Reaktion auf eine veränderte Nachfrage, ihre Kühlflächen erheblich erweitert. Fast die Hälfte des gesamten Energieverbrauch, es im Lebensmittel Einzelhandel wird durch Kühlung verursacht. Dennoch ist es gelungen, den Energieverbrauch pro Quadratmeter in den letzten fünf Jahren, um 5 % zu senken. Die Umstellung auf energiesparende LED-Beleuchtung ist weitgehend abgeschlossen, wesentliche Hebel im Hinblick auf die weitere Reduzierung von Energiekosten bleiben also die Kühlung und die Klimatisierung. Ende Februar wird die Euroshop in Düsseldorf stattfinden. Beide Themen werden dort sicherlich mit vielen Innovationen präsentiert.