Leere Regale Auf der Suche nach dem Schuldigen

Das immer noch gemeinsame Boot schlingert. Derart angespannt war das Verhältnis zwischen Händlern und Herstellern lange nicht.

Dienstag, 29. November 2022 - Management
Thomas Klaus
Artikelbild Auf der Suche nach dem Schuldigen
Bildquelle: dm

Gescheiterte Gespräche, Listungs-Stopp, Lieferboykott, leere Regale. Das gestörte Verhältnis zwischen Teilen des Lebensmittelhandels und Teilen der Lieferanten vergiftet eine ganze Branche und wirkt sich aus – und die Kunden stehen in den Märkten vor leeren Regalen. Ein Problem für die Kaufleute dort, könnten Kunden „ihr“ Produkt doch auch anderswo suchen. Der Vergleich, den Professor Dr. Carsten Kortum (Foto) im LP-Gespräch wählt, prägt sich gut ein. „Handel und Hersteller sitzen in einem Boot“, sagt der Studiengangsleiter BWL-Handel an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. „Beide Seiten sollten darauf achten, dass sie nicht untergehen. Gegenseitig müssen sie sich das Überleben gönnen.“

„Außergewöhnliche Konfrontation“

Bildlich: Das Meer, auf dem das Boot seinen Weg suchen muss, ist aufgewühlt wie lange Zeit nicht. „Auseinandersetzungen zwischen Händlern und Herstellern hat es immer schon gegeben“, weiß Kortum, der die Handelspers‧pektive aus langjähriger LEH-Praxis kennt: Von 1994 bis 2010 war er bei Lidl in Führungspositionen tätig, darunter als Verkaufsleiter im Vertrieb. Doch die jetzige Situation gehe weit über „taktische Spielchen der Vergangenheit“ hinaus. Das zeigten unter anderem eine relativ zerrüttete Beziehung und früher undenkbare Totalauslistungen, so Kortum.

Diese Einschätzung unterschreibt Kortum-Kollege Professor Dr. Stephan Rüschen unbesehen. Er lehrt und forscht ebenfalls an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn. „Das Verhältnis zwischen Handel und Hersteller“, meint er, „ist so angespannt wie seit 30 Jahren nicht mehr. Die Konfrontation fällt so außergewöhnlich aus, wie ich es noch nie erlebt habe.“

Uwe Dietrich vom E-Center Dietrich in Chemnitz ist einer der wenigen Händler, die sich mit ihrem Namen gegenüber der LP zur aktuellen Lage äußern mögen. Andere Händler lassen unterschiedliche Meinungen – etwa zu der Frage, wie Kunden auf die Situation reagieren – verlauten. „Die Kunden sind nicht gerade amüsiert und lassen ihren Unmut am Personal aus“, bedauert einer. „Die Kunden reagieren verständnisvoll, sofern sie ehrlich über die Hintergründe informiert werden“, beobachtet ein anderer. Dietrich bestätigt: „In manchen Sortimentsbereichen wechselte das gewohnte Bild von gut gefüllten Regalen in eines mit vielen Grifflücken. Auch mal fast leer kommt vor.“ Allerdings sei es keinesfalls so, dass eine Grundversorgung nicht mehr gewährleistet wäre; vielmehr leide eher die Angebotsvielfalt.

Für Dietrich ist der Verantwortliche der Misere schnell ausgemacht. Die Hersteller-Seite sei es, die angespannte Lieferketten, explodierende Energiekosten und Inflation rigoros ausnutze. Zwar nicht alle Hersteller: „Ein Teil von ihnen findet zusammen mit den Händlern einen Konsens, der für beide akzeptabel ist. Ein anderer Teil ist nicht bereit, auch nur ansatzweise zu verhandeln. Und das sind nicht die kleinen oder mittelgroßen Hersteller.“ Und er nennt ein Beispiel: „Hersteller agieren innerhalb Europas mit mehreren Preislisten. Selbst wenn die Ware kostengünstig produziert wurde, fällt die Preiserhöhung in Deutschland bestimmt zweistellig aus. Und im Schlusssatz des Vertrages wird bereits die nächste kurzfristige Preiserhöhung angekündigt.“

Leere Regale und Kundenverlust

Jonas Meyer von der Marktleitung bei Edeka Meyer in Hittfeld spricht im Gegensatz zu seinem Chemnitzer Händler-Kollegen von einer „gewissen Sturheit auf beiden Seiten“, die abgelegt werden müsse. Er plädiert für ein „gesundes Mittelmaß“, mit dem alle am Handel beteiligten Parteien leben könnten. Händler und Hersteller sollten sich auf ihre Abhängigkeit besinnen: „Ansonsten verlieren beide Seiten.“ Ein Verzicht auf Margen könne gelegentlich zielführend sein, müsse allerdings „möglichst im Kollektiv“ erfolgen.
Auch die Politik will der Kaufmann auf keinen Fall aus ihrer Verantwortung entlassen. Sie sei an steigender Inflation und fast unbezahlbaren Energiepreisen nicht unschuldig, handele ferner oft wirklichkeitsfremd: „Zweifelsohne ist es schön, wenn der Arbeitnehmer die Möglichkeit auf bis zu 3.000 Euro steuerfreien Bonus hätte. Allerdings ist doch kaum ein mittelständisches Unternehmen jetzt noch in der Lage, solche Boni zu gewähren, während Spanne und Gewinn sinken, die Kosten dagegen ins Unermessliche steigen.“
Was Meyer besonders wichtig ist: baldige Verhandlungen. Nicht zuletzt, weil leere Regale – wissenschaftlich belegt – ein echtes Kundenverlust-Risiko sind. Immerhin 29 Prozent der Kunden entscheiden sich bei diesem Anblick für einen Filialwechsel. Dabei kommt für 8 Prozent der gleiche Anbieter, für 21 Prozent jedoch ein anderer Anbieter infrage. Das sind Ergebnisse aus der Studie der Dualen Hochschule Baden-Württemberg aus diesem Sommer. Tückisch: Von den 21 Prozent, die einen anderen Anbieter wählen, erledigt fast die Hälfte (künftig?) den gesamten Einkauf dort. Zwar bestehen bei den Betriebstypen und Produktgruppen Unterschiede, aber dennoch verdeutlichen die Zahlen die Dramatik für den Handel.

 

67%

der Verbraucher achten auf den Preis (Civey-Umfrage)

20%

teurer waren Lebensmittel im Oktober (Statistisches Bundesamt)

 

Kritik an der Suche nach den Schuldigen

Auch der Handel muss auf die Hersteller zugehen, nicht nur umgekehrt. Davon ist Professor Dr. Stephan Rüschen von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg überzeugt. Im LP-Gespräch kritisiert er die „einseitige Kommunikation des Handels“, bei der den Herstellern komplett die Schuld in die Schuhe geschoben werde. Dem Handel rät Rüschen, seine Marktmacht nicht zu überschätzen. Er tue zum Beispiel gerne so, als ob er auf Markenartikel verzichten könne. Das stimme nicht. Viele Verbraucher verlangten ausdrücklich nach Marken und verhielten sich nachweislich sehr markenloyal.

Hersteller müssen transparenter werden

Stimmt. Verhandelt werden muss. Und wird. Doch die kommenden Verhandlungsrunden sollten dann auch als Chance zu einem (atmosphärischen) Neubeginn genutzt werden. Dazu rät Professor Kortum, spricht von einem „notwendigen Paradigmenwechsel“. Insbesondere die Herstellerseite sieht der Wissenschaftler mit LEH-Background in der Pflicht. „Die großen Hersteller fahren nach wie vor gigantische Gewinne ein“, erläutert er. Nestlé mit seinem Umsatzplus von 8,5 Prozent in den ersten neun Monaten des Jahres sei da nur ein Exempel von vielen. Hingegen nennt Kortum die Gewinnmargen im Handel „sehr überschaubar“. Vor diesem Hintergrund sieht er eine Art Bringschuld der Hersteller. Die müssten offener und transparenter ihre Preiskalkulationen offenlegen. Carsten Kortum weiß: „Die Industrie lässt sich nicht gerne in die Karten gucken. Aber sie sollte sich zumindest mehr in diese Richtung bewegen und damit ein Zeichen des kooperativen Miteinanders setzen.“

Diese Sichtweise des Professors mit Lidl-Background trifft im LP-Gespräch bei Peter Feller, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie (BVE), auf wenig Gegenliebe. Er betont: „Leider wollen manche Händler nicht die Notwendigkeit anerkennen, dass die Lebensmittelhersteller ihre steigenden Kosten auch weitergeben müssen, um auskömmlich produzieren zu können. Stattdessen werden mit Nachdruck und unter Androhung von Auslistung Preiserhöhungen abgelehnt oder sogar Preisnachlässe gefordert.“ Feller verweist auf eine aktuelle BVE-Umfrage unter den Mitgliedsbetrieben. Diese ergab: 84 Prozent der Befragten erwarten in den kommenden sechs Monaten sinkende Erträge. 41 Prozent der Unternehmen berichteten von verdoppelten Energiepreisen innerhalb des vergangenen Jahres. Und bei 19 Prozent der befragten Unternehmen hätten die hohen Energiepreise bereits zu einer Produktionsdrosselung oder Aufgabe eines Geschäftszweiges geführt. Erste Firmen haben Peter Feller zufolge ihre Produktion bereits eingestellt. Die Händler sollten nach Fellers Auffassung beherzigen, dass auch sie von dem großen Angebot an hochwertigen Lebensmitteln zu vergleichsweise immer noch niedrigen Preisen profitierten, die in Deutschland produziert würden.

Liquidität der Unternehmen gefährdet

Weiterer Aspekt: Die Hersteller müssten stets in Vorleistung treten und die gestiegenen Kosten aus ihren Rücklagen bezahlen, bevor die oft langwierigen Verhandlungen endlich höhere Erlöse brächten. Dieser oft monatelange Verzug zehre an der Liquidität der Unternehmen. Deutliche Worte richtet Peter Feller an die Adresse derjenigen Handelspartner, „die sich zurzeit als Hüter der niedrigen Verbraucherpreise inszenieren“: Die mögen „auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und die unerlässlichen Preisanpassungen der Hersteller akzeptieren“. Er fügt hinzu: „Es zahlt sich mittelfristig nicht aus, die deutschen Hersteller zu drangsalieren.“ Zugleich gibt Feller zu bedenken: „Für Aufsehen sorgen immer nur die großen Kräche. Dabei gibt es nicht nur Knatsch, sondern auch viele langjährige Lieferbeziehungen zum beiderseitigen Vorteil.“

Und wie steht es um die Bootsinsassen vom Handel? Auch die werden von Branchen-Kennern zum Teil deutlich kritisiert, siehe an anderer Stelle dieser Seiten. Einer der Vorwürfe: Ihr Auftreten als Verbraucher-Anwalt sei unglaubwürdig.

Zur Person Prof. Dr. Carsten Kortum
Prof. Dr. Carsten Kortum

Prof. Dr. Carsten Kortum hat 1994–1997 in der Lidl-Regionalgesellschaft Wasbek als Verkaufsleiter im Vertrieb und 1997–2010 im internationalen Einkauf Non-Food in leitender Position gearbeitet.

Er ist Betriebswirtschaftler und hat in Wirtschaftsgeografie zu „Corporate Social Responsibility in industriellen Clustern“ an der Universität Kiel promoviert. Er wurde 2013 als Professor für Lehraufgaben an die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) berufen. Seine fachlichen Schwerpunkte sind der Einkauf im Handel, Handelsmanagement, Handelsmarketing (insbesondere Preis- und Sortimentspolitik) sowie CSR und Nachhaltigkeit in globalen Wertschöpfungsketten.