Start-ups Geldverbrennen war gestern

Die Bewertungen bei nicht börsengelisteten Lieferdiensten für Lebensmittel sind eingebrochen. Investoren sind derzeit nur dann bereit, Geld nachzuschießen, wenn sie im Gegenzug entsprechende Sicherheiten erhalten. Die Zeit des billigen Geldes ist vorbei.

Montag, 10. Oktober 2022 - Management
Matthias Mahr
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Mit ihren Start-ups übersetzen Gründer neue Ideen und Technologien in die Praxis und leisten damit einen essenziellen Beitrag zur Weiterentwicklung und Erneuerung unserer Wirtschaft. Derzeit gerät dieser Prozess ins Stocken. „Mit der aktuellen deutlichen konjunkturellen Abkühlung in Kombination mit steigenden Zinsen und höheren Risikoaufschlägen sind Start-ups von zwei Seiten betroffen“, sagt Johannes Sausen, Direktor – Head of Consumer & Retail, IKB Deutsche Industriebank AG. Für Food-Start-ups steigen nach Aussagen des IKB-Experten die Hürden, um notwendiges Wachstum zu generieren und an kritischer Größe zu gewinnen. Generell seien Zeiten konjunktureller Schwäche keine guten Zeiten für Innovationen. „Die Konsumenten tendieren verstärkt zu Basisprodukten sowie Private Label und sind zurückhaltender bei neuen Angeboten. Zudem sind Start-ups in gleicher Weise von den massiv gestiegenen Rohstoff-, Energie- und Logistikkosten betroffen wie etablierte Anbieter. Der Working-Capital-Bedarf steigt bei gegebenenfalls ausbleibender oder flacher verlaufender Expansionskurve“, berichtet Sausen. Das Finanzierungsumfeld werde auf jeden Fall herausfordernder. „Je nach Finanzierungsstadium müssen die Eigenkapitalgeber gegebenenfalls Geld nachschießen, wenn sich keine Fremdkapitalmittel generieren lassen“, weiß er. Und genau darin liegt derzeit die Krux.

Storytelling reicht nicht aus
Die allgegenwärtige Investorenzurückhaltung macht auch vor E-Commerce generell – und E-Food im Speziellen – nicht halt. „Besonders hart trifft es dabei die in der Corona-Pandemie noch hochgehypten Quick-Commerce-Lieferdienste, bei denen die meisten Konzepte im DACH-Raum noch meilenweit von der schwarzen Null entfernt sind“, lautet die Bestandsaufnahme von Dr. Matthias Schu, dem führenden E-Food-Experten im DACH-Raum. Der Fall von so manchem Einhorn scheint nach seinen Aussagen vorprogrammiert und unvermeidbar. Doch der Experte betont: „Interessanterweise versiegt das Investmentkapital jedoch nicht für die eher klassischen Online-Supermärkte mit Fokus auf dem Wocheneinkauf. Hier wird investorenseitig vor allem auf Konzepte gesetzt, die wie etwa Picnic oder die Rohlik-Gruppe mit ihren Töchtern Gurkerl, Knuspr und Sezamo stark auf eigene Lieferflotten und vor allem Lagerautomatisierung setzen.“ Das absehbare Erreichen von Profitabilität sei endlich zu einem Aspekt geworden, der auch in die Verteilung von Investorengeld mehr und mehr einfließe und Storytelling als Argument mehr und mehr abschwäche.
Ralf Dümmel ist der bekannteste Investor aus der Vox-Show „Die Höhle der Löwen“. Er bestätigt: „Natürlich schlägt sich die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation auf die gesamte Wirtschaft und damit auch die Start-up-Szene nieder. Entsprechend verständlich ist die aktuelle Zurückhaltung vieler Investoren.“ Doch Dümmel erklärt auch, es gebe hier kein Entweder-oder. In jeder Krise gibt es Branchen, die profitieren. Start-ups aus dem Energiebereich legen aktuell deutlich zu. Dümmel verweist auf einen seiner Deals bei Vox: „Der Puregreen Wassersparer, in den ich im Frühjahr investiert habe, ist ein gutes und erfolgreiches Beispiel.“ Dennoch werden die kommenden Monate herausfordernd für Start-ups. „Auch wenn derzeit sicher nicht die beste Zeit ist, zu gründen, denke ich, dass wir gerade mit ‚Die Höhle der Löwen‘ zeigen, dass es sich lohnen kann, mutig zu sein und am Ball zu bleiben, wenn auch mit Bedacht“, führt er aus.

Prozesseffizienz im Fokus
Das Versiegen von billigem Kapital führt zumindest zu dem Bewusstsein, dass stärker auf Prozesseffizienz geachtet und bisher brachliegende Optimierungsmöglichkeiten endlich genutzt werden müssen. Die drei großen Stellschrauben dabei nennt der E-Food-Szene-Kenner Schu, der als Dozent für E-Commerce und Handel an der Hochschule Luzern lehrt: weniger Invest in Marketing- und Rabattcoupon-Schlachten, wie sie vor allem im Quick Commerce noch gang und gäbe sind. Zweitens: Lagerautomatisierung und effizientere Auslieferung auf der letzten Meile mit mehr Stopps pro Tour in möglichst kurzen Abständen. Und last, but not least: eine durchdachte Preissetzung beim Thema Liefergebühr, die sich nicht an willkürlich festgelegten Mondpreisen orientiert, sondern an dem, was die Kunden tatsächlich bereit sind zu zahlen. „Gerade hier ist sowohl der Hebel auf das Ebit als auch die Unwissenheit vieler Player hinsichtlich der Anwendung gewaltig“, verweist Schu auf seinen „E-Food Pricing Report“. Dort analysiert er die Preismodelle ausführlich.

Gründerszene wird weiblicher
Ein Blick in die Szene verrät: Immer mehr Frauen gründen Start-ups – ihr Anteil liegt nun bei 20,3 Prozent (2021: 17,7 Prozent). Und: Ökologische Nachhaltigkeit ist für die Startups immer wichtiger, berichtet der Deutsche Start-up-Monitor. Mit 46 Prozent ordnet sich fast die Hälfte der Unternehmen der Green Economy zu und will in diesem Bereich einen Beitrag leisten. Das deckt sich mit den Ansichten von Fernseh-Löwe Dümmel.

In Berlin zeigen 40 Start-ups und Manufakturen am 14. und 15. Oktober die größten Food-Trends des Jahres im House of Food. Der Pressesprecher der Berlin Food Week, Michael Hetzinger, bekennt, dass die Food-Start-ups wie die gesamte Wirtschaft unter Personal- und Rohstoffmangel sowie erhöhten Einkaufspreisen leiden. Doch der Trend zu Innovationen und Bio-Food sei ungebrochen. Vier der Aussteller winkt am Ende der Präsentation eine zeitlich begrenzte Zweitplatzierung im berühmten KaDeWe.

Ankerkraut hat diese „Ochsentour“ bereits hinter sich. Im April schlüpfte das Hamburger Gewürzunternehmen, dem 2013 von Löwen-Investor Frank Thelen mit 300.000 Euro unter die Arme gegriffen wurde, unter den Nestlé-Schirm. Während Corona schoss der Umsatz der Hanseaten durch die Decke. Annähernd 30 Mio. Euro setzten sie 2021 um. Der Unmut der Kunden, aber auch der Kooperationspartner ist seit dem Nestlé-Deal groß. Sogar bei LinkedIn werden noch Monate nach der Nestlé-Übernahme negative Posts abgesetzt. Die harmlosen lauten: „Ankerkraut, das kaufe ich nie wieder!“ Neue Zahlen seitens Nestlé liegen nicht vor. Es sollte jedoch für den Lebensmittel-Giganten schwer werden, die Ankerkraut-Community zu halten.

Der Ausblick bleibt positiv
Doch wie geht es weiter mit den Start-ups? „Insgesamt kann im DACH-Raum bei E-Food auch post-pandemisch und trotz genereller Konsumflaute im Nonfood-Bereich weiterhin von einer robusten Situation mit zweistelligen Wachstumsraten in den kommenden Jahren ausgegangen werden. Insbesondere der Bereich Supermarkt-Sortiment mit Fokus auf dem Wocheneinkauf mit Playern wie Rewe, Bringmeister, Flaschenpost, Knuspr oder Picnic muss sich keine Sorgen machen“, wagt Schu einen Ausblick. Weiterhin stark konsolidieren werde sich jedoch der Markt in der Quick-Commerce-Nische. „10–20 Minuten Lieferzeit wie bei Flink, Gorillas, Getir oder Stash sind kein nachhaltiges Wertversprechen für die Mehrzahl der Kunden“, sagt Schu.

„Wir gehen davon aus, dass die Nachfrage nach innovativen Food-Produkten im Zuge einer konjunkturellen Erholung wieder an Dynamik gewinnen wird, insbesondere wenn Aspekte der Nachhaltigkeit bedient werden, etwa plant-based“, blickt IKB-Experte Sausen positiv gestimmt nach vorn. Der Food-Sektor nehme eine zentrale Stellung bei der globalen Reduzierung der CO2-Emissionen ein. Entsprechend bleiben Start-ups mit dem Fokus „New Food“ oder „Food Tech“ interessant für Investoren.