Handelsstrategien Partner der Politik

Die Zusammenarbeit sei deutlich ausbaufähig: Die BVLH-Chefs ziehen eine erste Regierungsbilanz. Minister Özdemir bekommt von Friedhelm Dornseifer und Franz-Martin Rausch noch keine guten Noten.

Freitag, 29. April 2022 - Management
Andrea Kurtz und Reiner Mihr
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Bildquelle: Santiago Engelhardt

Die Ukraine-Krise verändert die Welt, da müssen wir uns nichts vormachen. Und nicht nur wir persönlich, sondern auch die Politik hat die Gefahrenlage, die von Moskau ausgeht, falsch eingeschätzt. Hätten Sie für möglich gehalten, was derzeit die gesamte Gesellschaft, vor allem aber die Wirtschaft verändert?
Franz-Martin Rausch: Nein, dieses Ausmaß und diese Entschlossenheit zur Kriegsführung haben wir nicht erwartet. Auch die Beweggründe von Wladimir Putin können erst jetzt richtig gedeutet werden. Glücklicherweise reagiert die westliche Welt in weiten Teilen geschlossen.

Eine kurze Einschätzung: Wie geht die Ampel-Koalition mit der Situation um?
Friedhelm Dornseifer:
Vor einer vergleichbar großen Herausforderung stand wohl schon eine Zeit lang keine Bunderegierung mehr. Zu den Krisenthemen stehen wir mit den Ministerien in regelmäßigem Kontakt; es gibt Jour Fixe, bei den auch die Ernährungsindustrie mit an Bord ist. Die Lebensmittelversorgung sowie alles was damit zusammenhängt wie die Kostenentwicklung bei Agrarrohstoffen, Öl und Gas stehen derzeit natürlich im Mittelpunkt unseres Austauschs.

Wie erleben Sie die Kunden angesichts der Krise?
Dornseifer:
Besorgt. Nicht wenige bevorraten sich, wie wir bei den kurzzeitigen Versorgungsengpässen mit Öl oder Mehl gesehen haben. Ich sehe aber auch, dass Dinge wie Zahnpasta oder Hygieneprodukte gekauft werden, um Flüchtlinge zu versorgen oder um Care-Pakete in die Ukraine zu schicken.

Zurück zur Politik: Welche Themen stehen denn auf der Verbands-Agenda und wie schnell konnten Sie mit der Umsetzung beginnen?
Rausch:
Zunächst einmal gilt, auf der Arbeitsebene laufen die Gespräche. Und das obwohl es schwierig ist, in der Kürze der Zeit komplexe Sachverhalte wie die Ernährungsstrategie anzugehen. Dazu brauchen wir mehr Zeit. Kurzfristiger angehen wollen wir die Tierhaltungskennzeichnung; das steht ganz oben auf unserer Liste.

Mit welchen Ministerien sind Sie denn im Gespräch?
Rausch:
Die Lebensmittelfachthemen besprechen wir in erster Linie mit dem Bundesernährungsministerium. Bezüglich der Versorgungslage haben wir aber auch zum Bundeswirtschaftsministerium einen engen Draht. Aber natürlich gibt es auch Themen, die wir mit weiteren Ministerien wie dem Umweltministerium vorantreiben wollen.

Bei der Anuga beispielsweise ist die politische Besetzung meist dünn. Im Gegensatz zur Automobilindustrie scheint die Wertschätzung für die Branche gering. Ändert sich daran gerade etwas? Wie hoch ist denn der Stellenwert der Ernährungsbranche, sowohl von Industrie als auch von Lebensmittelhandel, in der Politik?
Dornseifer:
In unseren Augen hat sich das geändert, weil wir – das hat Corona ja deutlichgezeigt– als kritische Infrastruktur gesehen werden. Das Bewusstsein für Lebensmittel und auch für gesunde Ernährung ist deutlich gewachsen – gerade auch in der Politik. Das haben wir bei der alten Regierung gesehen und auch bei der neuen sehen wir das. Aus der neuen Regierung heraus sind die Akteure zu einigen Themen auch schon auf uns zugekommen.
Rausch: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine stehen natürlich andere Themen im Vordergrund. Jetzt stehen erst einmal Versorgungsfragen und die Marktentwicklungen auf der Tagesordnung, aber deswegen ist der notwendige Umbau des Ernährungssystems ja nicht abgesagt. Diese Themen werden die Regierung und wir natürlich auch angehen.

„Wenn Özdemir das Ernährungssystem umbauen will, muss er das mit uns gemeinsam machen. Das wollen wir ihm vermitteln.“

Franz-Martin Rausch

Lassen Sie uns die Sachthemen doch noch einmal benennen … Was diskutieren sie neben der Tierhaltung?
Rausch:
Die Reduzierung von Lebensmittelverlusten steht ebenfalls in unserem Fokus. Noch in diesem Jahr soll eine Zielvereinbarung verabschiedet werden. Bei der Nährwertkennzeichnung ist der Nutri-Score weiter ein Thema. Dabei soll zum einen der dahinter liegende Algorithmus weiterentwickelt werden, zum anderen muss der Nutri-Score anwendungsfreundlicher werden. Es muss eine Lösung gefunden werden, die besser auf die unterschiedlichen Eigenmarken-Strategien im Handel anwendbar ist. Das hilft auch bei der Diskussion auf EU-Ebene; im Koalitionsvertrag steht ja, dass der Nutri-Score zum europaweit geltenden Label werden soll.
Dornseifer: Es geht beim Nutri-Score auch um Einfachheit. Wir brauchen keine Beipackzettel, sondern Transparenz.

Gibt es weitere Label, die sie diskutieren wollen?
Dornseifer:
Lebensmittelverpackungen dürfen nicht zu Litfaß-Säulen werden. Tierhaltungskennzeichnung, Nährwertkennzeichnung, demnächst noch eine Herkunftskennzeichnung und ein Klima-Label. Alle für sich genommen haben ihren Sinn. Man muss aber aufpassen, dass die Kunden da noch mitkommen.
Rausch: Die Wirtschaft muss diesen Spagat gehen, obwohl wir natürlich wissen, dass es dem Kunden oft nicht leicht fällt, den Überblick zu behalten. Er wird nicht vor dem Regal stehen bleiben und die Siegel auf der Packung genau studieren. Eigentlich wissen Verbraucher, was gut für sie ist und was nicht. Für die, die mehr Orientierung brauchen, ist mehr Transparenz jedoch super.

Sie wollen aber den Kunden nicht erziehen, oder?
Dornseifer:
Wir Handelsunternehmen machen ja bereits eine Fülle von Angeboten, um die Kunden zu informieren, ohne erziehen zu wollen. Insgesamt gibt ihnen unser Sortiment die Wahl.
Rausch: Uns geht es um Aufklärung und Ernährungsbildung – und diese sollte schon in den Schulen verankert sein. Ganz wichtig ist auch: Gesunde Ernährung beschränkt sich nicht auf den Einkauf im Supermarkt, es geht auch um die Außer-Haus-Verpflegung. Die Menschen essen nicht mehr nur zu Hause, sondern auch in Kantinen, Restaurants, Imbissen oder Bäckereien – jetzt nach dem die Corona-Maßnahmen gelockert wurden, sicher wieder fast so oft wie vor der Pandemie. Das gilt vor allem für die hohe Zahl der Single-Haushalte in Deutschland. Wie bei der Tierhaltungskennzeichnung darf die Politik auch bei der Ernährungsstrategie die Außer-Haus-Verpflegung nicht aus den Augen verlieren.

Spielt denn die Nationale Reduktionsstrategie, die Julia Klöckner durchgeboxt hat, noch eine Rolle?
Dornseifer:
Ja schon. Aber: Ein gesundes Leben ist mehr als gesunde Ernährung. Guter Schlaf, wenig Stress, intakte soziale Beziehung und ausreichend Bewegung sind vielleicht sogar noch wichtiger. Es sind also verschiedene Faktoren, die zusammenspielen müssen. Ernährung ist einer davon und davon ist die Reduktion von Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten auch wieder nur ein Aspekt. Der Handel beteiligt sich an der Reduktionsstrategie und hat bereits hunderte Tonnen Zucker, Fett und Salz in den Produkten seiner Eigenmarken reduziert. Eines muss dabei aber immer beachtet werden: Wenn ein zucker- oder salzreduziertes Lebensmittel nicht schmeckt, wird es nicht gekauft. Wie bei der Reduzierung von Lebensmittelverschwendung oder bei der Tierhaltung gilt auch hier – wir müssen den Verbraucher mitnehmen. Und das macht der Handel schon par excellence; das ist doch unser Lebenselixier.
Rausch: Die Reduzierung von Lebensmittelverschwendung ist ein gutes Beispiel. Der Handel steht nur für vier Prozent des Food Waste entlang der Kette, die privaten Haushalte dagegen für über 50 Prozent. Das Bild, das vom Handel gezeichnet wird, auch durch die Diskussion ums Containern, ist einfach falsch. Das zeigen auch die Abschriften in den Unternehmen, die liegen über das gesamte Sortiment bei unter zwei Prozent. Das ist doch die Kunst des Kaufmanns.

Allerdings sind gerade die Lebensmittelretter sehr populär. Wie stehen Sie dazu?
Dornseifer:
Die jungen Leute, die auf den Autobahnen die Ausfahrten blockieren oder Container durchwühlen, werden medial stark wahrgenommen. Sie wollen ein Gesetz gegen das Wegwerfen, so wie in Frankreich. Aber wir Händler haben ein ureigenes Interesse, nichts wegzuwerfen. Wir brauchen dieses Gesetz nicht. Wir haben nur geringe Verluste, und arbeiten eng mit den Tafeln zusammen. So sorgen wir schon für wenig Lebensmittelverschwendung.
Rausch: Die Aktivisten wollen dieses Gesetz, nicht das Bundesernährungsministerium. Das ist beruhigend für uns zu sehen. Darin stimmen wir mit Cem Özdemir überein.

Wenn wir die Linse einmal ganz aufziehen, welche Hauptforderung haben Sie an die neue Regierung?
Rausch:
Egal ob wir über Tierhaltung, Food Waste oder Ernährung reden, jede Regelung muss in erster Linie praxisgerecht sein. Deswegen wünschen wir uns angesichts vieler Zielkonflikte eine hohe Sachorientierung. Der deutsche Lebensmittelhandel gewährleistet die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, er engagiert sich für das Tierwohl und für mehr Nachhaltigkeit in der Lieferkette. Aus unserer Sicht täte die Politik gut daran, das Know-how des Handels bei der Umsetzung der zahlreichen lebensmittelpolitischen Vorhaben aktiv einzubeziehen. Lasst es uns gemeinsam machen. Das ist unsere Hauptforderung.

Wie würden Sie die ersten Signale dazu aus der Regierung und den Ministerien beschreiben?
Rausch:
Ausbaufähig. Zwar hatten wir zu den Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine bereits Gespräche mit Cem Özdemir, zu den Fachthemen läuft die Kommunikation aber gerade erst an. Vor allem die Tierhaltungskennzeichnung müssen wir jetzt in Angriff nehmen.
Dornseifer: Wir Händler sind mit einem klaren Ziel angetreten: Wir wollen das Tierwohl in der Breite der Nutztierhaltung verbessern. Mit der Initiative Tierwohl und der Haltungsform-Kennzeichnung haben wir sehr viel Zeit, Know-how und Geld in zwei Systeme investiert, die dieses Ziel erfolgreich verfolgen. Wir sind ernsthaft besorgt, dass die bisher bekannten Eckpunkte für eine staatliche Tierhaltungskennzeichnung diese Arbeit massiv gefährden.

Sollte eine staatliche Tierhaltungskennzeichnung also auf den Vorarbeiten von Landwirtschaft, Industrie und Handel aufbauen?
Rausch:
Ja. Unbedingt. Nach nur drei Jahren am Markt kennen fast zwei Drittel der Verbraucher die Haltungsform-Kennzeichnung. Bereits 34 Prozent der in Deutschland gemästeten Schweine werden nach den Kriterien der Initiative Tierwohl gehalten. Diese Erfolge sind in Gefahr, wenn die Staatskennzeichnung die Kennzeichnungslogik umkehrt und sich die ITW dort nicht wiederfindet. Das darf nicht passieren. Außerdem fordern wir, dass die Außer-Haus-Verpflegung von Beginn an verbindlich in die Tierhaltungskennzeichnung einbezogen wird. Ein Schwein, dass geschlachtet und zerlegt wird, geht eben nicht nur in den Handel, sondern auch in diesen Absatzkanal. Nur wenn die Kennzeichnung sofort breit angelegt wird, können wir den Bewusstseinswandel in der Bevölkerung hin zu einem verantwortungsvollen Konsum wirksam voranbringen.
Dornseifer: Wir sehen uns als Partner des Ministeriums. Anstatt getrennt voneinander, wollen wir gemeinsam daran arbeiten, mehr Tierwohl in die Ställe zu bekommen. Es geht nicht um Verhinderung, sondern um konstruktive Mitgestaltung. Unser Angebot steht: Greift auf unser Wissen zurück.

Geht es hier ums Aufbrechen von Verkrustungen, gerade weil die Grünen vielleicht eher kleinere, ökologisch orientierte Strukturen bevorzugen?
Dornseifer:
Das glaube ich nicht. Wir sehen beispielsweise bei den Trendthemen Bio, Regionalität oder vegan, dass auch wir kleinteilig denken können. Wir Händler sind ja immer daran interessiert, dem Kunden das anzubieten, was er will. Das ist unser Job. Wir sind nicht auf Konfrontationskurs mit dem Ernährungsministerium, sondern wollen die Prozesse positiv begleiten.
Rausch: Gerade für sein großes Ziel, mehr nachhaltige Lebensmittelproduktion zu fördern, braucht Cem Özdemir Partner – und der LEH ist der natürliche Partner dafür. Schaut man sich an, wie wir im Handel in den vergangenen Jahren die Nachhaltigkeit in die Sortimente gebracht haben, gibt es kein Thema, bei dem der Handel nicht vorn dabei ist: Entwaldung, Lieferkettengesetz, Food Waste, Tierwohl – wir gehen doch vorweg. Wenn Cem Özdemir das Ernährungssystem im großen Stil umbauen will, muss er das mit uns gemeinsam machen. Das wollen wir ihm vermitteln.

Sie sind also optimistisch für die weiteren Gespräche mit der Ampel-Regierung?
Rausch:
Wir halten sie für dringend nötig und können nur noch einmal an die Regierung appellieren, unser Angebot zur Zusammenarbeit anzunehmen.
Dornseifer: Schauen Sie sich doch an, welche Landwirtschaftsminister es zuletzt in Deutschland gab. Vom Fach war keiner – auch Cem Özdemir muss sich erst einarbeiten. Wenn wir ihn dabei unterstützen können, machen wir das gern.

Welche Verbrauchertrends sehen Sie denn gerade?
Dornseifer:
Die Menschen wollen sich abwechslungsreich und ausgewogen ernähren. Und nach wie vor gilt: Lebensmittel müssen schmecken. Geschmack, Vielfalt, Auswahl: Dieser Dreiklang zählt. Und der Kunde ist bereit, Geld auszugeben, wenn dieser Dreiklang stimmt. Das gilt ebenfalls für regionale Lebensmittel. 95 Prozent der Eier, die wir bei Dornseifer verkaufen, kommen aus der Region. Da zählt für den Kunden nicht der Preis. Das gilt für Schweinefleisch aus Offenstallhaltung, Rindfleisch oder Molkereiprodukte aus der Region in gleichem Maße. Der Preis ist für den Kunden hier zweitrangig.

Und wenn das Geld knapper wird?
Dornseifer:
Wir müssen abwarten, wie sich Preissteigerungen in Folge des Russland-Ukraine-Krieges auswirken. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir keine Trendumkehr erleben. An der Transformation des Ernährungssystems hin zu mehr Nachhaltigkeit führt aus meiner Sicht kein Weg vorbei.

Wie hat sich der E-Commerce entwickelt? Und wie beurteilen Sie die Zukunft der Lieferdienste?
Dornseifer:
Beides entwickelt sich. Ich habe mit dem Liefern ja schon 1965 angefangen – heute läuft das natürlich ein bisschen anders. Wir bieten dem Kunden in jedem Markt Lieferservice. Dabei wickeln wir Bestellungen digital, aber auch per Telefon oder Fax ab. Diese Vertriebsschiene bauen wir aus. Ebenso wie auch den Bereich Bedienung. In der Pandemie haben wir gesehen, wie das Vertrauen des Verbrauchers gerade wegen der Beratung enorm gewachsen ist. Das müssen wir ausbauen – und noch convenienter, noch regionaler und spezialitätenorientierter werden.
Rausch: Diese Aufgabe nimmt der Handel übrigens sehr ernst, das zeigt nicht zuletzt unsere Fachschule für den Lebensmittelhandel in Neuwied. Wir haben dort jetzt rund 1.300 Studenten, Tendenz steigend. Es wird gebaut, ein mobiler Supermarkt errichtet, weiter mit gastronomischen Angebot experimentiert.

Was kann man denn tun, um die Berufe im Handel attraktiv zu halten?
Dornseifer:
Wir müssen die Mitarbeiter, die wir haben fördern und entwickeln – das ist das A und O. Das ist unsere Basis, nur so können wir unser Wachstum halten. Unsere Kaderschmiede ist die Bundesfachschule in Neuwied.