Kaum geklickt, schon geschickt: Kurze zehn Minuten Wartezeit von der Bestellung bis zur Lieferung verspricht das Jungunternehmen Gorillas seit Juni in Berlin Prenzlauer Berg und fordert damit die großen Lebensmittel-Lieferdienste von Amazon, Edeka oder Rewe heraus. Preise wie im Supermarkt, die Belieferung bis Mitternacht sowie sonntags, kein Mindestbestellwert und niedrige Lieferkosten (1,80 Euro): Möglich ist der besondere Kundenservice durch eigene Lager. Auch in und um Köln können sich Verbraucher seit diesem Sommer über eine schnelle Belieferung (maximal 50 Minuten) mit Milch, Pizza oder Tabakwaren freuen. Liefertuete.de tritt hier gegen etablierte Anbieter an.
Dass nach einer langen Durststrecke des E-Food-Sektors mit einem dahin dümpelnden Marktanteil von rund einem Prozent ausgerechnet in dieser Zeit Unternehmer den Mut aufbringen, neue Konzepte zu lancieren, ist tatsächlich Corona zu verdanken. Die Lockdown-Phase und Verunsicherung der Bevölkerung hat zahlreiche Bundesbürger erstmals den Online-Einkauf ihrer Wocheneinkäufe testen und Kaufhürden wie Zusatzkosten und unsichere oder längere Lieferzeiten in den Hintergrund rücken lassen.
„Die strukturellen Voraussetzungen in Deutschland unterscheiden sich bekanntermaßen deutlich von anderen Ländern: Die Dichte an Supermärkten und stationären Einkaufsmöglichkeiten ist viel höher als zum Beispiel in England und Frankreich, die Kunden sind sehr kostensensibel, bei gleichzeitig kostspieligen Rahmenbedingungen für den Online-Handel mit frischen Lebensmitteln“, erläutert eine Sprecherin von Rewe Digital, der für den den E-Commerce verantwortlichen Unternehmensdivision der Rewe Group, die bisherigen Hürden für eine breite Akzeptanz von E-Food-Angeboten.
Im Zuge der Corona-Krise schienen sich diese beinahe in Luft aufgelöst zu haben. Denn: Mehr Kunden waren und sind im Homeoffice und konnten nahezu jederzeit ihre bestellte Ware entgegennehmen. Auch wurde das Abstellen von Paketen ohne persönlichen Kontakt stärker akzeptiert: 80 Prozent der Verbraucher fanden dies in Ordnung, ergab eine Umfrage von YouGov zu Beginn der Corona-Krise im Auftrag der Shopping- und Vergleichsplattform Idealo. Zudem zeigten sich die Bundesbürger verständnisvoller gegenüber Logistik- und Lieferschwierigkeiten und brachten Lieferdiensten mehr Wertschätzung entgegen. Acht von zehn Deutschen fanden Verzögerungen bei der Lieferung von Waren verzeihlich, ergab die YouGov-Befragung.
So stellen Waren des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel, Tierbedarf, Medikamente oder Drogerie nach Angaben des Bundesverbandes E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh) aktuell das am stärksten gewachsene Segment im deutschen Online-Handel dar. Der Umsatz legte im zweiten Quartal um 51,2 Prozent zu.
Das Job-Wunder
Die etablierten Anbieter, aber auch neuere Marktteilnehmer haben von diesem Boom profitiert. Der lang ersehnte Ansturm auf Webseiten und Apps brachte die Unternehmen jedoch zunächst an ihre Kapazitätsgrenzen. Im Rekordtempo wurden neue Mitarbeiter fit gemacht und der Kundenservice erweitert.
Sehr starkes Interesse verzeichnet der Online-Supermarkt Picnic. 2015 in Holland gegründet und 2018 in Deutschland gestartet, beliefert Picnic inzwischen mehr als 100.000 Kunden von 12 Standorten aus in mehr als 37 Städten in Nordrhein-Westfalen. Weitere Standorteröffnungen sind geplant. Allein im April lag die Anzahl an Bestellungen um 400 Prozent über denen des Vorjahresmonats, der Bestellwert bei den Bestandskunden fiel im Schnitt um 25 Prozent höher aus, rund 90.000 Haushalte standen zur Peakzeit auf der Warteliste, und Lieferslots waren weit im Voraus ausgebucht, berichtet Frederic Knaudt, Mitgründer von Picnic in Deutschland.
Picnic hat diese Chance genutzt. „Als junges Unternehmen sind wir reaktionsschnell, haben in dieser herausfordernden Zeit oft Entscheidungen und Problemlösungen innerhalb weniger Stunden oder gar Minuten herbeigeführt.“ So wurde Knaudts Team seit Anfang des Jahres um rund 600 neue auf insgesamt rund 1.000 Mitarbeiter verstärkt, ein geplantes zusätzliches Kühllager in Herne ging mit Unterstützung der Landesregierung in Rekordzeit und deutlich früher als geplant an den Start. Ab Anfang April lieferte der Versand-Händler für eine befristete Zeit auch sonntags aus, um vor allem Pflegepersonal zusätzliche Zeitfenster bieten und insgesamt die Kapazitäten erhöhen zu können.
Inmitten der Corona-Krise hat Amazon allein in den USA 100.000 neue Mitarbeiter eingestellt – und schrieb im April 75.000 weitere Stellen aus, um Kunden in diesen „beispiellosen Zeiten“ beliefern zu können. In Deutschland musste der Branchenriese mit den in einigen Ballungszentren verfügbaren Lebensmittel-Lieferservices Amazon Fresh (Berlin, Potsdam, Hamburg, München) und die Ultraschnell-Variante Amazon Prime Now (Berlin, München) ebenfalls reagieren. „In Zeiten der Ausgangsbeschränkungen und Abstandsregelungen haben wir eine erhöhte Nachfrage bei Amazon Fresh und Prime Now erlebt. Vor allem im März und April hatten wir viel damit zu tun, die Kapazitäten entsprechend der Nachfrage auszubauen“, sagt Mark Hübner, Country Manager Prime Now und AmazonFresh in Deutschland. So wurde unmittelbar auf eine kontaktlose Lieferung umgestellt, Lieferkapazitäten erhöht und Lieferslots kurzfristiger verfügbar gemacht. Während der ersten Wochen standen bei den Kunden vor allem Produkte aus dem Trockensortiment wie Nudeln und Konserven hoch im Kurs. Nachdem die Vorratskammern ausreichend gefüllt waren, bestellten Kunden umso mehr frische und Bio-Produkte, um sich gesund zu ernähren, so die Beobachtung von Hübner. „Auch wir hatten zeitweise Engpässe in manchen Bevorratungssortimenten wie beispielsweise bei Toilettenpapier und konnten nicht immer die volle Markenvielfalt anbieten, wobei wir darauf geachtet haben, stets eine Mindestauswahl je Sortiment verfügbar zu halten“, erklärt er.
Für die Rewe-Group hat die Ausbreitung von Covid-19 dazu geführt, „dass wir unsere Bekanntheit bei Kunden und die Wertschätzung für den Rewe Liefer- und Abholservice enorm steigern konnten“, heißt es aus Köln. In den vergangenen fünf Monaten verzeichnete der Rewe-Lieferservice – analog zum stationären Handel – eine „sehr stark erhöhte Nachfrage“, die Nutzerzahlen seien insgesamt infolge der Kontaktbeschränkungen rasant angestiegen. Je nach Liefergebiet bedeutete dies zum Teil Wartezeiten von ein bis zwei Wochen. „Mit allen Kräften wurden kurzfristig weitere Kapazitäten ermöglicht und Personal aufgebaut, um die Situation zu normalisieren und die Nahversorgung mit zu gewährleisten“, erläutert der Konzern. Die ständige Verfügbarkeit von Produkten sowie Lieferzeitfenstern sei so schnellstmöglich wieder auf dem gewohnt guten Niveau gewesen.
Auch die Drogeriemarktkette dm brachte das deutlich erhöhte Bestellaufkommen an ihre Grenzen. Zwischenzeitlich mussten sich die Online-Kunden auf Lieferzeiten von neun bis zwölf anstatt zwei bis drei Werktagen einstellen. Mario Bertsch, dm-Bereichsverantwortlicher E-Commerce & Data: „Insbesondere in der ersten Woche des Lockdowns, aber auch in den Wochen danach, haben wir eine enorme Nachfrage in unserem Onlineshop erlebt. Dies hat zu verschiedensten Herausforderungen beispielsweise im Bereich der Warenkommissionierung geführt. Wir haben schnell reagiert und konnten so die sehr hohe Nachfrage bewältigen.“
Die Branche setzt nun alles daran, aus Neukunden Stammkunden zu machen und die Akzeptanz des Lebensmittel-Online-Handels in der breiten Bevölkerung zu beflügeln. Neue Service-Angebote, zusätzliche Liefergebiete und Zeitfenster wurden in den vergangenen Wochen und Monaten in Rekordzeit realisiert. Denn darüber ist sich die Branche einig: Nie schienen die Chancen für E-Food-Konzepte hierzulande größer.
Schwung nehmen
„Wir sind seit jeher davon überzeugt, dass der Online-Lebensmitteleinkauf für viele Menschen großen Nutzen bietet, und daher langfristig immer wichtiger wird. Während der vergangenen Monate haben viele Kunden zum ersten Mal online Lebensmittel bestellt. Wir sehen, dass viele von ihnen den Service weiter regelmäßig nutzen und die Vorteile schätzen gelernt haben“, sagt Amazon-Manager Hübner.
Ausruhen kann sich das Unternehmen nicht. Auch der Wettbewerb legt nach. Hübner: „Wir hören unseren Kunden genau zu und arbeiten stetig daran, unser Service-Angebot auf Basis unserer Erfahrungen und dem Kunden-Feedback zu verbessern und weiterzuentwickeln.“ Amazon glaube auch weiterhin daran, dass die Kombination aus günstigen Preisen, einer attraktiven Produktauswahl sowie schnellen und flexiblen Lieferoptionen der Schlüssel zur Kundenzufriedenheit sein werde. In den vergangenen Monaten habe man viel darüber gelernt, wie Amazon noch besser auf plötzliche und starke Nachfrageänderungen reagieren könne, und auch wie während solcher Phasen die Kundenerfahrung hoch gehalten werden könne. „Diese Erkenntnisse haben wir entsprechend in unsere Services und Abläufe implementiert“, so Hübner. Zudem hat Amazon gerade zusammen mit Tegut den Sprung ins Rhein-Main-Gebiet mit dem Dienst Prime Now verkündet.
Dass die Anstrengungen und Investitionen der vergangenen Monate Früchte tragen, erfährt auch Picnic und geht in die Offensive (siehe auch Kurzinterview Seite 16). Nach dem Peak bleibt das Gesamtniveau deutlich höher als in der Vor-Corona-Zeit. Knaudt geht davon aus, dass sich der Online-Handel mit Lebensmitteln langfristig ein größeres Stück vom Gesamtmarkt sichern kann. „Wir sehen, dass diejenigen, die sich zu Beginn der Corona-Zeit neu angemeldet haben, das gleiche Bestellverhalten zeigen, wie unsere Bestandskunden“, so Knaudt. In der Regel würden Wocheneinkäufe getätigt und die gleichen Lieferslots für jede Woche gebucht: Das Lieferprinzip von Picnic ist ähnlich dem des mobilen Eier-Lieferanten oder Milchmanns, der an bestimmten Tagen zur gleichen Zeit seine Kunden in einer bestimmten Straße anfährt.
„Neukunden haben die Vorteile unseres Service erfahren und sind überzeugt“, betont auch er und zählt auf: „Ich bekomme meine Lebensmittel zu den gleichen Preisen wie im stationären Handel kostenfrei nach Hause geliefert, spare viel Zeit, das Lieferfenster ist mit 20 Minuten sehr komfortabel und vor allem stimmt die Frische“. Die größten Kaufhürden – die Wahrnehmung von Lebensmittel-Lieferservices als teure Premiumleistung sowie die Problematik unsicherer Lieferzeiten, die den Verbraucher über Stunden zu Hause festhielten – habe Picnic gelöst. Um die hohe Nachfrage abzudecken, testet das junge Unternehmen aktuell die Belieferung am Morgen. Für den Anfang werden die zusätzlichen Lieferzeiten in Mönchengladbach und Viersen angeboten.
Die Drogeriemarktkette dm hat im Frühjahr den Service „Express-Abholung“ schneller als ursprünglich geplant bundesweit ausgerollt, um „unseren Kunden in der aktuellen Situation einen weiteren Mehrwert anbieten zu können“, sagt Mario Bertsch, dm-Bereichsverantwortlicher E-Commerce & Data. Der neue Service ermöglicht es Kunden, über dm.de oder die „Mein dm“-App Produkte zu bestellen und nach spätestens sechs Stunden innerhalb der regulären Öffnungszeiten im präferierten dm-Markt abzuholen. Auch nach Hamsterkauf- und Lockdown-Phasen sei das Interesse groß, Bestellungen über Online-Shop und App hätten spürbar zugenommen, zudem werde die Express-Abholung sehr gut angenommen. Das Unternehmen geht davon aus, dass der Online-Handel gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen werde. „Zudem könnten kundenzentrierte Multichannel-Konzepte den Durchbruch schaffen“, meint Bertsch.
An dem eigenen feilt der Konzern weiter, setzt dabei auf den Austausch mit Kunden und Mitarbeitern, um Neues zu entwickeln. „Für unsere ,Mein dm‘-App beispielsweise haben wir einen Impuls unserer Kunden aufgegriffen und einen Produkt-scanner integriert, der noch im August live gehen wird“, kündigt der E-Commerce-Experte an. Über die neue Funktion können sich Kunden per App mithilfe eines Scans beispielsweise über die Herstellung sowie Hintergründe eines Artikels informieren und diesen bei Bedarf direkt in den Warenkorb legen.
Rewe Digital kündigt ebenfalls den sukzessiven Ausbau des Rewe-Angebots von Liefer-, Abhol- und Paketservice an. „In den kommenden Wochen und Monaten stehen viele spannende Pilotprojekte rund um unsere Services an“, heißt es.
Auch auf lokaler Ebene bewegt sich viel. In zahlreichen Städten und Gemeinden sind in den vergangenen Monaten Initiativen aus dem Boden gestampft worden, um Herstellern und Händlern online zusätzliche Chancen zu eröffnen. Dabei präsentieren sich neben Lebensmittelhändlern auch lokale Blumenshops, Juweliere oder Bekleidungsgeschäfte auf gemeinsamen E-Commerce-Plattformen. So wurde beispielsweise unter dem Dach der Pro-Bono-Initiative „Händler helfen Händlern“ während des Shutdowns in der Corona-Krise der lokale Online-Marktplatz „Downtown“ entwickelt, über den gerade kleine Händler in Zukunft online verkaufen können. Die Nutzung des Marktplatzes ist kostenlos. Bozen in Südtirol hat bereits einen digitalen Marktplatz auf Basis von Downtown entwickelt, auch Münster und Coesfeld sind dabei. „Gerade für kleine und mittelständische Händler ist es inzwischen sinnvoller, sich mit anderen zusammenzutun, um Kunden im Netz einen tollen Service zu bieten, statt einzeln zu handeln“, sagt Marcus Diekmann, Gründer der Initiative.