IT im Handel Corona dynamisiert die Digitalisierung

Corona dynamisiert die Digitalisierung im Lebensmittelhandel und wird nach dem Lockdown den Weg zum „New Normal“ verkürzen, ist Xenia Giese (Foto), Industry Executive Retail & Consumer Goods bei Microsoft Deutschland, überzeugt.

Samstag, 08. August 2020 - Management
Dieter Druck
Artikelbild Corona dynamisiert die Digitalisierung
Bildquelle: Mathias Nadler

Die Digitalisierung im Lebensmitteleinzelhandel schreitet dynamisch voran und wird von Händlern heute als eines der wichtigsten strategischen Themen genannt.

Wie beurteilen Sie den Fortschritt der digitalen Transformation im deutschen LEH?
Xenia Giese: Generell hat sich der Digitalisierungsprozess hier deutlich beschleunigt. Das haben wir in Kooperation mit dem EHI mit Studien und Handelsumfragen begleitet. 2018 kam erstmals das Thema Smart Stores oder intelligente Filialen auf, sicherlich getrieben durch Amazon go. Im vergangenen Jahr wurden beim Internet der Dinge deutliche Fortschritte vollzogen, und es geht weiter mit der Integration von Künstlicher Intelligenz in den Filialen. Hier ergab eine Umfrage bei Einzelhändlern, dass 69 Prozent KI als wichtigsten Innovationstreiber in den kommenden drei Jahren einstufen.

Das ist eine Einstufung, aber ist das in der Realität auch bereits angekommen?
Wir registrieren bei Microsoft noch eine gewisse Unsicherheit bei den Händlern, und es kommen einige Fragen auf: Was ist überhaupt machbar? Womit fange ich an? Weiterhin registrieren wir von unserer Seite im Handel vermehrt direkt Kontakte zu den einzelnen Fachbereichen, die also über die reine IT-Sparte hinausgehen.

Klingt nach Selbstläufer, ist es das?
Wir sprechen nicht von einem Selbstläufer. Aber Corona hat bei vielen die Erkenntnis verstärkt, dass der Einstieg in die digitale Transformation und die Weiterentwicklung essenziell sind.

Was kann man heute zum ersten Halbjahr 2020 sagen?
Mit Beginn der Corona-Krise stand das Thema beim systemrelevanten LEH hinten an. Die Warenverfügbarkeit hatte Vorrang. Jetzt in Phase zwei dreht es sich vor allem um die schnelle Normalisierung und das Wiederaufgreifen von eingeleiteten digitalen Initiativen. Und in der dritten Phase werden dann mehr komplexe Themen angegangen, die durch Corona aufgeploppt sind.

Zum Beispiel?
Die Lieferketten-Transparenz, idealerweise in Echtzeit, und alle Prozesse, die noch nicht harmonisiert sind.

Wie geht es jetzt weiter nach den ersten Lockerungen des Lockdown?
Microsoft definiert in diesem Zusammenhang vier Handlungsfelder: die operative Unterstützung der operativen Filialprozesse, die Unterstützung der Mitarbeiter-Kooperation und -Kommunikation, die Unterstützung von Omnichannel, E-Commerce und mobilen Prozessen sowie von digitalen Lösungen für die Sicherung der Lieferkette und der Supply- Chain-Transparenz.

Wird sich nach Corona das kontaktlose Einkaufen durchsetzen?
Das ist ein Punkt, den wir unter operative Filialprozesse fassen. Microsoft bietet hier zusammen mit Partnern Lösungen zum Self-Scanning, -Checkout und Payment, beispielsweise auf App-basierten Lösungen. Das ist nicht neu, aber gewinnt weiter an Bedeutung. Zudem haben wir Tools, mit denen Warteschlangen vermieden werden oder intelligente Verkaufsautomaten für den kontaktlosen Einkauf außerhalb der Märkte.

Im zweiten Punkt geht es um Mitarbeiter und Kommunikation. Wie sieht es da aus?
Selten war die virtuelle Kommunikation und Kooperation wichtiger als zu Corona-Zeiten, insbesondere für die Mitarbeiter in Filialen, Lagern und in der Produktion. Diese sind aus unserer Sicht oftmals noch nicht durchgängig mit digitalen Werkzeugen ausgestattet. Hier gilt es, Lücken zu schließen.

Kommt das bei den Mitarbeitern an?
Die Einstellung zu digitalen Tools hat sich bei den Mitarbeitern geändert. Vorbehalte oder gar Ängste schwinden. dm hat zum Beispiel Smartphones in den Filialen verteilt. In der Folge haben Mitarbeiter, die sich kompetent fühlten, ihre Kollegen und Kolleginnen geschult.

Die digitalen Vertriebskanäle gelten ja allgemein als Krisengewinner. Beschleunigt sich der Wandel ? E-Food ist ja etwas schwerfällig.
Die digitalen Kanäle haben generell durch Corona deutlich an Wahrnehmung und Akzeptanz beim Verbraucher gewonnen. Jetzt gilt es auch für Lebensmittelhändler, ihre digitalen Vertriebskanäle weiter zu erschließen und zu optimieren, gleich, ob es um ein reines Online-Geschäft geht oder hybride Ansätze wie Click & Collect verfolgt werden.

Wie geht der Händler idealerweise das Ganze an?
Die Gegebenheiten in den Unternehmen und die digitalen Ziele sind sehr unterschiedlich, so dass es keinen allgemeingültigen Königsweg gibt. Einen Fehler sollte man allerdings vermeiden, nämlich dem Vorsatz folgen, mit einer 100-Prozent-Lösung zu starten. Es geht für den Händler darum, Erfahrungen zu sammeln und die jeweiligen Bedarfe zu ergründen. Bewährt haben sich pragmatische Lösungen, die auf vorhandener Technik aufbauen und entwickelt werden.

Und wie kommt das beim Kunden an?
Der ist für digitale Service-Tools empfänglich. Aus einer Bitkom-Studie vor Corona wissen wir, dass WLAN im Markt, Apps zur Kundeninformation und -bindung sowie Rabatte und Coupons ziemlich oben auf der Kunden-Wunschliste stehen, ebenso die Instore-Navigation. Eine App, die das schon mal abdeckt, wäre ein guter Einstieg.

Wie bewerten Sie den digitalen Status im deutschen LEH? Sind wir hier up to date oder gilt die pauschale und viel zitierte Einschätzung, dass Deutschland hinterher hinkt?
Nein, wir sind hierzulande bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich nicht rückständig, im Gegenteil. Das erfahre ich auch beim Austausch mit Kollegen auf internationaler Ebene. Alle großen Handelsunternehmen sind hier unterwegs. Das ist unter anderem notwendig, weil die Internationalisierung vorangetrieben wird und der harte Wettbewerb auch Kosteneffizienz erfordert.

Und wie stehen die Selbstständigen da?
Wir beobachten bei Microsoft, dass die selbstständigen Kaufleute, insbesondere die mit mehreren Filialen, hier teilweise sehr aktiv sind und aufgrund ihrer Struktur auch probierfreudiger und flexibler reagieren können. Somit sind sie im gewissen Maße gleichzeitig Treiber in den Handelsunternehmen.