Vertikale Integration Handel steigert Macht

Der Handel mischt bei der Produktion von Ware kräftig mit. Warum ist das so und was bedeutet das für die Hersteller?

Freitag, 01. Juli 2022 - Management
Tobias Dünnebacke, Susanne Klopsch, Heidrun Mittler und Christina Steinhausen
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Hocherfreut berichtet Fabrice Zumbrunnen, Geschäftsleiter der schweizerischen Migros, über das Geschäftsergebnis des abgelaufenen Jahres. 2021 war mit 28,2 Milliarden Euro Umsatz ein Rekordjahr. Interessant ist, was er hinzufügt: „Wir verfolgen konsequent das Ziel des besten Preis-Leistungs-Verhältnisses. Hier kommt besonders die vertikale Integration der Migros zum Tragen.“

Vertikale Integration – dieses Schlagwort beschäftigt gerade viele in der Ernährungsbranche. Vereinfacht ausgedrückt beschreibt es, dass Handelsunternehmen selbst zu Herstellern werden. Nach Auffassung der Migros ein Erfolgskonzept. Doch ist das tatsächlich so?

Dass sich der Handel mit weiteren Handels- oder Verarbeitungsstufen vereinigt, ist keine neue Entwicklung. Schon in den 1960er-Jahren hat die Edeka mit Rasting ein eigenes Fleischwerk aufgebaut, andere Handelsunternehmen folgten.

Aber: Gerade in den letzten Jahren hat das Tempo angezogen. Außerdem bringt sich der Handel auf immer mehr Ebenen in den Produktionsprozess ein, nun auch im nachgelagerten Bereich der Entsorgung.

Warum die vertikale Integration stetig zunimmt, erklärt Prof. Dr. Bastian Popp, Direktor des Instituts für Handel und internationales Marketing an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken: „Es liegt in erster Linie daran, dass die Konzentration innerhalb der Handelsunternehmen steigt. Größere Handelsunternehmen vertikalisieren eher als kleine.“

Die Vorteile liegen klar auf der Hand, erläutert Popp: Damit stellen die Händler den Zugang zu Ressourcen sicher. „Wenn man eine eigene Obstplantage besitzt, kann man die Supply-Chain besser kontrollieren.“ Außerdem sei man in der Lage, Standards für die Erzeugung und Nachhaltigkeitsaspekte zu bestimmen.

Wertschöpfung bleibt im Betrieb
Die Bio Company, die rund 60 Biomärkte betreibt, geht einen Schritt weiter. Die Berliner haben 2013 die damals insolvente Bio-Manufaktur Havelland übernommen und sich 2015 zudem beim Bio-Großhändler Midgard beteiligt. Nun stellt Boris Frank, Vorstand der Bio Company SE, fest, dass mehr Wertschöpfung in seinem Betrieb bleibt. Zudem habe sich in Krisenzeiten gezeigt, „dass wir dadurch eine stärkere Resilienz bei Marktschwankungen haben“.

Auch wenn viele Händler sie betreiben, so ist die Vertikalisierung doch kein Dogma. Bei der Unternehmensgruppe Dohle in Siegburg hat man an den klar getrennten Rollen und Zuständigkeiten von Herstellern und Handel nie gerüttelt. Schließlich muss ein Händler auch noch lang kein guter Hersteller sein. Versucht er sich als solcher, ist dies teuer und risikoreich, denn es bindet Kapital und Kräfte – und das Recruiting guter Mitarbeiter ist ohnehin ein schwieriges Thema.

Prof. Dr. Hendrik Schröder von der Universität Duisburg-Essen verweist darauf, dass neben dem Thema Vertikalisierung auch das Category-Management eine wichtige Rolle spielt. Schröder: „Durch diese beiden Faktoren haben sich Einzelhändler eine starke Marken-Architektur aufgebaut. Bei der Industrie setzen sie auf starke A-Marken, selbst entwickeln sie Eigenmarken für verschiedene Preislagen und Segmente wie etwa Bio, Vegan und Regional. B- und C-Marken sind heute weitgehend verschwunden.“

Schwierige Konditionengespräche
Die Effekte der Markenarchitektur sieht man laut Schröder auch in den Konditionengesprächen. Wenn diese für den Handel nicht zufriedenstellend verlaufen, droht oder folgt die Auslistung. „Vertikale Integration erhöht die Macht der Handelsunternehmen. Die aktuellen Konditionengespräche sind Ausdruck dieser Macht“, sagt Schröder.

Das sieht sein Kollege Popp genauso. „Die Verhandlungsmacht des Handels steigt, speziell in Bezug auf Preise. Schließlich produziert er jetzt selbst adäquate Eigenmarken. Für die Industrie wird es immer schwieriger, ihre Artikel zu positionieren, denn die Konkurrenz wächst. Nicht nur zu anderen Markenartikeln, sondern durch die vertikale Integration auch zu Eigenmarken.“

Ein Lied davon kann Saft-Primus Eckes-Granini aus Nieder-Olm singen. 2017 hatte Deutschlands größter Händler Edeka die traditionelle Marke Albi gekauft und als Tochter in den eigenen Produktionsbetrieb Sonnländer bei Rostock integriert. Mit Sonnländer liefert Edeka das perfekte Beispiel der vertikalen Integration im Getränkesektor mit eigener Bio-Apfelplantage in Mecklenburg-Vorpommern, eigener Logistikflotte sowie einem Werk zur Herstellung von Apfelsaftkonzentrat in Polen. Edeka hat damit Zugriff auf die Wertschöpfung beim Anbau von Agrarprodukten, bei der Entwicklung von Rezepturen, Geschmacksrichtungen sowie bei Herstellung und Design von Verkaufsverpackungen. Mit dem Albi-Deal ist man zudem im Besitz einer echten A-Marke.

Ende 2021 folgte der Showdown im Saftregal: Kunden konnten keine Produkte von Eckes-Granini mehr in Edeka-Läden kaufen. Die eigene Marke Albi bekam ein neues Flaschendesign, das dem Granini-Original auffallend ähnlich sah. Der Streit um die vermeintliche Nachahmung zieht sich bis heute durch mehrere gerichtliche Instanzen.
Getränke-Manager wollen den Wettbewerb mit dem herstellenden Händler meist nicht offiziell kommentieren. Man will bei den immer wieder aufflammenden Konditionsstreitereien kein Öl ins Feuer gießen. „Es ist natürlich schon ärgerlich. Wir investieren in Forschung und Entwicklung, in Innovationen, wir bezahlen viel Geld für Werbung, und der Handel kopiert unsere Konzepte dann einfach“, sagt ein Getränke-Manager, der namentlich nicht genannt werden will.

Selber backen boomt
Der Handel ist auch Bäcker. Jüngstes Beispiel: Wasgau. Die Pirmasenser eröffneten eine Stand-alone-Bäckerei. Was dort verkauft wird, stammt meist aus dem eigenen Backwerk. Auch in den Schäfer’s-Shops der Edeka Minden-Hannover kommen laut einer Unternehmenssprecherin 90 Prozent der Ware aus der eigenen Produktion. Und das Portfolio wird erweitert: Die Eigenproduktion von Broten und -Brötchen nach Bioland-Richtlinien für die Bake-off-Stationen ist gestartet, für die Bedientheken ist Mitte Juli anvisiert.

Ein durchaus schwieriges Wettbewerbsumfeld auch für Hersteller wie Aryzta. In Deutschland werden mehr als 5.000 verschiedene Backartikel von traditionellen Backwaren bis zu Bäckereisnacks produziert. Verkauft werden diese auch in den Backstationen und den Bäckereien in der Vorkassenzone. Wobei Steffen Göhringer nicht von einem schwierigen Umfeld sprechen möchte: „Es ist ein ambitionierter Wettbewerb, dem sich ja auch der Handel stellen muss“, sagt der Marketing Director bei Aryzta. Natürlich, so schränkt er ein, kann das Insourcing von Topsellern in die eigene Produktion der Retailer oder Discounter für einen Einschnitt im Geschäft der Hersteller sorgen. „Allerdings fokussiert sich der Handel auf Schnelldreher wie Brötchen, Brezeln oder Croissants. Unsere Aufgabe ist es nun, mit Qualität und vor allem Innovationen zu punkten. Das bedeutet, Produkte zu entwickeln, die nicht sofort nachgebaut werden können“, sagt Göhringer. So sei es auch gelungen, das Geschäft für Aryzta weiter auf hohem Niveau zu halten: „Für uns ist vertikale Integration des Handels ein Teil des Wettbewerbsumfelds, in dem wir uns bewegen.“

Sportliche Bereicherung
„Wir sehen die Entwicklung nicht so dramatisch“, heißt es von einem Großbäcker, der die SB-Regale des Handels mit Broten versorgt und anonym bleiben möchte. Der Handel backe vornehmlich Produkte für Backstationen und die Vorkassenzone. „Dort werden jedoch ganz andere Verbraucherbedürfnisse bedient und Verbraucherschichten angesprochen als mit Broten aus dem SB-Regal“, sagt der Branchenexperte. Während die Produkte aus dem SB-Regal vor allem der Bevorratung dienten, ginge es bei Backstationen und Vorkassenbäcker um den Frischeverzehr.

Von einer eher sportlichen Bereicherung des Wettbewerbs spricht Daniel Schneider vom Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks. Der Hauptgeschäftsführer sieht im enger werdenden Markt noch genügend Chancen, um als Handwerksbäcker erfolgreich zu sein. Über die Jahre gesehen sei auch die Zahl der Bäckereien relativ konstant geblieben. „Das Pilotprojekt der Wasgau zeigt, dass auch der LEH erkannt hat, dass die Kunden regionale Backwaren schätzen und wohnortnah einkaufen wollen.“
Der Brotkonsum ist seit Jahren stabil. In diesem Umfeld erhöht der backende Handel derzeit den Druck auf die Wettbewerber weiter. Wohl dem, der die passende Nische findet.