Herr Gutberlet, welche Ziele verfolgte Tegut, als das Unternehmen ab den 1970er Jahren in die Produktion von Lebensmitteln einstieg?
Thomas Gutberlet: Es ist grundsätzlich gesund, wenn ein Unternehmen in seiner Funktionalität sowohl in die Breite als auch in die Tiefe wächst. Für Tegut stellten sich in den 1970ern - zu Zeiten der kleinteiligen Fleischwirtschaft - die Fragen: Wie versorgen wir im wachsenden filialisierten Bereich unsere Märkte mit den benötigten Qualitäten und Mengen an Fleisch und Wurst? Und wie können wir den Gesamtbelieferungsprozess möglichst effizient aufstellen? Die Antwort war die Gründung des eigenen Fleischverarbeitungsbetriebs Kff. Das war ein Branchentrend. Fast jedes Handelsunternehmen setzte damals auf eigene Fleischwerke.
Warum die vertikale Integration im Fleischbereich so interessant?
Die Produktion von Fleisch und Wurst ist meiner Meinung nach die komplexeste Produktionssteuerung, die es gibt, denn es handelt sich um eine Kuppelproduktion. In der Brotproduktion mache ich aus den drei Grundzutaten - Mehl, Wasser und Salz - zig verschiedene Brot-Variationen. Bei Fleisch und Wurst mache ich aus einem Erzeugnis, einem Schwein beispielsweise, sehr viele unterschiedliche Produkte, deren Wertschöpfung von sehr gut bis sehr schlecht sein kann. Die richtige Aussteuerung der Sortimente, der Produktion und Vermarktung ist essenziell und kann aus einer Hand optimiert werden.
Sie haben 1996 die Herzberger Bäckerei als Tochterunternehmen gegründet. Welche Überlegungen standen dahinter?
Als wir mit der Produktion von Backwaren begannen, waren wir Vorreiter. Der Impuls, die Backtheken in der Vorkassenzone nicht extern betreiben zu lassen, sondern selbst, wurde an uns herangetragen. Die klassischen Selbstbedienungsrestaurants, die wir zum Teil in den 1970er/80er Jahren hatten, waren aus unserer Sicht am Ende ihres Lebenszyklus. So wurde begonnen, eine eigene Backwarenmarke aufzubauen, ebenso ein Backwerk. Nicht immer funktionieren Dinge jedoch so, wie man es sich vorstellt.
Was gilt es zu beachten, um die vertikale Integration erfolgreich zu bewerkstelligen?
Es muss alles zueinander passen, zum Unternehmen und zur Filialstruktur. Alles, was zu mir gehört, muss sich mit verändern mit dem Gesamtorganismus. Wir haben Lehrgeld gezahlt beim Thema Brot- und Backwaren. Bis es zur Gründung der Herzberger Bäckerei kam, gab es so einige Wechsel. Dann ist es uns mit Herzberger gelungen, einen echten Wettbewerbsvorteil in unseren Märkten zu schaffen. Am Anfang haben wir die Bedientheken in der Vorkassenzone selbst übernommen, was sich als schwierig erwies, wie auch unsere Wettbewerber erkennen mussten. So sind wir mit den Backstationen und SB-Regalware komplett auf die Verkaufsfläche gezogen und haben für die Vorkassenzone kleine bäckernahe Lieferanten aus der Region gesucht, die ihren Schwerpunkt auf Kuchen, belegte Brötchen und kleine Gerichte legten, aber nicht auf Brot und Brötchen. Für Tegut hat der Schritt auf die Fläche zunächst sehr wehgetan, weil zunächst erst mal Umsatz weggebrochen ist. Doch die Strategie ist langfristig aufgegangen.
Welche konkreten Vorteile und Herausforderungen ergeben sich durch die vertikale Integration?
Vor allem habe ich Zugriff auf die Qualitäten. Ich bestimme, was ich in welcher Qualität und Menge einkaufe und produziere. Wir kaufen zum Beispiel ganze Schweine, keine Teilstücke. So haben wir auch immer das Problem, dass manche Teilstücke stärker, andere weniger nachgefragt werden. Wir haben jedoch auch die Vermarktung selbst in der Hand, wodurch wir die bedarfsgerechte Produktion und Ganztiervermarktung besser aussteuern können. Wenn ich beispielsweise saisonal mehr Kotelett benötige, dann muss und kann ich die übrigen Teilstücke bewerben und deren Absatz ankurbeln. Dies bedeutet auch weniger Lebensmittelverluste. Ohne vertikale Integration müsste ich mich mit dem Prozess nicht belasten, aber für die Gesamtwertschöpfungskette gäbe es dann das Problem, dass ich ständig Überproduktionen oder Versorgungslücken hätte.
Sind Sie näher am Markt und an Trends, wenn Sie zugleich Produzent sind?
Egal, ob ich einkaufe oder selbst produziere, ich muss nah am Markt sein, um Trends frühzeitig zu erkennen. Derjenige, der zum Beispiel verantwortlich ist für den Einkauf von Backwaren, ist auch zuständig für die Produktentwicklung zusammen mit Herzberger.
Wie viel höhere Margen können Sie durch die vertikale Integration erzielen?
Man kann nicht pauschal in Prozent benennen, wie viel höher die Margen sind. Je größer der Teil der Wertschöpfungskette, der bei mir liegt, desto höher der Aufwand und die Kosten. Bei Backwaren habe ich eine Marge vom Getreideeinkauf bis zum fertigen Produkt. Wenn ich das Brot einkaufen würde, wäre die Marge geringer, aber ich müsste mich nicht mit dem Backen beschäftigen, hätte somit keine Zusatzkosten für Energie, Bäcker etc. Die Frage ist: In der Summe dessen, was ich über die gesamte Wertschöpfungskette einspare, verdiene ich dadurch mehr? Und: Ordne ich das dem Werk zu oder dem Handel? Dabei kann man sich auch mal schnell in die eigene Tasche lügen, dass man vermeintlich mehr verdient.
Nach der Übernahme des Handelsgeschäfts von Tegut durch die Migros 2013 haben Sie sich von den Produktionsbetrieben getrennt. Was bedeutet es für Tegut, dass Sie mit Kff nicht mehr zusammenarbeiten?
Man hat es sich einfach vorgestellt, dass man die Unternehmen trennt. Dann mussten wir feststellen, dass Unternehmen, die jahrelang so konstruiert worden sind, dass sie im Grunde symbiotisch funktionieren, nicht mehr genauso performen, wenn das Band durchtrennt wurde und jeder darauf schaut, dass er seine eigenen Geschäfte optimiert. So wird schnell viel an Struktur zerstört.
Was lief schlechter?
Wir haben gekämpft mit unzufriedenen Kunden, damit, dass die neuen Artikel nicht gleich optimal gepasst haben, die Warenbestände nicht stimmten. Es hat schon einige Jahre gedauert, bis wir die Rückschläge verwunden und uns dahin zurückgekämpft hatten, wo wir vor der Trennung standen. Heute sind wir mit unserem jetzigen Dienstleister sehr gut aufgestellt.
Wie hart war der erste Schnitt bei Herzberger, und wie kompliziert war die Reintegration?
Bei Herzberger war es nie so weit auseinandergegangen. Wir haben gesehen, dass insbesondere die logistischen Themen, Abstimmungen, Warenströme, Disposition, für beide Seiten nicht so rund liefen und wir nicht zu dem Ergebnis in der gesamten Wertschöpfungskette kamen, das man braucht, um in einem solchen geringmargigen Bereich zu bestehen. Wenn die Koordination nicht passt, kommt es schnell zu Warenverlusten, zu einer Über- oder Unterproduktion, die falsche Ware wird geliefert etc. Ein Frischesortiment mit einer Haltbarkeit von einem Tag muss auf den Punkt produziert werden. Das funktioniert besser aus einer Hand. Somit waren wir sehr froh, als wir Herzberger wieder integrieren konnten. Wenn heute zehn Weißbrote zu viel produziert wurden, schauen wir, wohin wir diese liefern können, wie wir unsere Partner bei der Vermarktung oder durch eine Erstattung unterstützen können, sollten die Brote nicht verkauft werden. Am Ende stehen: bessere Qualitäten, bessere Verfügbarkeiten, weniger Food-Waste und höhere Umsätze.
Kurz-Info
Das Fuldaer Handelsunternehmen Tegut (gegründet 1947) verfolgt seit den 1970er-Jahren die Strategie der Vertikalisierung und wuchs so zu einer Unternehmensgruppe heran. Der Fleischverarbeitungsbetrieb Kff Kurhessische Fleischwaren Fulda wurde 1972 gegründet, die Herzberger Bäckerei 1996. Landwirtschaft‧liche Betriebe gehörten ebenfalls dazu. 2013 übernahm die Migros Zürich das Handelsgeschäft von Tegut – ohne die Produktionsbetriebe. Die Herzberger Bäckerei wurde 2017 wieder übernommen.
Diversifizierung ist eine wichtige Strategie, um Unternehmen resilienter zu machen. Wie wichtig ist es für ein Tochterunternehmen wie Herzberger, dass es nicht zu 100 Prozent abhängig ist von Tegut? Wie divers aufgestellt ist die Herzberger Bäckerei?
Der Umsatzanteil, den Herzberger mit externen Handelspartnern erwirtschaftet, liegt bei rund 20 Prozent. Die Zusammenarbeit mit Dritten ist eine wichtige Benchmark. Die Gefahr bei der vertikalen Integration ist: Man kann zu sehr in sich selbst verliebt sein, nach dem Motto: „Wir haben das beste Brot und keiner kann das so gut wie wir.“ Es ist immer gut, sich mit Fremdkunden darüber auseinandersetzen zu müssen, ob Leistung und Preis passen. Wenn man mit seinem Angebot auch bei anderen Unternehmen punkten kann, dann spricht dies dafür, dass man mit dem eigenen gut aufgestellt ist.
Wo werden in der Branche Fehler gemacht, wenn in vor- oder nachgelagerte Bereiche investiert wird?
Ich kann aus unserer eigenen Erfahrung sagen: Wenn man blauäugig eine Partnerschaft eingeht, reicht man schnell mal den kleinen Finger und verliert die ganze Hand. Es bedarf einer guten Ausgewogenheit zwischen Vertrauen, Struktur und Absicherung. Verträge sind wichtig, aber ein Ehevertrag hilft nicht dabei, eine gute Ehe zu führen, sondern dann, wenn diese schief gegangen ist. Ähnlich ist dies bei Kooperationsverträgen. Eine Kooperation besteht immer zwischen Menschen – daher muss vor allem die menschliche Basis passen. Und wie in jeder sozialen Struktur, erfordern Kooperationen Zeit und Mühe, sie müssen gepflegt werden.
Ihr Markenfleischprogramm Landprimus könnte man auch als Beispiel für vertikale Integration anführen. Wie arbeiten Sie hier?
Wir kaufen ganze Landprimus-Schweine beim Landwirt ein, bestimmen die Haltungskriterien mit. Dann verkaufen wir die Teilstücke an Produzenten weiter, die das daraus fertigen, was wir benötigen und in Auftrag geben. Wir bestimmen, was in welchen Mengen und Qualitäten und Variationen produziert wird - Schwartenmagen, Schinken etc. - und wir bestimmen, was wir nicht selbst verarbeiten können und an Dritte verkaufen. Diese Menge halten wir natürlich so gering wie möglich. Der Aufpreis, den wir den Landprimus-Landwirten bezahlen, den bekommen wir nicht von Dritten bezahlt.
Die Migros selbst setzt stark auf eigene Produktionsbetriebe. Wo konnten Tegut und Migros voneinander lernen?
Beim Thema der Reintegration von Herzberger haben wir zum Beispiel eng miteinander besprochen, wie wir dies angehen können. Es war eine große Hilfe uns anschauen zu können, wie die Kollegen ihre Hausbäckereien aufgestellt haben.
Ursprünglich sollte Tegut auch einen zusätzlichen Absatzkanal für die Produkte der M-Industrie bieten.
Das war ein Ziel, das man aber nicht verordnen kann. In manchen Produktionsbereichen der Migros wären die Tegut-Mengen unbedeutend klein und es wäre eher eine Last. In manchen Warengruppen ist die Schweizer Preisstellung für den deutschen Kunden schwer zu vermitteln. Es funktioniert da gut, wo sich Zuständige in den einzelnen Bereichen eng abstimmen, Marktchancen gemeinsam erkennen und nutzen.
Welche Positivbeispiele gibt es?
Schweizer Käse, Wurst, Kaffee, Nudeln.
Was planen Sie in der Zukunft? Gibt es Bereiche, in denen Sie sich weiter vertiefen möchten?
Es ist ein tägliches Arbeiten der Kollegen im Einkauf, zu schauen, wo wir herauskommen können aus nur konfrontativ gestalteten Verhältnissen, und wo kommen wir trotz aller unterschiedlichen Interessen mit anderen Unternehmen zu kooperativen Handlungen. Das funktioniert meist dann besser, wenn die Unternehmen eine vergleichbare Größenordnung haben, also nicht David mit Goliath – dann kann es gut funktionieren.