Canan Karadag sitzt vor einem riesigen Gemälde von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Republik Türkei. Er nippt an einem Mokka. Und damit ist schon Schluss mit den Klischees: Karadags Büro ist die Schaltzentrale eines kleinen Lebensmittel-Imperiums. Zwölf Supermärkte in und um Köln betreibt seine deutsch-türkische Familie mittlerweile, 150 Mitarbeiter erwirtschaften rund 44 Millionen Euro Umsatz. In der Nähe des Kölner Flughafens haben Karadags vor zwei Jahren schicke Büros und eine eigene Großhandelshalle gebaut: Auf 4.600 Quadratmetern lagert das Unternehmen mehr als 4.000 Paletten Trockensortiment sowie Obst, Gemüse und Fleisch. Die 8 Millionen Euro teure Immobilie verrät jedem Besucher: Hier hat es jemand geschafft.
Und dieser jemand hat noch große Pläne. Karadag steht für eine neue Generation migrantisch beeinflusster Lebensmittelhändler: Filialisten mit modern eingerichteten Läden, in warmes Licht getauchtem Sortiment, Bedientheken mit interkultureller Kompetenz. In den Stadtteilen mancher Großstädte haben sich Supermärkte wie die der Karadags zu Stammgeschäften nicht mehr nur für Kunden mit Migrationshintergrund, sondern auch für Alteingesessene entwickelt: Sie sind Konkurrenten für Edeka- und Rewe-Kaufleute. Der Standard im sogenannten Ethno-Lebensmittelhandel sind diese Märkte noch nicht – das zeigt ein Blick auf die vergleichsweise große Sparte an türkisch geprägten Geschäften: Viele sind nach Meinung von Kennern der Szene noch immer in der Hand von Einzelkämpfern – betrieben auf kleiner Fläche nach dem „Onkel Mehmet“-Prinzip, wie es manche Marktforscher in Anlehnung an „Tante Emma“ nennen.
„Eine strategische Vision fehlt oft“, sagt Professor Tanju Aygün von der CBS International Business School in Solingen. Er berichtet: Gerade weil deutsch-türkische Einzelhändler sich oft nicht zusammenschließen und in der Tendenz sehr klein sind, treffen sie fehlender Nachwuchs, Fachkräftemangel sowie hohe Inflation härter als Konzerne wie Edeka, Rewe oder Aldi. Die Zahl der türkischen Supermärkte geht denn auch seit Jahren schnell zurück. Der Strukturwandel ist klar abzulesen: Wer übrig bleibt, ist hoch professionell – und oft hoch ambitioniert. So wie Canan Karadag. Seine Vision sei es, sagt er, 100 Supermärkte zu betreiben, „in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und in Österreich“. Manche Weggefährten und Experten halten das für ziemlich hoch gegriffen. Karadag aber hat längst Aufstiegsfähigkeiten bewiesen: Er ist erst 1987, im Alter von 15 Jahren und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen nach Köln gekommen.
Auf einmal Gummibärchen-Verkäufer
Im Ethno-Lebensmittelhandel liegt großes Potenzial – das realisiert Engin Ergün in der Weihnachtszeit 2005, am Düsseldorfer Flughafen. Ergün kommt damals aus Istanbul – und wird wieder einmal vom Zoll gestoppt. Vor ihm steht ein anderer Geschäftsmann. Ergün sieht, dass dessen Koffer mit Haribo-Tüten gefüllt ist. Die Zollbeamten scherzen darüber: Warum jemand Haribo nach Deutschland bringe? Der Mann erklärt, dass er oft fliegt, dass die Nachbarskinder in seiner multikulturellen Gegend ihn immer bitten, die Süßigkeiten mitzubringen. Der Grund? Die Gelatine in den deutschen Haribos ist nicht halal, wegen der Schweinegelatine. „Das hat mein Interesse geweckt“, erinnert sich Ergün. Der Deutsch-Türke fährt nach dem Erlebnis in sein Düsseldorfer Büro und schreibt, wie er sagt, bis 3 Uhr nachts ein Konzept, mit dem er Haribo eine Zusammenarbeit anbietet. Und tatsächlich: Seine Ideen stoßen beim Goldbären-Hersteller auf Interesse. Ergün soll fortan die Distribution von Haribo Halal in Deutschland aufbauen. „Wir sahen das Potenzial, die türkische Supermarktlandschaft in Deutschland mit einer innovativen Marke und einem emotional aufgeladenen Produkt zu bedienen“, sagt Ergün, der über seine Werbeagentur zwar Kunden wie die heutige Targobank beriet, von Groß- oder Einzelhandel aber keine Ahnung hatte.
Ergün ist ein Kind der zweiten Generation türkischer Migranten in Deutschland: Sein Vater ist eingewandert und hat im Bergbau gearbeitet. Er selbst ist in Deutschland geboren und in Datteln bei Dortmund aufgewachsen. Nach dem BWL-Studium landete der junge Mann einen beachtenswerten Coup beim Mobilfunkanbieter E-Plus: Für diesen erfand Ergün die erste türkische Mobilfunkmarke „Ay Yildiz“. Sein Traum aber war immer die Selbstständigkeit, und diesen hat er sich mit der Gründung der Agentur „Ethno IQ“ erfüllt. „Nach dem Haribo-Projekt kam schnell Unilever auf mich zu. Sie wollten ihre türkischen Knorr Suppen auch hier in Deutschland und Europa für die türkische Community verfügbar machen“, sagt Ergün. Was ursprünglich als Unternehmensberatung gedacht war, wandelte sich so schnell zu einem Full-Service Großhändler. Ethno IQ kümmert sich heute um Kommunikation, Trade Marketing – und den Vertrieb in die türkischen Supermärkte. Auch die erfolgreiche Getränke- und Snack-Marke „4Bro“ geht auf das Konto von Ergün. Kaum jemand in Deutschland kennt sich deshalb so gut mit migrantisch geprägten Supermärkten aus wie er.
Es fehlen die Nachfolger
Für viele andere ist die von Einwanderern, ihren Kindern und Enkelkindern betriebene Handelslandschaft in deutschen Städten ein unerforschtes Feld – wenngleich allein rund 2,9 Millionen Menschen mit Wurzeln in der Türkei in Deutschland leben. „Es ist wirklich wie eine Black Box, man bekommt einfach keine Daten“, sagt Ergün. Deshalb falle es vielen potenziellen Lieferanten schwer, in diesen Markt einzudringen. Hersteller würden durchaus das Potenzial erkennen: Sie sähen die Läden, mehr aber auch nicht. Um seinen Kunden Unilever und Haribo wenigstens eine Orientierung zu geben, ließ Ergün seine Außendienstler in den relevanten Großstädten selbst penibel zählen. Sein Ergebnis: In Deutschland werden rund 3.000 türkische Märkte, die der Definition Supermarkt standhalten, betrieben. Zum Vergleich: Der Lebensmitteldiscounter Lidl kommt auf ungefähr die gleiche Zahl an Filialen in Deutschland.
Hochschullehrer Aygün bestätigt diese Größenordnung. Der Wissenschaftler war einst als Bezirksleiter bei Plus. Später wechselte er in die Marktforschung, beobachtete Händler wie dm oder Aldi als Analyst. Seine Daten zum türkischen Handel reichen bis in das Jahr 2021. Auffällig sind zwei Entwicklungen: Die Zahl der Filialen nimmt stetig ab, wobei größere Flächen einen immer größeren Umsatzanteil ausmachen. „Wir konnten feststellen, dass die Anzahl der Märkte von 2009 bis 2021 um 800 Standorte gesunken ist“, sagt der Experte. Von den 835 Märkten, die mehr als 400 Quadratmeter groß sind, stammten im Jahr 2021 68 Prozent ,des Gesamtumsatzes. Von rund 5 Milliarden Euro Gesamtumsatz entfallen demnach 3,4 Milliarden Euro auf diese vergleichsweise großen Supermärkte.
Aygün sieht eine wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft nur für Ethno-Supermärkte, die sich professionell aufstellen, auf Expansion und größere Flächen setzen – was nicht nur Canan Karadag tut: Viele Kenner der Szene verweisen auch auf Fevzi Erdemli. Der türkische Unternehmer betreibt mittlerweile fünf „Superstores“ im östlichen Ruhrgebiet, wobei ein Standort in Dortmund mit 1.850 Quadratmetern Verkaufsfläche und mehr als 13.000 Lebensmittel- und Nonfood-Artikeln laut Firmenchef als größter türkischer Supermarkt in Westeuropa gilt. „Überaus gut aufgestellt“ sei der Unternehmer, lobt Aygün, „die Zukunft des türkischen Handels“. Auch die Berliner Filialisten Eurogida (14 Märkte) und Bolu (10 Märkte) sowie Depo in NRW (15 Standorte) gelten als Beispiele erfolgreicher Expansion im türkischen Lebensmittelhandel. Und dennoch zeichnet Aygün für die Zukunft ein eher düsteres Bild: „Für die ältere Generation war es oft alternativlos, ein Geschäft zu eröffnen, weil es keine anderen Jobmöglichkeiten gab. Bei den Jüngeren ist das glücklicherweise anders, weil sie oft ein höheres Bildungsniveau und andere Optionen haben.“ Das Problem liegt auf der Hand: Es fehlt an Nachfolgern. Viele junge Menschen brennen nicht mehr so sehr für die Selbstständigkeit. „Das klingt pessimistisch, aber ich glaube, das wird ein großes Problem in Zukunft“, sagt Aygün.
Die Kundschaft tendiert zum One-Stop-Shopping
Von Pessimismus ist bei Volkan Kuru und Cengiz Inci wenig zu spüren. Kuru, langjähriger Geschäftsführer beim bedeutenden Großhändler Marmara, und Inci, Ethno-Food-Experte bei dem deutschen Groß- und Einzelhändler Lüning, haben 2019 die ESAS Group gegründet. Ihr Ziel: den türkischen Handel zu professionalisieren. Bis heute haben die beiden nicht öffentlich über ihr Unternehmen gesprochen. „Der Wettbewerb schaut genau hin“, sagt Kuru. Die Lüning-Gruppe ist Mitgesellschafter der ESAS Group. Edeka Minden-Hannover wiederum ist mit 49 Prozent an der Handelsgruppe Lüning beteiligt, die 38 Märkte betreibt (Edeka Lüning, E-Center Lüning, Elli). Mark Rosenkranz, Vorstandssprecher der Edeka Minden Hannover, soll den Deal damals persönlich mitverhandelt haben. Ein solches Engagement eines deutschen Händlers im Ethno-Food-Markt ist bis heute einmalig. „Wir können den türkischen Marktbetreibern durch unsere Verzahnung mit Lüning über 22.000 deutsche und internationale Artikel sowie rund 400 traditionelle türkische Produkte anbieten“, erklärt Inci. Die beiden sind von dem Erfolg überzeugt: Die ältere Generation habe sich in einem türkischen Supermarkt mit dem Standard-Sortiment begnügt. „Das ist bei den Jüngeren, die jetzt nachkommen, nicht mehr der Fall. Sie wollen auch internationale Marken kaufen. Und sie tendieren zum One-Stop-Shopping“, sagt Kuru. Schon heute zählt ESAS nach eigenen Angaben 550 Händler mit Schwerpunkten in NRW und Berlin zu seinen Kunden. Das Ziel des Unternehmens ist es, die 1.000 größten türkischen Märkte in Deutschland zu erreichen – was laut Kuru und Inci rund 75 Prozent des Marktes abdecken würde. „Wir schauen nur nach den Top-Händlern, jenen, die sich entwickeln und nachhaltig wachsen wollen“, erklärt Kuru die Strategie.
Die Zusammenarbeit zwischen Lüning mit seinem Partner Edeka und zwei ausgewiesenen Ethno-Food Experten weckt mittlerweile das Interesse internationaler FMCG-Konzerne. Etwa Ferrero arbeitet eng mit Kuru und Inci zusammen, um bei den türkischen Händlern mehr Umsatz zu machen: Im vergangenen Jahr machten die Partner zum traditionellen Zuckerfest mit einer Aktion in 100 Märkten auf Produkte des Herstellers aufmerksam. Eigens gestaltete Werbeaufsteller etwa gehörten dazu. Dieses Jahr soll die Aktion in 300 Märkten stattfinden. „Ein echter Quantensprung für uns, der zeigt, dass unser Modell funktioniert und die Unternehmen nur auf einen professionellen Zugang zu diesem Markt gewartet haben“, sagt Kuru.
„Deutschland ist meine Heimat, hier investiere ich“
Zurück an den Stadtrand von Köln. Canan Karadag läuft durch sein Warenlager. Er grüßt jeden Mitarbeiter, schüttelt viele Hände. Um ihn herum fahren Gabelstapler, transportieren Paletten zu Lastwagen, die später die Karadag-Märkte anfahren. Um im Lebensmitteleinzelhandel wettbewerbsfähig zu bleiben, muss er offenkundig wachsen: Karadag spricht von einem Franchise-Modell für die weitere Expansion. Er sucht aber auch einen Investor, der an seine Vision von einem überregionalen Filialisten glaubt. Derzeit arbeitet Karadag nach eigenen Angaben an der Übernahme von vier weiteren Standorten: „Deutschland ist meine Heimat, hier investiere ich.“
Dabei gab es durchaus düstere Momente in der Karriere des Deutsch-Türken, der es vom Schlosser zu einer Größe im Kölner Lebensmitteleinzelhandel geschafft hat. Halt hat er in diesen Momenten bei seiner Familie gefunden. „Wann immer die Möglichkeit im Raum stand, dass wir verkaufen, hat sich die Familie dagegengestellt“, sagt Karadag. Er hat drei Kinder, die alle im Unternehmen involviert sind. Auch seine Frau und sein Bruder helfen mit. „Familie ist das Wichtigste für uns Türken“, sagt er, „wichtiger als Geld.“
Eng verzahnt mit Edeka
Weitgehend unbemerkt mischt seit Kurzem Edeka indirekt im Ethno-Food-Markt mit: Die Handelsgruppe Lüning, die zu 49 Prozent im Eigentum von Edeka Minden-Hannover ist, betreibt mit den beiden Unternehmern Volkan Kuru und Cengiz Inci einen Großhändler für türkische Kaufleute. Die ESAS Group vertreibt nach eigenen Angaben sowohl ein Eigenmarkensortiment als auch türkische A-Marken-Artikel sowie internationale Markenprodukte.
„Esas“ bedeutet im türkischen „wahrhaftig“, steht aber auch als Abkürzung für „Ethnic Strategy And Solution“. Die Gruppe hat es sich auf die Fahnen geschrieben, türkische Händler bei der Professionalisierung zu unterstützen – und Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen anzubieten. Offensichtlich profitiert ESAS von der Verzahnung mit Lüning und Edeka: Kuru und Inci, die zusammen mit Philipp Rieländer die Geschäfte leiten, werben damit, mehr als 22.000 deutsche und internationale Artikel sowie 400 spezielle Ethno-Food-Produkte anzubieten. „Neben den in der Türkei bevorzugten Marken beliefern wir den ethnischen Lebensmittelhandel auch mit den anspruchsvollsten deutschen und internationalen Marken“, erklärt das Unternehmen. Ziel sei es, „Gesamtlösungen“ zu bieten und die Wettbewerbsfähigkeit der Händler zu verbessern. Hauptsitz von ESAS ist Rietberg, das Lager befindet sich in Langenberg (beide Kreis Gütersloh). Derzeit beschäftigt das Unternehmen nach eigenen Angaben 25 Mitarbeiter, davon zehn im Außendienst. Mittelfristiges Ziel ist es laut Kuru und Inci, 1.000 türkische Händler in Deutschland direkt zu beliefern. Ein solches Engagement einer deutschen Handelsgruppe im Ethno-Food-Markt gilt als einmalig.