Die Bezahlung des örtlichen Händlers für die ausgelieferten 30 Paletten Salatköpfe lässt auf sich warten, der Auftrag, weitere 20 Paletten anzuliefern, wird über Nacht storniert. Alltägliche Realität. Als kleinere Marktteilnehmer haben Landwirte, Erzeugergenossenschaften und oftmals auch Hersteller von gering verarbeiteten Milch- und Frischeprodukten in der Regel eine geringere Verhandlungsmacht. Was bleibt: sich ärgern, schlucken und schauen, dass der Betrieb liquide bleibt. Alternative Absatzwege lassen sich in der Kürze der Zeit meist nicht auftun, auch aufgrund der schnellen Verderblichkeit der Produkte. Mehr noch: Das Machtungleichgewicht in der Lebensmittelkette habe dazu geführt, dass sich unlautere Handelspraktiken regelrecht etabliert hätten, sagen Kritiker. „Wenn vier Händler 84 Prozent des Lebensmittelumsatzes auf sich vereinigen, dann liegt es nahe, dass es zu unfairen Handelspraktiken kommt und diese Macht insbesondere gegenüber kleinen und mittelständischen Unternehmen ausgenutzt wird“, behauptet Dr. Andreas Gayk, stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim Markenverband.
Die Konzentration und ihre Folgen sind kein rein deutsches Phänomen. Um die Unwucht europaweit einzudämmen, erließen das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union vor fünf Jahren die Richtlinie 2019/633 (kurz UTPRichtlinie). Ihr Ziel ist es, unlauteren Handelspraktiken einen Riegel vorzuschieben. Zwei Jahre später setzte Deutschland mit dem Gesetz zur Stärkung der Organisationen und Lieferketten im Agrarbereich (AgrarOLkG) die UTP Richtlinie in nationales Recht um. Lieferanten von Milch- und Fleischprodukten sowie von Obst-, Gemüse- und Gartenbauprodukten sollten nun eigentlich bei Vertragsverhandlungen ein anderes Standing gegenüber ihren Abnehmern haben. Nach einer einjährigen Übergangsfrist zur Anpassung von Altverträgen ist das Gesetz für mehr Fairness seit dem 8. Juni 2022 scharf gestellt.
gibt der Gesetzgeber Zeit, verderbliche Ware zu bezahlen.
Quelle: AgrarOLkG
verbotene Handelspraktiken umfasst die UTPRichtlinie.
Fallberichte zu unlauteren Handelspraktiken gibt es aus der BLE.
Quelle: BLE
Dafür, dass die Verbote eingehalten werden, sorgt die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) in Bonn als Durchsetzungsbehörde. Jetzt hat die BLE erstmals zwei Händler in ihre Schranken verwiesen. Der sicherlich spektakulärste Fall betrifft den Vertrag zwischen einer großen Genossenschaftsmolkerei, die anonym bleiben will, und der Edeka.
„Nach mehreren Beschwerden und Hinweisen, die im Jahr 2023 bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung eingegangen waren, hat die BLE am 15. November 2023 ein Verfahren gegen Edeka eingeleitet“, beschreibt eine Sprecherin der Bonner Behörde auf Nachfrage, wie es zum Verfahren kam. Viele Monate wurde recherchiert, analysiert und angehört. Das Ergebnis nach Darstellung der Behörde: Während die betroffene Molkerei ihre Landwirte für angelieferte Milch innerhalb der gesetzlichen Frist von 30 Tagen entlohnte, zahlte die Edeka Zentralhandelsgesellschaft ihrer Lieferantin den Kaufpreis für frische Milch- und Sahneprodukte erst nach mehr als 49 Tagen. Dieses Plus von 19 Tagen habe große Auswirkungen, so die BLE. Denn der Molkerei entstünden durch die notwendige Zwischenfinanzierung Kosten, die ihre Erlöse schmälerten, was in der Folge zu niedrigeren Milchgeldzahlungen für die Landwirte führe. Ob Edeka die 30-Tage-Zahlungsfrist einhalten muss, hängt davon ab, ob im Verhältnis der Umsatz der Molkerei zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht mehr als 20 Prozent des Umsatzes des Händlers beträgt. Der Jahresumsatz der betroffenen Molkerei habe 2023 bei 13 Milliarden Euro gelegen, während der Edeka-Verbund im selben Jahr 70 Milliarden Euro umgesetzt habe, steht im Fallbericht. Sämtliche Unternehmen des Edeka-Verbunds seien aufgrund ihrer Verflechtungen, ihrer einheitlichen unternehmensstrategischen Leitung, ihres überwiegend zentralen Einkaufs, ihrer einheitlichen Markenstrategie sowie Außendarstellung, ihres arbeitsteiligen Handelns innerhalb des dreistufigen Aufbaus sowie der Vergemeinschaftung von Kosten eine wirtschaftliche Einheit. Das sieht die Hamburger Zentrale anders. Die selbstständigen Einzelhändler seien keine miteinander verbundenen Unternehmen und die Außenumsätze der selbstständigen Händler daher der Zentrale nicht zuzurechnen.
Die Entscheidung der BLE bedeutet, dass der Händler die Molkerei ab sofort innerhalb von 30 Tagen bezahlen muss. Mehr aber auch nicht: Denn in diesem Fall handelt es sich um ein Verwaltungsverfahren und nicht um ein Bußgeldverfahren. Bußgelder können nicht verhängt werden. Wäre das Verfahren auf Grundlage des seit dem 31. Oktober 2024 geltenden AgrarOLkG geführt worden, wäre die Sache wohl nicht so glimpflich für den Händler ausgegangen. In neuen Verfahren kann die BLE auch Rückzahlungen anordnen.
Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Edeka hat die Möglichkeit, innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung beim Oberlandesgericht Düsseldorf Klage einzureichen. „Die Entscheidung wurde Edeka am 17. Oktober 2024 zugestellt, die Frist läuft also noch“, erläuterte eine Sprecherin der Durchsetzungsbehörde kurz vor Redaktionsschluss. Bei dem Gericht war kurz vor Fristablauf nach dessen Angaben noch kein Verfahren anhängig. Eine Nachfrage der Lebensmittel Praxis bei Edeka blieb unbeantwortet.
Ob und wie die betroffene Molkerei reagiert, ist unbekannt. Ihr Name wurde im Fallbericht geschwärzt – auf Wunsch der Molkerei. Die Umsatzgröße, die die BLE erwähnt, lässt aber Rückschlüsse zu. Nach Recherchen der Lebensmittel Praxis scheint es sich um eine Molkereigenossenschaft mit Hauptsitz im europäischen Ausland zu handeln, die auch in Deutschland aktiv ist.
Mehr als ein Einzelfall
Reaktionen aus der Molkereibranche auf die Entscheidung aus Bonn bleiben auch auf Nachfrage aus: Angefragte Milchverarbeiter lehnen es ab, den Vorgang zu kommentieren – etwa mit der Begründung, sich „nicht zu Verhandlungs- und Vertragsthemen in Bezug auf den Lebensmitteleinzelhandel“ zu äußern. Der Milchindustrie-Verband als Dachorganisation lässt durch seinen Pressesprecher ausrichten, das Vorgehen der BLE habe „auch Relevanz für andere Konstellationen“. Geht es also mehr als einen Einzelfall? „In den letzten Monaten haben wir festgestellt, dass auch andere Unternehmen das Zahlungsziel von 30 Tagen verletzen, und das auch in anderen Produktbereichen“, schildert Rechtsanwältin Birgit Buth, Geschäftsführerin des Deutschen Raiffeisenverbands, die Lage.
Doch warum die Zurückhaltung auf Lieferantenseite? Warum kein Jubel darüber, dass die Unwucht im Markt etwas kleiner wird? Der Handelsprimus sei zwar angezählt, aber das Kräfteverhältnis der Big Four Edeka, Rewe, Lidl und Aldi zu 130 Molkereien hierzulande sage alles, so ein Insider. Branchenkenner fürchten gar, dass es sich bei der Entscheidung „Molkerei gegen Edeka“ um einen Pyrrhussieg handeln könnte. Was, wenn ein Händler als Reaktion auf ein solches Urteil den betreffenden Lieferanten ausliste? Vor allem die Molkereibasisprodukte, wie Trinkmilch, Sahne oder Quark, seien fast beliebig austauschbar: Mitbewerber gebe es zur Genüge, die allzu gerne einsprängen.
Dass diese Angst und vor allem die Folgen nicht aus der Luft gegriffen sind, unterstreichen die Zahlen aus der Studie „Marktbeherrschung im Lebensmitteleinzelhandel?“, in der 156 Unternehmen zu den Auswirkungen der Konzentration im Lebensmittelhandel befragt wurden. Darin hätten rund 90 Prozent der Hersteller angegeben, so der Wettbewerbs- und Kartellrechtsexperte Prof. Rainer Lademann, dass der Verlust eines dieser große Handelsunternehmen für sie existenzgefährdend sein könne.
„Dass wir den Händlern nur bedingt auf Augenhöhe begegnen, darüber brauchen wir nicht zu reden. Die Größenverhältnisse, die sich da gegenüberstehen, sind extrem“, sagt Heinrich Gropper, Inhaber der Molkerei Gropper. Auf die Frage, ob dieses Ungleichgewicht in den letzten Jahren etwas mehr in Balance gekommen sei, antwortet Gropper: Ja, das Standing der Molkereiunternehmen habe sich verbessert – schon weil es einen Strukturwandel gebe und übrig bleibende Betriebe größer würden. Das allein bringe aber kein Mehr an Marktmacht, ist sich Gropper sicher. „Der Handel braucht Betriebe, die in der Lage sind, europaweit tätig zu werden, regulatorische und logistische Themen zu meistern, leistungsfähig zu produzieren und ständig zu investieren. Solche Betriebe wiederum haben auch ein besseres Standing bei Vertragsverhandlungen.“ Trotzdem bleibe der Lebensmittelhandel immer noch der deutlich Mächtigere. Es gebe halt gewisse Gesetzmäßigkeiten: „Ober sticht Unter.“
Ist die UTP-Richtlinie also ein stumpfes Schwert?Nein, meint die Rechtsanwältin Birgit Buth: „Abgesehen davon, dass gegen die Entscheidung noch Rechtsmittel möglich sind, zeigen die bereits in diesem Jahr entschiedenen Fälle zu HIT und Edeka, dass das AgrarOLkG Wirkung entfaltet und geeignet ist, unlautere Praktiken zu unterbinden.“ Etwas weniger euphorisch sieht das der Markenverband. „Das AgrarOLkG ist erst vor etwas über drei Jahren in Kraft getreten, und noch haben wir lediglich zwei Untersagungsentscheidungen der Durchsetzungsbehörde und keine einzige gerichtliche Entscheidung“, meint der stellvertretende Geschäftsführer Andreas Gayk. Laut BLE sind derzeit zwei weitere Verfahren in der Schwebe. Mit Entscheidungen in diesen Fällen sei aber frühestens 2025 zu rechnen.
Dass es in manchen Fällen schon reicht zu wissen, welche gesetzlichen Möglichkeiten gegen unfaire Vertragsverhandlungen bestehen, sagt der Mittelständler Timo Burger, Geschäftsführer des Knödelherstellers Burgis. „Viele Hersteller kennen sich mit den UTPs zu wenig aus und wissen nicht, wo der Handel rote Linien bei Vertragsverhandlungen überschreitet.“ Er macht Kollegen Mut. So habe er selbst zum Hörer gegriffen und sich bei der BLE über die neue Gesetzeslage informiert, nachdem er feststellen musste, dass Rechtsanwälte mit UTPs wenig Erfahrung hätten. „Ich kann die Hilfsbereitschaft der BLE nur loben. In dieser Behörde erhält man Informationen aus erster Hand.“ Seitdem weiß er, was in Verträgen drinstehen darf und was nicht. Vertragsverhandlungen mit dem Lebensmittelhandel sind zwar immer noch eine harte Nuss, aber Timo Burger kennt seine Rechte und lässt sich den Knödel nicht mehr so leicht vom Teller nehmen.