Mittwochnachmittag in einem hessischen Tegut-Markt. Das Obst ist, nun ja, gut abverkauft. Die Gemüsepräsentation: leicht zerrupft. Manche Regale wirken wie geplündert.
Tegut gibt gerade ein ungewohntes Bild ab. Nicht nur in manchen Filialen, sondern darüber hinaus: In der Schweiz, der Heimat der Tegut-Mutter Migros, haben Medien die Zahlen der deutschen Supermarktkette zum Thema gemacht. Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ), fragt, wie lange Migros am „Millionengrab“ Tegut „weiterschaufelt“.
Für die Schweizer ist das plötzlich von Bedeutung, weil es ihrer Supermarktgenossenschaft Migros schon mal besser ging – was sich etwa darin zeigt, dass deren wichtige Regionalgesellschaft Migros Zürich, die direkte Tegut-Mutter, in ihrem Gruppenabschluss einen Verlust ausweist. Und weil sich die Migros von manchen Produktionsbetrieben trennt, Berichten zufolge auch Stellen abbaut.
In der heimatbewussten Schweiz stößt offenkundig auf, dass im Bergland Rückzug angesagt ist, während die Migros nördlich davon ungerührt ihr „Deutschland-Abenteuer“, wie es die NZZ nennt, finanziert. Tatsächlich hat Tegut zur Lage der Züricher Migros einen gewissen Teil beigetragen: Die Supermarktkette erwirtschaftete in den vergangenen Jahren nur während der Corona-Sonderkonjunktur ernsthaft Gewinne (siehe Grafik). In ihrer Bilanz hatte sie bis Ende 2022 53 Millionen Euro Verluste angehäuft.
Ist das vermeintliche Abenteuer noch die richtige Betätigung für die Züricher Genossen? Die Frage ist für Tegut noch viel relevanter als für die Schweizer, womöglich existenziell. Die Migros schließlich stützt Tegut seit der Übernahme 2013 mit Schweizer Verlässlichkeit. Erst im Dezember wandelte sie ein Darlehen an die Tochter in Höhe von 225 Millionen Euro in Eigenkapital um – was die Optik der Bilanz von Tegut verbessert und dem Unternehmen jährlich einen Millionenbetrag an Zinszahlungen ersparen dürfte.
Die Sorge, dass einmal Schluss sein könnte mit so viel Hingabe, schürt auch eine Personalie: Jörg Blunschi, der als Geschäftsleiter der Migros Zürich den Tegut-Kauf vorangetrieben hatte, wechselt zu einer anderen Regionalgesellschaft. Ansonsten aber spricht viel dafür, dass die Züricher geduldig mit der Tochter bleiben und Tegut-Chef Thomas Gutberlet recht behält, wenn er der Lebensmittel Praxis sagt, seine Supermärkte seien „Teil der Kernstrategie“ der Migros.
Die Züricher haben das Geld, Tegut hat die Ideen
Eines der Argumente: Tegut ist der beste Fuß, den die Schweizer in Deutschland in der Tür behalten können; ein Unternehmen, dessen Ideen den Eigentümern zuweilen auch auf dem Heimatmarkt nutzen. Tegut sei innovativ und besetze schnell Nischen, sagt etwa Bastian Popp. Der Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes lobt die Vielfalt des Händlers: Rund 350 Tegut-Märkte sind klassische Nahversorger, zudem entwickelt das Unternehmen so konsequent wie kein anderes neue Konzepte, etwa die Filialtypen „Teo“, „Quartier“ und „Lädchen“.
Bei „Teo“ handelt es sich um einen digitalen Smart-Store, dessen Prinzip mittlerweile auch in der Schweiz zum Einsatz kommt. „Quartiere“ stehen an Standorten mit hoher Frequenz, bislang sind drei im Testbetrieb. Die 24 „Lädchen“ arbeiten meist im Verbund mit sozialen Einrichtungen. „Wir sind offen für neue Möglichkeiten“, sagt Gutberlet.
Tegut bringt „Teo“ in die Schweiz
Tegut hat sich einen Ruf als Innovator der Branche erworben – unter anderem durch seine Smart-Stores „Teo“. Die Läden sind kleine, autonome Geschäfte, die fast ohne Personal arbeiten. „Teo“-Märkte sind an sieben Tagen pro Woche rund um die Uhr verfügbar und bieten den Kunden 950 Produkte des täglichen Bedarfs.
Aktuell sind 40 Verkaufsstellen im Einsatz, die meisten davon als Container, die an ein Holzfass erinnern. Diese können umziehen, falls sich ein Standort nicht als erfolgreich erweist. Außerdem gibt es „Teo“-Geschäfte in bestehenden Gebäuden, etwa im Mannheimer Hauptbahnhof oder in einer Münchner Seniorenresidenz. Grundgedanke war es, dass die kleinen Stores als Nahversorger im ländlichen Raum oder in städtischer Umgebung an Knotenpunkten dienen.
Diskussion um Sonntagsöffnung
„Teo“ funktioniert digital, für den Zugang und das Bezahlen benötigen Kunden eine Giro- oder Kreditkarte oder eine App. Noch nicht geklärt ist im Bundesland Hessen die Frage, ob die „Teos“ auch an Sonntagen verkaufen dürfen. Tegut-Chef Thomas Gutberlet ist zuversichtlich, dass bis Herbst eine gesetzliche Änderung im hessischen Landtag die Öffnung erlaubt. Das ist entscheidend, weil an Sonntagen rund 25 Prozent des Umsatzes gemacht werden.
Tegut und Migros haben im Frühjahr mit „Smart retail solutions“ einen Ableger gegründet, der die „Teos“ als Franchise-Konzept auch anderen Handelsunternehmen zur Verfügung stellt. In der Schweiz stehen die ersten sechs „Migros Teos“ außerhalb Deutschlands.
Die weichen Faktoren stimmen, auch sonst: Tegut strahle Sympathie aus, biete eine persönliche Einkaufsatmosphäre, sei im Kerngebiet regional verwurzelt, urteilt Popp. Die Unternehmenskultur unterscheide sich „deutlich“ von der der meisten anderen Handelsunternehmen, sagt Carsten Kortum, Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Die Beschäftigten nennen sich Tegutianer. Es geht familiär zu, selbst in der Zentrale, berichten Mitarbeiter. Das lockt junge Leute: 16 Prozent der Beschäftigten sind Auszubildende. Von so viel Potenzial für die Zukunft träumen manche in Zeiten der Personalnot.
Ein ehemaliger Manager, der viele Jahre im deutschen und Schweizer Handel tätig war, sagt trotzdem: Wäre er bei der Migros, würde er „den Laden so schnell wie möglich verkaufen“. Letztlich ist das eine Einzelmeinung, viele Experten sind gegenteiliger Ansicht. „Niemand hat verstanden, aus welcher Motivation heraus die Migros Zürich ursprünglich in Deutschland investiert hat“, sagt Hochschullehrer Kortum zwar. Aber: „Ein Exit wäre nun sehr viel teurer, als weiterhin auf Tegut zu setzen.“ Ende 2023 stand das deutsche Unternehmen mit 315 Millionen Euro in den Büchern der Migros. Zudem hatte Tegut noch 232 Millionen Euro Schulden bei den Schweizern.
Tegut-Chef Gutberlet selbst sieht nach eigener Darstellung keinerlei Anzeichen für einen drohenden Verkauf. Migros sei „langfristig orientiert“. Die Mutter arbeite an ihrer Struktur, um sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren: die Supermärkte. Und eine Supermarktkette, das sei eben auch Tegut.
Glücksgriff in München
Migros gibt denn auch ein Versprechen ab gegenüber der LP: Das Unternehmen halte an dem Engagement bei der deutschen Tochter fest. Warum? „Mit den Schwerpunktthemen Nachhaltigkeit, Bio und Regionalität“ unterscheide sich Tegut „klar von anderen Anbietern“. Im Übrigen habe die Tochter im vergangenen Jahr ein Umsatzplus von 2,4 Prozent erwirtschaftet.
Die Inflation in Deutschland lag mit 5,9 Prozent deutlich höher. Edeka und Rewe erzielten Umsatzsteigerungen noch jenseits dessen. Als gewichtigeres Argument dürften die Schweizer deshalb die Zukunftsaussichten für Tegut werten. Und die sind nach Ansicht mehrerer Fachleute durchaus gut. Auch weil Tegut im Frühjahr 19 bayerische Filialen der Bio-Supermarktkette Basic übernommen hat.
Vor allem der Zukauf der Standorte in München sei „ein Glücksgriff“, sagt Experte Kortum, diese befänden sich in Wohngebieten mit hoher Kaufkraft. Noch ist das Umflaggen der einstigen Fachmärkte ein Kraftakt. „Die Basic-Märkte wurden nicht verkauft, weil alles bestens war“, sagt Gutberlet. Und: „Jede neue Filiale macht Anlaufverluste, diese haben wir nun von mehreren Märkten auf einen Schlag.“ Aber: Der Zukauf mache Tegut „in München auf einen Schlag präsent“.
ZUM INTERVIEW MIT THOMAS GUTBERLET
Größe tut eigentlich not, um im deutschen Lebensmittelhandel die Kosten wettbewerbsfähig zu halten. Und da liegt Teguts bedeutendste Herausforderung: Mit einem Umsatz von knapp 1,3 Milliarden Euro im vergangenen Jahr gehört das Unternehmen zu den kleinen Spielern im deutschen Lebensmittelhandel. Zum Vergleich: Der größte selbstständige Edeka-Händler, Feneberg, kam laut Trade Dimensions 2023 auf einen Umsatz von 570 Millionen Euro – und das mit nur 92 Verkaufsflächen.
Dementsprechend rangiert Tegut in puncto Flächenproduktivität unten auf der Skala, mit einem errechneten Umsatz von weniger als 4.000 Euro pro Quadratmeter und Jahr. Im Vergleich zu den Handelsriesen wie der Rewe- oder Edeka-Zentrale sind Teguts Einkaufsvolumina winzig, entsprechend ungünstig ist die Verhandlungsposition des Händlers gegenüber Markenherstellern und Produzenten von Eigenmarken eigentlich.
Tegut aber hält mit Partnerschaften mittlerweile gegen: 2018 ist das Unternehmen der Retail Trade Group (RTG) beigetreten. „Die richtige Strategie“ sei das, sagt Handelsexperte Kortum. Im Verbund mit Globus, Rossmann, Bünting, Bartels-Langness, Klaas & Kock, Georg Jos. Kaes sowie Netto ließen sich Rohertragsmargen „von über 35 Prozent erreichen“.
Tegut beherrscht Kooperation. Das zeigt auch eine Zusammenarbeit mit Amazon: Über den Onlinehändler lassen sich Waren bestellen, die anschließend aus Filialen des Händlers ausgeliefert werden.
„Eigenständigkeit ist für Tegut schwer“, sagt Popp. Das macht einen Ausstieg der Migros noch unwahrscheinlicher. Würden sich die Schweizer für einen harten Schnitt entscheiden, bräuchte Tegut einen neuen Partner, sagt auch Fachmann Kortum. Nur, wer könnte das sein? Wer ist in der Lage, die nötigen Synergien zu heben? „Die Rewe Group hat schon bei der Coop Schleswig-Holstein gern zugegriffen und hätte sicher auch an Tegut Interesse“, spekuliert Kortum.
Ob das kartellrechtlich gelänge, ist aber offen. Das Kartellamt hat die Coop-Übernahme 2016 nur mit Auflagen genehmigt – und damals darauf hingewiesen, dass Coop schon vor dem Zusammenschluss einen Großteil seiner Waren gemeinsam mit Rewe beschafft hatte. Bei einer Übernahme von Tegut durch einen der großen Konkurrenten lägen die Dinge anders. Was die Frage aufwirft, was abenteuerlicher ist: ein unwägbarer Verkaufsprozess oder ein weiteres Engagement bei einer zwar nicht gerade gewinnträchtigen, aber ideenreichen Tegut.
Die Schweizer selbst wollen keinen Zweifel daran lassen, sich längst zugunsten von Tegut entschieden zu haben: Sie erklären, ein „internes Maßnahmenpaket zur Prozessoptimierung und Umsatzverbesserung“ bei der deutschen Tochter geschnürt zu haben.
Und die zerrupfte Warenpräsentation in manchen Märkten? Tegut-Chef Gutberlet führt sie auf ein neues Logistikzentrum in Fulda zurück, das gerade in Betrieb genommen wurde. „Wenn wir neue Lagerteile hochfahren, rumpelt es leider immer irgendwo“, sagt er.
Drei Fragen an
Prof. Dr. Carsten Kortum, Handelsexperte an der Dualen Hochschule Baden- Württemberg in Heilbronn
Wie wettbewerbsfähig ist Tegut?
Carsten Kortum: Tegut ist wettbewerbsfähig bei Sortiment und Standorten. Die Sortimentsstrategie ermöglicht den Hybrid-Einkauf: Das gemischte Sortiment holt konventionelle wie Bio-Kunden ab, auch in ländlichen Gebieten, in denen es kaum Bio-Märkte gibt. Die Discounter setzen stärker auf Bio – der Markt wächst und Tegut macht hier einen guten Job. Auch die Übernahme der Basic-Standorte vor allem in München war ein Glücksgriff. Eine der Stärken von Tegut ist die Innovationskraft. Tegut identifiziert und nutzt neue Chancen. Das Format Teo ist das jüngste Beispiel dafür.
Was läuft nicht gut?
Tegut hat ein „Teuer“-Image und fällt nicht durch aggressive Preisaktionen auf. Im Vergleich zu anderen Unternehmen sind die Einkaufsvolumina recht klein, entsprechend ist Tegut in einer schlechteren Verhandlungsposition Markenherstellern, aber auch Produzenten der Eigenmarkenprodukte gegenüber.
Welche Weichen muss Tegut stellen, um aus den roten Zahlen herauszukommen?
Die Strategie, das Vertriebskonzept diverser aufzustellen und Konzepte auf unterschiedliche Standorte und Zielgruppen anzupassen, ist aus meiner Sicht genau richtig. Schlummerndes Potenzial sehe ich darin, insgesamt stärker auf selbstständige Kaufleute zu setzen, also mehr Märkte in die Hand selbstständiger Kaufleute zu geben [Anm. der Redaktion: Aktuell führen selbstständige Kaufleute 120 Tegut-Nahversorger-Märkte].