Nutri-Score Verbraucher-Label im Visier

Der Nutri-Score wird neu berechnet. Vielen ist er immer noch zu lasch. Der Ruf nach einer verbindlichen Lösung auf EU-Ebene wird lauter.

Donnerstag, 09. März 2023, 10:22 Uhr
Hedda Thielking
Artikelbild Verbraucher-Label im Visier
Bildquelle: Lebensmittel Praxis

Der Nutri-Score sorgt mal wieder für Diskussionsstoff: Zum einen hat ein wissenschaftliches Gremium den Berechnungs-Algorithmus dieses Modells für „feste Lebensmittel“ angepasst. Zum anderen ist vielen Vertretern der Lebensmittelbranche die bisher freiwillige Nutzung zu lasch. Doch auf nationaler Ebene lässt das EU-Recht keine verpflichtende erweiterte Nährwertkennzeichnung, wie den Nutri-Score, zu. Für eine verbindliche Lösung muss die EU-Kommission in die Bresche springen. Das will sie wohl auch, aber das dauert. Dazu später mehr.

Das aus Frankreich stammende Modell wurde Ende 2020 in Deutschland eingeführt. Außer Deutschland und Frankreich nutzen Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Spanien und die Schweiz dieses Label. In anderen EU-Mitgliedstaaten kommen weitere freiwillige Modelle zum Einsatz.

Algorithmus der Inhaltsstoffe wurde angepasst
Mithilfe des Nutri-Scores sollen Verbraucher die Nährwerte unterschiedlicher Produkte – es geht um verpackte Lebensmittel innerhalb einer Kategorie – leichter vergleichen können. Für die Bewertung mit grünem „A“ bis rotem „E“ werden verschiedene Nähr- bzw. Inhaltsstoffe herangezogen (siehe unten). Die Praxis hat gezeigt, dass Nachbesserungen erforderlich sind. Somit werden für bestimmte Nähr- und Inhaltsstoffe künftig andere Referenzwerte, Maximalpunktzahlen oder Schwellenwerte angelegt. Zum Beispiel: Die Gehalte von Zucker und Salz werden nun stärker gewichtet. Vollkornprodukte, die reich an Ballaststoffen sind, können besser von Weißmehlprodukten unterschieden werden. Fette und Öle mit einem geringen Anteil an gesättigten Fettsäuren, wie Oliven-, Raps- und Walnussöl, können nun günstigere Bewertungen erzielen (alle Änderungen unter dem Link am Ende des Textes). Noch sind die Änderungen allerdings nicht in Kraft, und ein Termin dafür steht noch nicht fest. Nach Inkrafttreten haben die Hersteller zwei Jahre Zeit, den Nutri-Score – sofern erforderlich – anzupassen. Demnächst stehen weitere Algorithmus-Änderungen für Getränke sowie für die Obst- und Gemüsekomponente an. Auch wenn die Anpassungen erforderlich sein mögen, kann das dazu führen, dass „Nichtnutzer“ des Nutri-Scores weiter stillhalten, bis sich die Bewertungskriterien „eingespielt“ haben. Bei Dr. Oetker befürchtet man durch eine Änderung der Bewertungsgrundlagen eine Verunsicherung der Verbraucher und eine abnehmende Akzeptanz. Der Konzern hat alle Pizzen mit dem Nutri-Score versehen. Bis Ende Oktober 2023 folgen auch alle Kuchen- und Dessertprodukte.

640

in Deutschland registrierte Unternehmen verwenden den Nutri-Score.

1.030

Marken verweisen auf den Nutri-Score.

Hersteller und Institutionen fordern mehr
Viele befragte Hersteller sehen die Änderungen als einen Schritt in die richtige Richtung, doch manchen gehen sie nicht weit genug. So sagt Prof. Dr. Ulrike Detmers, Mitinhaberin von Mestemacher, einem der ersten Unternehmen, die den Nutri-Score verwendet haben: „Die Änderungen sehen vor, dass Ballaststoffe unterhalb von 3 Gramm je 100 Gramm zukünftig nicht mehr berücksichtigt werden. Dies führt in der Summe der Anpassungen (auch für Salz und Eiweiß) zwar dazu, dass eine stärkere Unterscheidung zwischen Vollkorn- und Weißmehlprodukten erreicht wird, führt aber gleichzeitig dazu, dass jedes Brot schlechtergestellt wird. Ballaststoffreiche, gesunde Vollkornprodukte insgesamt abzuwerten widerspricht den Empfehlungen für eine vollwertige Ernährung.“ Maik Heunsch, Pressesprecher vom Verband der ölsaatenverarbeitenden Industrie in Deutschland (OVID), kritisiert, dass sich der Einsatz ernährungsphysiologisch wertvoller Öle bei zusammengesetzten Lebensmitteln nur unzureichend niederschlägt. Dadurch werde die Chance auf verbesserte Formulierungen in zusammengesetzten Lebensmitteln verpasst. Weiter gebe es zwar Bonuspunkte für einzelne botanische Herkünfte pflanzlicher Öle, der eigentliche Gehalt an ungesättigten Fettsäuren bleibt jedoch unberücksichtigt, sodass wertvolle Öle, wie das Leinöl, außen vor bleiben.

Nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) ist der Referenzwert für Zucker von 90 Gramm pro Tag noch zu hoch angesetzt. „Auch der Verarbeitungsgrad werde nach wie vor nicht berücksichtigt. Dabei haben Studien ergeben, dass der Verzehr von stark verarbeiteten Lebensmitteln mit einer höheren Kalorienzufuhr einhergeht als nicht verarbeitete Lebensmittel“, sagt Pressesprecherin Antje Gahl.

Neu: Nutri-Score wird überwacht

Wie das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) am 22. Februar bekannt gab, übernimmt die RAL gGmbH die Kontrolle des Nutri-Scores in Deutschland. Mit dieser unabhängigen Stelle zur Marktüberwachung und Missbrauchsverfolgung soll der Nutri-Score als verlässliche Orientierungshilfe für die Verbraucherinnen und Verbraucher bei der Lebensmittelwahl weiter gestärkt werden.
Die RAL, die bereits im Bereich Kennzeichnungen agiert, wird zudem alle interessierten Hersteller betreuen.

Und laut Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) wird nicht berücksichtigt, ob ein Produkt naturbelassen ist, ob es Zusatz- und Ersatzstoffe enthält und wie hoch die Nährstoff- und Energiedichte ist. Zudem fehle ein ganzheitlicher Blick auf das Lebensmittel.

Kann der Nutri-Score denn ein Ansporn für die Unternehmen sein, ihre Rezepturen zu ändern, damit sie eine bessere Bewertung bekommen? „Ja“, sagt Werner Manglus, Geschäftsführer von Bavaria Bio-Marken. Das Unternehmen vermarktet Bio-Trockensuppen unter der Marke Jérôme. „Der Nutri-Score ist ein Gradmesser für die Lebensmittelauswahl. Ein ‚C‘ für Bio-Gemüsesuppen ist für mich unter aller Würde. Deshalb haben wir bei den neuen Bio-Trockensuppen den Salzgehalt reduziert und den Gemüse- und Kräuteranteil erhöht. Ziel ist es, mindestens ein ‚B‘ zu bekommen. Sollte der geänderte Algorithmus dazu führen, dass sich die Bewertung verschlechtert, würde ich die Rezepte sofort wieder ändern.“ Auch Danone Deutschland wird bei einigen Produkten unter Umständen die Rezeptur überarbeiten. „Nicht nur, aber auch um die guten Bewertungen zu erhalten, die wir bisher hatten“, teilt eine Sprecherin mit.

Handelsmarken konsequenter
Viele Markenartikler nutzen das Label immer noch nicht. Dazu gehört Coca-Cola. Jonas Numrich, Leiter Unternehmenskommunikation Coca-Cola GmbH, erläutert: „Den größten Einfluss hat unserer Meinung nach eine Kennzeichnung im Einklang mit der EU-Gesetzgebung, die Reformulierung fördert und auf neuester wissenschaftlicher Forschung und Evidenz basiert. Zunächst werden wir aber den Vorschlag der EU-Kommission für eine verbindliche, EU-weit harmonisierte Kennzeichnung abwarten, die im Einklang mit dem Binnenmarkt steht.“ Einige Handelsmarken dagegen, wie beispielsweise von Netto oder Aldi, nutzen das Label konsequent, egal ob die Produkte mit einem „A“ oder „E“ gekennzeichnet sind. Edekaner Stefan Grubendorfer begrüßt dies: „Handelsmarken müssen sich gegenüber Markenprodukten behaupten und bieten mit dem Label einen Zusatznutzen. Gut deklarierte Ware hat auch eine Anziehungskraft auf die Kunden und ist für die Kundenbindung wichtig.“

Stefan Grubendorfer, Edeka-Kaufmann

Ob die Kunden die Lebensmittel nach dem Nutri-Score auswählen? „Nein, sie fragen auch nicht danach“, sagt Stefan Grubendorfer. „Der Nutri-Score ist kein Allheilmittel, er kann aber eine Orientierungshilfe beim Einkauf sein – sofern Hersteller und Handel ihn durchgängig nutzen“, ist er überzeugt. Der Edekaner sieht sich als Anwalt für gesunde Produkte und legt großen Wert darauf, seinen Kunden bereits von klein auf eine gesunde Lebensmittelauswahl zu vermitteln. Stefan Grubendorfer ist Inhaber eines Edeka-Marktes in Herdecke mit einer Verkaufsfläche von 2.200 Quadratmetern und 70 Mitarbeitern. Er hat 38.000 Artikel gelistet.

EU-weite Einführung in weiter Ferne
Nicht alle, aber viele Hersteller, Händler und Institutionen sprechen sich für eine EU-weit verbindliche erweiterte Kennzeichnung aus. Nur so hätten die Verbraucher die Möglichkeit, Lebensmittel innerhalb einer Produktgruppe tatsächlich zu vergleichen. Dr. Matthias Berger, Senior Executive Manager Research & Development bei Dr. Oetker, sagt: „Nach wie vor wünschen wir uns eine einheitliche, gleichbleibende, verbindliche, EU-weite Lösung, auf die sich Verbraucher und Unternehmen einstellen und verlassen können.“ Er sagt weiter: „Wichtig wäre dabei, dass der Algorithmus auf objektiven, ernährungswissenschaftlich basierten Kriterien beruht, die längerfristig gleichbleibend angewandt werden. Optimalerweise sollten Unterschiede sowohl innerhalb bestimmter Lebensmittelkategorien als auch übergreifend sichtbar werden.“

Die EU-Kommission hatte angekündigt, Anfang 2023 einen Legislativvorschlag für eine EU-weit einheitliche und verbindliche erweiterte Nährwertkennzeichnung vorzulegen. Doch der lässt auf sich warten. Es ist auch noch kein Termin dafür anberaumt. Hinzu kommt: Mit dem Nutri-Score konkurrieren weitere Kennzeichnungssysteme anderer Mitgliedsstaaten, wie beispielsweise das Schlüssellochmodell (Keyhole-Modell) in Schweden. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) setzt sich zwar für den Nutri-Score als EU-weites Modell ein, ob die EU-Kommission diese Variante favorisiert, ist jedoch nicht klar. Es ist also noch völlig offen, welches Modell sich durchsetzen wird – sofern man sich überhaupt einigen kann. Massiver Gegenwind kommt vor allem aus Italien. Hier befürchtet man, dass landestypische Produkte wie Gorgonzola durch den Nutri-Score zu schlecht wegkommen. Ohne eine Einigung auf EU-Ebene wird es bei dem Nutri-Score auf freiwilliger Basis bleiben.

Mehr Transparenz schaffen
Auch wenn der Bekanntheitsgrad des Nutri-Scores schon recht hoch ist, heißt das noch lange nicht, dass die Verbraucher ihn auch verstanden haben und danach einkaufen. Aufklärungsarbeit auf allen (Social-Media-)Kanälen ist deshalb weiter wichtig. Stefan Grubendorfer schlägt vor: „Der Nutri-Score sollte auch Thema in der kaufmännischen Ausbildung im LEH sein.“

Übrigens: Die Nutzung des Modells durch die Unternehmen soll von unabhängiger Stelle (RAL) überwacht werden, um für mehr Transparenz zu sorgen.
Immerhin – nach zweieinhalb Jahren!

3 Fragen anCarolin Krieger. Sie ist Referentin für Ernährungspolitik beim Verbraucherzentrale Bundesverband e. V.
Carolin Krieger
Wie bewerten Sie die Änderungen des Algorithmus?
Carolin Krieger: Gut ist, dass zukünftig etwa der Zucker- und Salzgehalt strenger bewertet werden. Dadurch werden Lebensmittel wie TK-Pizza, Frühstückscerealien oder süße Backwaren seltener eine grüne Bewertung bekommen. Auch werden Fette und Öle mit einem geringen Anteil an gesättigten Fettsäuren besser abschneiden.
 
Ist der Nutri-Score für die Verbraucher verständlich genug?
Da es ein relativ neues System ist, müssen Verbraucher über den Nutri-Score aufgeklärt werden und auch darüber, dass er nur zum Vergleich innerhalb einer Produktgruppe dient. So können verschiedene Joghurts miteinander verglichen werden, aber nicht Joghurt mit Pizza. Informationskampagnen sollten Anwendung und Nutzen des Nutri-Scores verbraucherfreundlich erklären. Auch eine ausgewogene, gesunde Ernährung ist zu beachten.

Warum beteiligen sich nicht mehr Hersteller am Nutri-Score?
Es liegt nahe, anzunehmen, dass ihre Produkte eher ungünstig abschneiden. Ein Marktcheck der Verbraucherzentralen zeigte, dass lediglich 40 Prozent der untersuchten Produkte den Nutri-Score tragen. Das ist natürlich zu wenig. Deshalb muss er auf EU-Ebene verpflichtend eingeführt werden, damit die Verbraucher umfassende Vergleichsmöglichkeiten haben.

Die Änderungen des Algorithmus sind in dieser Tabelle übersichtlich dargestellt: Änderungen_Nutri_Score_Tabelle.pdf