Milchmarkt Der Wind hat sich gedreht

Corona, Krieg und Inflation verändern das Einkaufsverhalten. Auch am Molkereiregal. Es wird weniger gekauft. Und immer häufiger landen günstige Handelsmarken in den Einkaufswagen. Der Milchmarkt verschiebt sich.

Freitag, 09. September 2022, 14:08 Uhr
Dr. Friederike Stahmann
Artikelbild Der Wind hat sich gedreht
Bildquelle: Mirco Moskopp

Milch ist nicht gleich Milch. Das haben wir in den letzten Jahren gelernt. Am Mopro-Regal zeigt sich, was möglich ist: Weide-, Tierwohl-, Heu-, Bio-, Ur-, Alpen- und Landmilch. Facettenreich. Je nach Herkunft. Milch hat längst das Image des anonymen Massenproduktes abgelegt. In der weißen Linie galt Differenzierung als das Zauberwort für Wertschöpfung. Jedenfalls in den letzten Jahren. Und wer etwas Besonderes will, muss dafür ein bisschen tiefer – oder auch viel tiefer – in den Geldbeutel greifen. Die Schere zwischen Preiseinstieg und Markensegment stieg enorm. So kostete im Januar dieses Jahres ein Liter Trinkmilch mit 3,5 Prozent Fett der Aldi-Eigenmarke 80 Cent. Für einen Liter Jersey-Weidemilch musste man mehr als das Dreifache berappen. Trotzdem fanden auch solche Milchsorten ihre Käufer. Experten meinten damals – und dieses damals ist erst gut ein halbes Jahr her –, dass das Potenzial solcher Markenmilchsorten – besonders wenn sie ein gewisses „Extra“ böten – enorm sei. Doch ganz abrupt hat sich der Wind gedreht. Nicht die Corona-Pandemie mit Gastronomie- und Kantinenschließungen war es, die den Molkereimarkt durcheinanderbrachte, sondern deren wirtschaftliche Spätfolgen. Der Zusammenbruch von Lieferketten. Es fehlen bis zum heutigen Tag Rohstoffe und Verpackungsmaterialien.

„Die explosionsartig gestiegenen Kosten in den Bereichen Energie, Frucht, Milch, Zucker, Verpackungen und so weiter konnten nur mit Zeitverzug und nicht in vollem Umfang an den Handel weitergegeben werden“, sagt Susanne Bagaméry, Head of Product Management bei Ehrmann. Wenn auch nicht komplett, so konnten die Molkereien im laufenden Jahr doch schon mehrmals Preisanhebungen im Handel durchsetzen. Was sich schon zu Corona-Zeiten abzeichnete, wurde seit Beginn des Jahres 2022 für Verbraucher sichtbar: flächendeckende Preissteigerungen am PoS. Mit der Konsequenz, dass es beispielsweise Milch unter einem Euro nicht mehr gibt. Seit Juli kostet der Liter Vollmilch im Preiseinstiegssortiment 1,09 Euro. Aber nicht nur Milch ist teurer geworden. Auch bei Quarkprodukten zogen die Preise an. Speisequark mit 40 Prozent Fettanteil und Quarkcreme mit Frucht schnellten von 99 Cent auf 1,49 Euro.

Mit über viele Warengruppen hinweg steigenden Preisen stieg und steigt auch die Inflationsrate. Auf satte 7,6 Prozent im Juni. Dazu beigetragen haben überproportional auch die Ausgaben für Milch und Milchprodukte im Lebensmitteleinzelhandel. Laut NielsenIQ sind die im Vergleich zum Vorjahresmonat im Mittel um 19,1 Prozent gestiegen. Dabei war die Teuerungsrate für Magerquark mit 62 Prozent am höchsten.

Verbraucher sparen merklich
Wen wundert’s, wenn da bei Verbrauchern die zentrale Frage lautet: „Wie viel Geld kann ich im Monat ausgeben, und wo will und muss ich sparen?“ Laut einer aktuellen GfK-Studie machen sich 86 Prozent der Menschen Sorgen um Preissteigerungen bei Gütern des täglichen Bedarfs. 50 Prozent wollen ihr Konsumverhalten umstellen.
Das bedeutet konkret: sparen. Dabei wird häufig beim privaten Konsum zu Hause der Gürtel enger geschnallt. Das geschieht derzeit auf zwei Ebenen. So versuchen Menschen durch Konsum- und Ausgabenzurückhaltung beim Einkauf harte Preissteigerungen im Lebensmittelhandel zu kompensieren. Das funktioniert zum einen dadurch, dass weniger Milchprodukte gekauft werden. Erstaunlich, wo Milch und Milchprodukte doch zu den Grundnahrungsmitteln zählen. Geht aber scheinbar doch. So sank, laut Nielsen IQ, im ersten Halbjahr 2022 die private, mengenmäßige Nachfrage nach Trinkmilch um rund 10 Prozent, nach Quark um 8 Prozent, nach Joghurt um 5 Prozent und nach Sahne um 9 Prozent.

Zum anderen wird preisbewusster eingekauft. Oliver Bartelt, Global Head of Corporate Communications beim Deutschen Milchkontor, dazu: „Die galoppierende Inflation in Richtung 10 Prozent lässt Kunden wieder vermehrt zu den günstigeren Produkten, also den Basissortimenten, greifen.“ Dass das so ist, bemerken auch die Lebensmittelhändler beim Einkaufsverhalten ihrer Kunden. „Aufgrund der großen Inflation sehen wir zudem, dass Verbraucher insgesamt preissensibler werden“, bestätigt Aldi-Süd-Pressesprecherin Berit Kunze-Hullmann gegenüber der Lebensmittelpraxis. Und auch die Herstellerseite spürt die erhöhte Nachfrage nach Preiseinstiegsware: „Bei den Produkten der weißen Linie zeigen sich insbesondere bei den Eigenmarken stark steigende Bedarfe vor dem Hintergrund der weiteren Inflationserwartung. Die Absätze entwickeln sich entsprechend, und der Handel meldet uns hier auch für die nahe Zukunft höhere Bedarfe“, so Oliver Bartelt.

Auf der Seite der Guten
Der Griff zu Eigenmarken kommt nicht von ungefähr. Nach Bio und Regionalität heißt der neue Trend: preisbewusst. Und, autsch, der kann wehtun. Jedenfalls Markenproduzenten. Beim Durchblättern des Wochenprospekts von Aldi in den letzten Tagen wird dem Geschäftsführer der ein oder anderen Markenmolkerei mehr als nur ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen sein. Plakativ werden dort „exklusive“ Eigenmarken des Discounters Herstellermarken gegenübergestellt. Nicht irgendwelche Herstellermarken bei irgendwelchen Konkurrenzhändlern – weit gefehlt. Es handelt sich unisono um Markenprodukte aus den Regalen des Harddiscounters selbst. Ganz schön tricky.

Und natürlich findet man in der Auflistung, bestehend aus mehreren Produkten, auch Molkereiprodukte, beispielsweise Joghurt. „Almighurt“ von Ehrmann mit seinem Verkaufspreis von 79 Cent konkurriert auf dieser Seite mit der Aldi-Eigenmarke mit dem zum Verwechseln ähnlichen Namen „Alpighurt“ aus der Produktion eines anderen bayerischen Herstellers zum Preis von nur 29 Cent.

Das Fazit des Warenkorbvergleichs: Beim Einkauf von Eigenmarken gegenüber gelisteten Herstellermarken lassen sich satte 49 Prozent sparen, ist zu lesen. Und das auch noch, ohne an der Qualität sparen zu müssen, so Aldi und weist in der Anzeige auf seinen ersten Platz beim Kundenmonitor 2021 hin. Qualität zu günstigen Preisen – wie das funktioniert, erklärt Aldi auf Nachfrage der LP so: „Unsere Eigenmarken […] enthalten keine unnötigen Kosten.“

Klingt gut und kommt an. Mit der Folge, dass der Marktanteil von Herstellermarken seit Monaten sinkt. Ein klarer Fall, so GfK-Marktexperte Robert Kecskes, eines weiter fortschreitenden Trading-down-Effekts, der Handelsmarken gewinnen und Herstellermarken verlieren lässt. Die Menschen versuchen, Preissteigerungen auf Produktebene durch kreatives Ausweichen auf den Preiseinstieg zu kompensieren.

Das funktionierte in den ersten Monaten 2022 noch ganz gut. Aber seit Mitte des Jahres steigen die Umsätze des Lebensmitteleinzelhandels trotz Kaufzurückhaltung und Trading-down wieder. Unter anderem deshalb, weil auch bei den Preiseinstiegsmarken an der Preisschraube gedreht wurde. Demzufolge können Haushalte trotz Trading-down von einer Hersteller- zu einer Handelsmarke weniger Geld sparen, als das früher der Fall war, so Experte Robert Kecskes.

Zwischen Februar 2021 und Februar 2022 stiegen die durchschnittlich bezahlten Preise für Markenbutter um 8 Prozent, die für Handelsmarken-Butter sogar um knapp 21 Prozent. Und noch ein ganz aktuelles Beispiel gefällig? Derzeit werden bei Aldi Nord Andechser Bio-Almbutter und die Berchtesgadener Bio-Alpenbutter für 2,99 Euro je 250 Gramm angeboten. Für Biobutter im Preiseinstiegssortiment sind „nur“ 3,29 Euro je 250 Gramm zu zahlen. „Das ist in der Tat ein Paradoxon: Die ehemalige Billigbutter ‚bio‘ teurer als Bio-Markenbutter!“, findet Dr. Hans-Jürgen Seufferlein, Geschäftsführer des Verbandes der Milcherzeuger Bayerns.

Die Stimmung sinkt
Kein Wunder also, wenn die Hersteller flächendeckend „not amused“ sind. Die Stimmung unter den deutschen Milch verarbeitenden Unternehmen hat sich deutlich abgekühlt, wie das ifo-Institut analysiert hat. So ist der Geschäftsklimaindex im Juli auf minus 23 Punkte gefallen, nach minus 1,7 Punkten im Juni. Die Unternehmen erwarteten in den kommenden Monaten erheblich schlechtere Geschäfte, so die Analysten. Zudem seien die Molkereien weniger zufrieden mit ihrer aktuellen Geschäftslage. Für Ehrmann bestätigt das auch Susanne Bagaméry: „Nach der letzten Preiserhöhung im Juni verzeichnen wir einen Absatzrückgang über alle Produktgruppen.“

Marktanteile gehen also flöten. Was tun? Die Berchtesgadener Molkerei hat sich beispielsweise entschieden, nicht alle Mehrkosten, die aufseiten der Landwirtschaft und der Molkerei entstehen, auf die Kundschaft umzulegen. „Uns ist es ein Anliegen, dass Kunden, die seit Jahrzehnten unsere Produkte kaufen, dies auch weiterhin tun können. Viele greifen aufgrund unserer Werte wie Fairness und Nachhaltigkeit zu unseren Produkten und haben dafür auch mehr Geld in die Hand genommen. Wir möchten nicht, dass Stammkundschaft nun aus rein finanziellen Gründen darauf verzichten muss. Fairness gilt für uns auch gegenüber unserer Kundschaft“, erklärte der Geschäftsführer Bernhard Pointner daher schon Ende April. De facto steht daher bei Kaufland die frische Milch aus dem Voralpengebiet für 1,39 Euro in der Mehrwegflasche im Mopro-Kühlschrank.

Andere Molkereien versuchen mit Sonderangeboten Land zurückzugewinnen. Und zwar im großen Stil. So lag über alle Marken (also nicht nur im Mopro-Bereich) der Anteil der Umsätze durch Promotionsangebote im ersten Halbjahr bei 26 Prozent. Und damit um 14 Prozent höher als noch vor einem Jahr. In Zahlen gefasst heißt diese neue Preissensibilität laut GfK-Consumer-Index: Verlierer sind Molkereimarken, die deutlich an Umsätzen (im rollierenden Jahr Juni 2021 bis Juni 2022: minus 7 Prozent) einbüßen, Gewinner sind die Handelsmarken (rollierendes Jahr Juni 2021 bis Juni 2022: plus 5,3 Prozent).

Bio: Weiße Linie verliert
Und was ist aus den gehypten Bio- und Weidemilchprodukten als Garant für Markt und Marge geworden (s. S. 10)? Vorab: Alle Teilbereiche des weißen Sortiments lassen im Vergleich Juni 2022 zu Juni 2021 Federn – mit einer kleinen Ausnahme: den Trockenmilcherzeugnissen. Laut Bundesinformationszentrum Landwirtschaft sind es aber vor allem Bioprodukte der weißen Linie, die Verluste von über 17 Prozent in der Erzeugung hinnehmen müssen.

Doch nicht nur mengenmäßig fällt die Bilanz negativ aus. Auch die Umsätze bleiben laut GfK im ersten Halbjahr 2022 hinter denen des Vorjahreszeitraumes zurück. Als Grund nennen die Marktforscher einen zweistelligen Rückgang bei den Marken. Gleichzeitig hätten die Bio-Handelsmarken weiter ihre Reichweiten ausweiten können und erzielten sogar ein Umsatzplus.

Nachhaltigkeit bleibt beim Einkauf von Lebensmitteln wichtig, verlagert sich jedoch von der Hersteller- zur Handelsmarke. „Die Eigenmarken der Händler werden in der heutigen Zeit […] zusehends zu Halt gebenden Sozialmarken, die helfen, die wertbezogenen Konsumbedürfnisse der finanziellen Situation beziehungsweise den finanziellen Erwartungen nicht vollkommen opfern zu müssen“, so Marktexperte Kecskes.

Es gibt noch Gewinner
Ganz anders als Biomilch kann dagegen Weidemilch auch in den derzeitig schwierigen Zeiten punkten. In allen Monaten des ersten Halbjahrs – bis auf den April – konnte die private Nachfrage gesteigert werden. Das Plus beläuft sich auf 2,1 Prozent. Beim Umsatz sind es sogar 7,6 Prozent. Ebenso erstaunlich ist es, dass die pflanzlichen Trinkalternativen nicht unter der Verunsicherung der Kunden leiden. Auch sie verbuchen ein Plus. Im Halbjahresvergleich 2022 zu 2021 stehen hier 8 Prozent mehr an Menge. Das Umsatzplus liegt bei 4,8 Prozent, was wiederum auf eine Verschiebung hin zum Preiseinstieg auch in diesem Sortimentsbereich zurückzuführen ist.
Der Blick in die Zukunft gleicht einem in die Glaskugel. „Wir tun alles dafür, um unsere Lieferketten bestmöglich zu sichern und bei allem Umbruch mit Augenmaß Entscheidungen zu treffen, die uns verlässlich durch diese Zeit bringen“, versichert Oliver Bartelt für Deutschlands größten Milchverarbeiter. „Denn neben ‚kalten Wohnzimmern‘ wären auch ‚leere Kühlschränke‘ ein Szenario, dass es zu vermeiden gilt“, fügt er an. Dass auf die Haushalte höhere Kosten zukommen werden, steht auch für Karl Laible, den Geschäftsführer der Milchwerke Schwaben, außer Frage. „Die Konsumenten sind derzeit noch im Urlaub und genießen ihre Zeit. Interessant wird dann sein, wie danach reagiert wird.“