Annemarie Leniger „Stellen nachbesetzen dauert länger“

Was tun gegen Fachkräftemangel? Die Ostfriesische Tee Gesellschaft setzt auf eine Lebenspartnerschaft mit ihren Mitarbeitern. Dazu gehört auch das Thema Kinderkriegen. Elternzeit, Teilzeit, mobiles Arbeiten und vor Ort auch noch einen separaten Raum zum Stillen? Wer langfristig als Unternehmen funktionieren will, muss sich den Bedürfnissen der Mitarbeiter anpassen, ist sich Annemarie Leniger, Geschäftsführerin der Ostfriesischen Tee Gesellschaft (OTG) sicher. Ein Gespräch über Hindernisse und darüber, wie sie überwunden werden können.

Freitag, 15. Juli 2022, 11:01 Uhr
Katja Seger
Artikelbild „Stellen nachbesetzen dauert länger“
Bildquelle: Ostfriesische Tee Gesellschaft

Eltern werden und trotzdem weiter Karriere machen: Das gilt immer noch als fast unmöglich. Wie sieht das bei der Ostfriesischen Tee Gesellschaft aus?
Wir stellen Menschen nach Qualifikation ein. Mit jeder jungen Frau weiß ich, dass es passieren kann, dass sie Mutter wird. Und bei einem Mann kann es passieren, dass er Vater wird und eben auch Elternzeit nimmt. Da wir nie eine Stelle nach Geschlecht besetzt haben, ist das bei der OTG kein Problem. Im Gegenteil: Es ist wichtig, dass auch die Väter Verantwortung für ihre Kinder übernehmen.

Statistisch übernehmen immer noch zu über 90 Prozent die Mütter den Großteil der Elternzeit.
Auch bei der OTG sind es mehr Frauen als Männer, die Elternzeit nehmen. Etwa zwei Drittel Frauen, ein Drittel Männer. Je jünger die Eltern sind, desto offener sind sie dem gegenüber. Was aber fast noch wichtiger ist: Es gibt keine unqualifizierten Kommentare mehr. Viele sagen auch, dass sie froh gewesen wären, wenn sie diese Möglichkeit mit den eigenen Kindern gehabt hätten.

Dann läuft es hier bei der OTG anders als in vielen anderen Unternehmen. Denn immer mehr Väter beschreiben, dass sie, wenn sie Verantwortung für die Kinder übernehmen, Benachteiligung auf der Arbeit erfahren.
Jüngst ist eine männliche Führungskraft, die erst wenige Monate vorher bei uns angefangen, in Elternzeit gegangen. Und ich muss zugeben, dass ich erstmal dachte: „Huch!“ Aber dann war es so und hat funktioniert. Wir haben männliche Führungskräfte, die in Elternzeit gehen.

Wie haben die Kollegen reagiert?
Ja, die Mitarbeiterinnen in der Abteilung waren skeptisch. Ich konnte da nur entgegnen: Der Kollege macht gerade das, was ihr euch von euren Männern gewünscht habt.

Hat die Karriere jetzt einen Knick?
Man wird bei der OTG nicht für Anwesenheit bezahlt. Karriere macht man mit Ideen. Weder Frauen noch Männer geben ihr Gehirn im Kreissaal ab!

Sie sind selbst Mutter und haben Karriere gemacht. Macht Sie das zum Vorbild?
Das weiß ich nicht. Ich weiß aber schon, dass das, was ich tue, beobachtet wird. Als meine Tochter kam, haben viele gefragt, ob ich kürzertrete. Meine Antwort war klar: „Nö, wieso?“ Ich wollte immer zeigen: Es geht! Wenn meine Tochter einen wichtigen Termin hat, dann habe ich den wahrgenommen. Und ich beantworte die Mail dann nicht, während ich mit meiner Tochter beim Arzt sitze, sondern eben danach.

Aber ist es wirklich so einfach? Wenn Mütter nach dem Mutterschutz oder der Elternzeit wieder arbeiten wollen, gibt es einige Hürden, die es bei Vätern nicht gibt. Zum Beispiel, wenn die Mutter trotzdem stillen möchte.
Wir finden eigentlich immer eine individuelle Lösung. Ich frage wirklich ganz offen: „Wie hättest du es denn gerne?“ Für das Stillen gibt es auch einen separaten Raum in Seevetal. Der wird auch genutzt! In einem konkreten Fall bringt der Vater, der gerade in Elternzeit ist, das Baby ins Unternehmen, damit die Mutter es dann vor Ort stillen kann.

Warum setzen Sie in diesem Fall nicht auf Mobiles Arbeiten?
Weil die Mutter es nicht wollte. Nochmal: Man wird bei der OTG nicht für Anwesenheit bezahlt. Doch Mobiles Arbeiten birgt auch Gefahren. Der Tag wird so oft noch länger. Das beobachte ich generell: Je mehr Flexibilität wir unseren Mitarbeitenden anbieten, desto wichtiger ist es, sie auch vor sich selbst zu schützen. Es wird tendenziell sehr viel mehr gearbeitet Mobiles Arbeiten ist bei uns möglich. Und auch, wenn das jetzt nach Wunschkonzert klingt, das ist es natürlich nicht. Es kommt auf sehr viele Dinge an: die Abteilung, das Team, die Aufgaben. In der Regel passt das aber. Uns ist es lieber Mitarbeiter zu halten, auch weil es in der Regel länger dauert, Stellen nachzubesetzen, als die Stunden später wieder aufzustocken.

Fehlen die Fachkräfte dazu?
Ja, wir haben Fachkräftemangel! Vieles können wir dadurch ausgleichen, dass wir ein Familienunternehmen sind. Und dadurch, dass wir mit Tee ein sehr positives Produkt vermarkten.

Natürlich sind wir Arbeitgeber. Aber wir wollen mehr in eine Lebenspartnerschaft mit unseren Mitarbeitenden eintreten. Wir investieren deshalb massiv in Schulungen für Führungskräfte und Mitarbeitende. Wir haben eine sehr gute Kantine. Es gibt Sportangebote. Die Büros sind schön und neu.

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat Anfang des Jahres eine Studie zum Thema Homeoffice veröffentlicht, die zeigt wie beliebt das Arbeiten zu Hause ist. Ist die Investition in Büros da nicht etwas aus der Zeit gefallen?
Ein passender Arbeitsplatz bleibt elementar. Wir haben ein Atelier gebaut, um dort nicht nur Produktentwicklung, sondern auch Projektarbeit zu fördern. Viele Arbeitsplätze werden geteilt. Auch weil viele von zuhause arbeiten. Niemand muss mehr in seiner Abteilung sitzen. Und auch nicht immer an der gleichen Stelle. Aber klar: Wenn ich in der Buchhaltung bin, brauche ich mehr Ruhe als im Marketing.

Zahlen sich die Investitionen aus?
Wir konnten letztes Jahr 33 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (davon 8 Azubis, Praktikanten und Werksstudenten) einstellen. Es sind auch so viele neue Mitarbeitende, da immer mehr Menschen in Teilzeit arbeiten möchten! Und das sind nicht immer nur Mütter. Im Gegenteil: Die Gründe sind vielfältig.

Gibt es dadurch nicht Zeitverluste durch lange Übergaben?
Wenn die Mitarbeitenden klare Aufgabenbereiche haben, klappt das. Wir haben die Strukturen angepasst. Vertretungsregelungen sind komplizierter. Aber es wird eben mehr in Projekten gearbeitet. Hierarchien mussten wir an vielen Stellen aufgeben. Wir müssen uns verändern! Es geht darum, langfristig als Unternehmen zu funktionieren. Und das geht eben nur, wenn wir uns den Bedürfnissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anpassen. Ob mir das gefällt, oder nicht.

Gefällt Ihnen die neue Arbeitsweise also nicht?
Doch, mir gefällt sie! Ich wollte immer Verantwortung übernehmen und meine Arbeit so erledigen, wie es für mich und das Unternehmen passt. Das ist eine wichtige Sache: Ich kann von meinen Mitarbeitern nicht flexible Arbeit einfordern, ohne es selbst ebenso zu handhaben.

Eine aktuelle Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt: Bei Frauen ab 40 Jahren schließt sich die Gender-Pay-Gap nicht. In den vergangenen drei Jahrzenten lag der Gehaltsunterschied unverändert bei mehr als 20 Prozent. Die Forscher glauben, dass der Unterschied durch Arbeitspausen für die Kindererziehung und Teilzeit erklärt werden kann. Gibt es bei der OTG auch einen Gehaltsunterschied dieser Größenordnung?
Wir haben uns die Gehälter in den vergangenen Jahren intensiv angeschaut und deutlich nachgebessert. Bei uns gibt es keine Gender-Pay-Gap. Wenn es um die Bezahlung geht, schauen wir auf den Job und die Leistung, die jemand erbringt – nicht auf das Geschlecht. Gesamtwirtschaftlich betrachtet gibt es noch Gehaltsunterschiede, die häufig erst enden, sobald man in die Führungsebene kommt. Der Unterschied liegt aber auch darin begründet, dass Männer oft in besser bezahlten Bereichen arbeiten. Das lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Aber schauen Sie sich an, wer an der Uni Aachen einen Bachelor in Ingenieurwesen macht. Bisher sind es noch hauptsächlich Männer. Warum auch immer.

Könnte hier Gendern helfen?
Die Sprache verändert das eigentliche Problem kurzfristig nicht, denke ich. Aber es gibt Punkte, in denen man mit Sprache besser umgehen sollte, um niemanden auszuschließen oder zu diskriminieren. Dies betrifft übrigens nicht nur das Geschlecht. Wir können als Gesellschaft auch noch besser darin werden, verständlich und barrierefrei zu kommunizieren, sodass uns überhaupt alle verstehen können. Was mir in dieser Diskussion fehlt, ist Toleranz. Geht es wirklich nur so oder so? Sprache ist individuell und so muss auch jedes Unternehmen mit seiner individuellen Kultur seinen eigenen Weg finden, um sensibel zu kommunizieren. Das ist ein Prozess, der Zeit benötigt. Wichtig ist das Bemühen jedes Einzelnen.

Was könnte gegen die Gender-Pay-Gap helfen?
Wir brauchen eine Frauenquote, keine Frage. Wir brauchen aber auch die Möglichkeit genug Frauen entsprechend auszubilden und zu fördern. Frauen müssen auch lernen, besser zu verhandeln. Ich habe den ganzen Tag Männer vor mir stehen, die sagen: Ich will das, ich will dies. Frauen müssen sagen, was sie wollen. Da führt kein Weg dran vorbei.

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hat für Eltern bezahlten Urlaub direkt nach der Geburt eines Kindes angekündigt. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß?
Ich finde die Sache prinzipiell gut. Aber: Was ist die Aufgabe eines Staates, was die Aufgabe eines Unternehmens? Die Arbeit muss ja erledigt werden. Wir haben etwa 20 Väter im Jahr, die dann statt 30 Tage im Jahr 40 Tage Urlaub haben. 200 Tage, 1.600 Stunden, die dann irgendwie ausgeglichen werden müssen.

Laut einer Statista-Befragung lag die durchschnittliche Jahresarbeitszeit von Vollzeiterwerbstätigen in Deutschland im Jahr 2021 bei rund 1.602,5 Stunden.
Aber es gibt ja nicht eine Person, die alles in allen Abteilungen abfangen kann!

Die bezahlte Elternzeit für Paare soll verlängert werden. Und auch pflegende Angehörige könnten künftig eine bezahlte berufliche Auszeit bekommen. Ist das zu viel verlangt von den Arbeitgebern?
Wir werden eine Lösung finden. Flexibles Arbeiten ist bei uns für alle möglich. Ich bewerte die Motivation der Mitarbeitenden, die beispielsweise ihre Stunden reduzieren möchten, nicht.  

Bilder zum Artikel

Bild öffnen