Branchenwechsel Attraktive Alternative

Des einen Freud, des anderen Leid? Das Gastgewerbe stöhnt nicht nur unter dem Lockdown, sondern auch unter immer mehr Abwanderungen von Mitarbeitern in Richtung Lebensmitteleinzelhandel.

Mittwoch, 09. Juni 2021 - Management
Thomas Klaus
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An der Kasse des Edeka-Centers Lehrke in Nordenham im Landkreis Wesermarsch sitzt jemand, der hofft, schnellstmöglich wieder kündigen zu können: René Kittel betreibt „eigentlich“ das Bistro-Restaurant Brasserie am Marktplatz. Aber weil das Lokal coronabedingt seit Anfang November für Gäste geschlossen hat, suchte sich der gelernte Hotelfachmann einen Job im Lebensmitteleinzelhandel. „Natürlich hatte das finanzielle Gründe“, sagt Kittel. „Aber ich wollte auch nicht noch länger tatenlos zu Hause herumsitzen.“
Das Betriebsklima im Edeka-Center ist gut; der Kundenkontakt macht Spaß. Und dennoch freut sich der 37-Jährige bereits jetzt auf die Zeit, in der er die Brasserie wieder aufsperren darf.

Ausgebildete Servicekräfte sind sehr flexibel
So wie René Kittel ergeht es zurzeit vielen Beschäftigten des Gastgewerbes: Sie wechseln die Branche. Neben dem Gesundheitswesen sowie Paket- und Zustelldiensten lockt vor allem der Lebensmitteleinzelhandel. Der Unterschied zu dem Nordenhamer Wirt: Zahlreiche vormalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Gastronomie und Hotellerie werden voraussichtlich nicht in ihre alte Branche zurückkehren.

Diese Sorge treibt zurzeit Unternehmer und Interessenvertreter der Gastro-Branche um. Fest steht: In Deutschland suchen 60 Prozent der Beschäftigten aus Gastgewerbe und Touristik einen neuen Job. Oder sie ziehen das zumindest ernsthaft in Erwägung. Das ergab im Mai des vergangenen Jahres eine Befragung im Auftrag des Onlinestellenbörsenbetreibers Yourcareer Group. Es kann angenommen werden, dass die Wechsellaune angesichts langer Lockdown-Phasen seitdem noch größer geworden ist.
In einem hohen Maße „willig“ sind die Restaurantfachleute und Servicekräfte. Das sagt jemand, der es wissen muss: Andrea Nadles ist Präsidentin des Verbandes der Servierfachkräfte, Restaurant- und Hotelmeister e. V. (VSR). Die VSR-Chefin weist darauf hin, dass ausgebildete Servicekräfte sehr flexibel seien und in vielen Bereichen der Wirtschaft eingesetzt werden könnten. Natürlich erst recht im Lebensmitteleinzelhandel.

„Häufig wechseln ausgerechnet diejenigen Mitarbeiter, die man gerne gehalten hätte.“

Rolf Häußler, Bundesverband der Kantinenpächter

Häufig wechseln die Besten
Für die Zukunft in einer anderen Branche hätten Restaurantfachleute und Servicekräfte erst recht ein offenes Ohr, seit – auch ohne Corona – das Trinkgeld schwinde: „Eine wichtige Erklärung dafür ist der Boom bei den Kartenzahlungen.“

Andere hochrangige Gastro-Akteure stimmen Andrea Nadles zu und bestätigen die Wechsellaune. So meint Rolf Häußler, Vorsitzender des Bundesverbandes der Kantinenpächter: „Angesichts des niedrigen Einkommens in der Gastronomie, des Trinkgelder-Wegfalls und der Abhängigkeit vom Kurzarbeitergeld sind viele Beschäftigte regelrecht genötigt, sich nach neuen Arbeitsstätten umzusehen – und da ist der LEH oft erste Wahl.“ Die besonders bittere Pille aus Sicht des Gastgewerbes: „Häufig wechseln ausgerechnet diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die man unter allen Umständen gerne gehalten hätte.“

Abwanderungen werden keine Momentaufnahme sein, sondern zum Dauerproblem für das Gastgewerbe. Dessen ist sich Georg W. Broich sicher. Der Grund sei simpel. „Gerade der Einzelhandel bietet eine attraktive Alternative zur Gastronomie“, formuliert der Präsident der Leading Event Caterer Association. In derLECA haben sich führende Eventcaterer des Landes zusammengeschlossen.

„Die Notsituation brutal instrumentalisiert“
Dass insbesondere Discounter in Corona-Zeiten offensiver als früher um Personal mit Gastro-Biografie werben, kommt nicht überall gut an. Sarah Dönnebrink vom Vorstand der Hospitality Sales & Marketing Association spricht von „teilweise sehr frechen Recruiting-Kampagnen“ – und meint das nicht anerkennend.

Deutlich schärfere Töne wählt Geschäftsführerin Sandra Warden vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband. Sie schimpft, dass „teils in sehr egoistischer, geradezu brutaler Weise die Notsituation des Gastgewerbes instrumentalisiert“ werde und „gut qualifizierte Mitarbeiter gezielt angesprochen“ würden.

Als Negativbeispiel gilt eine Lidl-Kampagne unter dem Motto „Bar war gestern“. Die wurde allerdings kurz nach dem Start im November wieder eingestampft. Zu groß war der Shit-storm in den sozialen Medien. „Unsensibler geht es nicht“, kommentierte etwa die Initiative Leere Stühle. Und Oliver Fudickar, Präsident der Food and Beverage Management Association, beklagte eine „unglaubliche Frechheit in einer Zeit, in der wir zusammenstehen sollten“.

Kooperation statt Konfrontation?
In Gastro-Kreisen ist also gegenwärtig nicht jeder Entscheidungsträger auf den Lebensmitteleinzelhandel gut zu sprechen. Konfrontation liegt in der Luft. Doch die muss nicht unbedingt sein. Es gibt auch andere Signale.

Personalpartnerschaften, bei denen Gastronomen und Hoteliers ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Beispiel an den LEH „verleihen“, sind eine Variante, die das Gastgewerbe und den Lebensmitteleinzelhandel wieder zusammenführen könnten.

Damit Kooperation statt Konfrontation gelingt, sind vermutlich Gastro-Unternehmer wie Bernhard Reiser aus Würzburg gefragt. Der Sternekoch und Ernährungscoach der deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft hat einen intensiven Austausch seiner Teammitglieder mit dem Lebensmitteleinzelhandel organisiert: „Die werden turnusmäßig aus der Kurzarbeit geholt, um sie nicht abrutschen zu lassen.“