Personalmanagement Tabus mindern Produktivität

Dr. Natalie Lotzmann (Foto), Global Vice President People & Operations und Chief Medical Officer bei SAP, will das Thema Wechseljahre aus der Tabuzone holen. Warum es für Wirtschaftsunternehmen wichtig ist, Frauen in dieser Phase zu unterstützen, erklärt sie im Interview mit der Lebensmittel Praxis.

Donnerstag, 06. April 2023 - Management
Bettina Röttig

Frau Dr. Lotzmann, Sie thematisieren die Herausforderung von Wechseljahresbeschwerden am Arbeitsplatz im Unternehmen SAP und darüber hinaus. Was motiviert Sie dazu?
Dr. Natalie Lotzmann:
Ich möchte zur Entstigmatisierung des Themas Menopause beitragen und fühle mich in meiner Rolle dazu berufen, Frauen im Beruf und ihre Arbeitgeber zu ermutigen über das Thema zu sprechen. Die Zeit ist reif, das Thema aus der Tabuzone zu holen.

Warum gerade jetzt?
Wir profitieren von einer Bewegung aus England, wo das Thema mit einem Paukenschlag nach vorne gebracht wurde. Ein Wirtschaftsexperte hatte vor 4 bis 5 Jahren Jahren in einem Interview den schlechten Zustand der britischen Wirtschaft mit dem Begriff „menopausal“ beschrieben [Anmerkung der Redaktion: Bank of England Deputy Governor Ben Broadbent hatte die Bemerkung 2018 in einem Interview mit dem Telegraph geäußert]. Auf seine Äußerung folgte ein regelrechter Aufschrei. Ich habe dies als etwas Großartiges erlebt und würde diesem Menschen gerne ein Denkmal setzen – nicht aus Ironie – denn die Bemerkung war zwar gedankenlos, aber wahrscheinlich nicht boshaft gemeint. Unbeabsichtigt hat es dieser Mann geschafft, das Thema auf die Agenda von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu befördern. Damit verdanken wir ihm viel.

Hierzulande fehlt dieser große Anstoß. Bewegt sich dennoch etwas?
Das Thema kam seitdem auch hier nach vorne, nicht nur dank dieses Herrn, sondern auch weil nach der großen Gruppe der Babyboomer nun die nächste Generation langsam in das Alter und die Situation kommt und darüber sprechen will.

Warum ist es auch Aufgabe von Wirtschaftsunternehmen, das Thema aus der Tabuzone zu holen?
Die Hälfte der Menschheit sind Frauen und von diesen 50 Prozent werden 100 Prozent in die Menopause kommen. Ein Drittel der Frauen erlebt schwerwiegende Beschwerden, ein Drittel gemäßigte, das letzte Drittel geht recht problembefreit durch diese Phase. Ob sichtbare Beschwerden wie Schwitzattacken oder andere Symptome wie Stimmungsschwankungen, sich verletzlicher zu fühlen, Konzentrationsprobleme, Themen, die sich in der Partnerschaft verändern – diese und viele andere Beschwerden beschäftigen die betroffenen Frauen stark. Wenn ein für das Befinden so relevantes Thema wie die Wechseljahre nicht offen besprochen werden darf, dann führt dieses Tabu auf Unternehmensebene zu Auswirkungen auf die Kultur und die Produktivität. Jemand, der damit beschäftigt ist, seine Symptome zu verstecken, kann eben nicht sein ganzes Potenzial einbringen. Es ist egal, ob man verstecken muss, dass man in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt oder in der Menopause ist, oder auf irgendeine Art nicht zu einer „Norm“ gehört: es fließt zu viel Energie in das Verbergen. Unser Credo ist: Komm so wie du bist, hier kannst du dein ganzes Potenzial einbringen. Durch Informationskampagnen und andere Aktionen können Unternehmen dazu beitragen, dass Tabus fallen.

Studien aus UK zeigen, dass die Menopause die Karriereentwicklung von Frauen negativ beeinflussen kann, dass Frauen aufgrund von Beschwerden ihre Arbeitszeit reduzieren oder gar den Job kündigen. Wie bedeutend ist es für Unternehmen auch hierzulande im Kampf um Fachkräfte, Frauen in dieser Phase zu unterstützen?
Frauen sind in der Regel sehr gut ausgebildet, oft besser als Männer. Frauen haben ein Skillset, das wir in der heutigen Zeit besonders brauchen: Zum Beispiel die Fähigkeit sich zu kümmern und auch über den eigenen Tellerrand hinaus Verantwortung zu übernehmen, viele Aspekte gleichzeitig wahrzunehmen und handhaben zu können, mit emotionaler und sozialer Intelligenz zusammen zu arbeiten. Karriereschritte tun sich oft gerade jenseits der Lebensmitte auf. Gerade zu der Zeit, in der Frauen, die zum Beispiel aus familiären Gründen Teilzeit gearbeitet haben, nun wieder neu durchstarten und all ihr Know-how einbringen könnten, kommt die Menopause quer. Das ist ein großer potenzieller Verlust für Unternehmen an Fähigkeiten und Talenten. Daher ist es wichtig, Frauen zu ermutigen, sich auch jenseits der Lebensmitte einzubringen und Führungsaufgaben zu übernehmen, ihnen eine Perspektive zu bieten. Auch wir Frauen in Führungspositionen müssen mit daran arbeiten, dass sich etwas ändert, indem wir es vorleben und diese Frauen ermutigen und fördern.

Wie nutzen Sie persönlich Ihre Vorbildfunktion als Führungskraft, um etwas zu bewegen?
In meiner Rolle als Leitung Gesundheitswesen habe ich davon berichtet was Frauen allgemein beschäftigt und auch meine eigene Situation beschrieben. Als Ärztin kann ich zusätzlich aufklären, was medizinisch-biologisch rund um die Perimenopause und Wechseljahre passiert. Ich gehe also offen mit dem Thema um. Ich nutze schöne Fächer in verschiedenen Farben sowie einen schicken Ventilator, verstecke diese Hilfsmittel also nicht und versuche vorzuleben, wie man zum Beispiel Hitzewallungen im Arbeitsalltag managen kann. Dabei ist es mir wichtig, mich selbstbewusst, aber flexibel zu verhalten, also je nach Schwere des Anfalls und dem Teilnehmerkreis eines Meetings gegebenenfalls auch den Raum kurzzeitig zu verlassen. Der Zeitgeist wird sich wandeln. Durch den Herrn aus England ist die Zeit nun gekommen, das Thema aus der Tabuecke zu holen.

Wie schwierig war es, in Ihrem Konzern das Thema zu platzieren?
Wir haben bei SAP seit über 25 Jahren eine medizinische und psychologische Beratung etabliert, basierend auf einem großen Vertrauen in der Belegschaft. Individuelle Beratungen, auch zum Thema Menopause haben wir vertraulich schon immer, sowohl vor Ort als auch über Telefon oder später über Video-Konferenzen durchgeführt. Es ist aber auch bei uns erst jetzt möglich, damit nach außen zu gehen, offener darüber zu sprechen.

Als erste größere Maßnahme haben Sie ein digitales Meeting veranstaltet, um Mitarbeiter zu informieren. Wer nahm teil?
Wir hatten eine ganz tolle Veranstaltung, die von meiner Kollegin Nina Strassner, Head of Diversity Deutschland initiiert wurde. Es haben nicht nur Frauen ab 40 sondern auch viele junge Frauen und einige Männer teilgenommen. Einen dieser Kollegen habe ich gefragt, was ihn motiviert. Seine Antwort: Er leite ein Team, in dem mehrere Frauen nun in das Alter kommen könnten und da möchte er vorbereitet sein. Zudem beträfe es demnächst wahrscheinlich auch seine eigene Frau und er wollte wissen, wie er sie bestmöglich unterstützen könne. Ist das nicht toll?

Welche Inhalte haben Sie vermittelt?
Es ging im Intro darum, was überhaupt aus biologischer Sicht passiert. Es ging aber auch darum zu erklären, warum wir uns als Unternehmen damit beschäftigen, also um den Business Case. Wir haben erläutert, dass die Menopause ein zeitweise bestehendes Handicap für Kolleginnen sein kann, und dass ohne Unterstützung Talent und Potenzial möglicherweise nicht genutzt werden. Wir haben erklärt, warum das Thema aus der Tabuzone geholt werden muss und warum es Ermutigung und Empathie seitens der Führungskräfte aber auch seitens Kolleginnen und Kollegen braucht. Dann gab es viel Raum für Fragen und Antworten.

Mit welchen Maßnahmen arbeiten Sie bei SAP weiter an dem Thema?
Die erste Veranstaltung war großartig. Seitdem verzeichnen wir sehr viel mehr Fragen und offenere Gespräche in der Beratung. Wir haben auf unseren Intranetseiten allgemeine Informationen und die zur Verfügung stehenden Unterstützungsangebote bereitgestellt und das Thema in bestehende Führungskräfteschulungen integriert. Wir werden aber auch weitere Veranstaltungen zum Thema Wechseljahre durchführen, auch gezielt für Führungskräfte.

Gibt es bei SAP Erhebungen dazu, inwiefern die Maßnahmen zur Förderung von Frauen in den Wechseljahren auch einen positiven Businesseffekt bewirken, beispielsweise dass weniger Frauen kündigen?
Spezifische Daten bei SAP haben wir noch nicht. Wir wissen aber durch entsprechende Studien, dass, wenn ein Unternehmen Maßnahmen zur Frauenförderung ergreift, Frauen nachweisbar eher im Unternehmen bleiben. Im Einzelnen ist es dabei schwierig, diesen Effekt auf eine einzelne Maßnahme wie die Enttabuisierung der Menopause zurückzuführen. Es ist immer die gesamte Kultur, unterstützend oder nicht unterstützend, die für Frauen den Unterschied macht.

Zu welchen ersten Schritten raten Sie Unternehmen?
Es gibt keinen Rat nach dem Motto „One Size fits all“. Im ersten Schritt sollte die Geschäftsleitung hinter dem Business Case stehen. Diese Aufgabe können Menschen übernehmen, die das Vertrauen der Mitarbeitenden und des Top Managements besitzen, zum Beispiel im Personalwesen. Um das Thema im eigenen Unternehmen aus der Tabuzone zu holen, gilt es dann ein geeignetes Format finden, um darüber zu sprechen, zum Beispiel eine Veranstaltung, oder ein Artikel in einem Mitarbeitermagazin. Wichtig ist, dass jemand aus der Geschäftsleitung oder Personalleitung selbst dabei mitwirkt, über den Business Case spricht und das Thema damit aus dem Tabu herausholt. Es hilft zudem, wenn sich jemand traut, aus persönlicher Sicht und Erfahrung über das Thema zu sprechen.

Welche Hürden und Fallstricke sind zu beachten?
Der wichtigste Rat: Man darf es nicht übers Knie brechen und sollte die Unternehmenskultur berücksichtigen. Ist man zu früh mit einem Thema, kann es nach hinten losgehen. Es ist wichtig, zunächst Ansprechpartner zu etablieren, die Frauen qualifiziert beraten können, dies entlastet sie enorm. Betriebsärzte oder -psychologen sind jedoch nicht immer geschult zum Thema Wechseljahre, hier sollte man genau hinschauen. Wenn sich Mitarbeiterinnen bereit erklären, ihre eigenen Geschichten und Erfahrungen zu erzählen, sollten sie geschützt sein. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Frauen im Vorfeld unter Berücksichtigung der tatsächlichen Unternehmenskultur individuell beraten werden sollten. Einer Frau, die in einem toxischen Männerumfeld tätig ist, was es immer noch gibt, würde ich möglicherweise nicht raten, dass sie jetzt schon offen mit ihren Wechseljahresbeschwerden umgeht.

Führungspositionen sind in Deutschland noch immer meist männlich besetzt – eine Hürde in diesem Prozess?
Es kommt auf das jeweilige häusliche Rollenmodell des Managers an. Wenn er eine Frau zu Hause hat, die noch einmal durchstartet obwohl sie unter Beschwerden leidet, dann hat er für seine Mitarbeiterinnen eher Verständnis, als wenn zu Hause eine althergebrachte Rollenverteilung besteht. Der Generationenwechsel bringt Hoffnung. Viele junge Männer, die heute in den Beruf starten, wurden von alleinerziehenden berufstätigen Müttern erzogen. Ich habe den Eindruck, dass junge Männer heute häufig offener und empathischer sind.

Welche Botschaft ist Ihnen an Frauen wichtig, die in die Menopause kommen?
Es ist keine Krankheit. Du bist nicht alleine. Lass dich nicht unterkriegen. Bleib in deiner Kraft. Es geht vorbei.

Zur Person

Dr. Natalie Lotzmann ist Betriebswirtin und Ärztin für Arbeitsmedizin, Allgemeinmedizin, Umweltmedizin, Wirtschaftsmediatorin und Business Coach. Sie leitet als Global Vice President People & Operations und Chief Medical Officer bei SAP SE das Future of Work / Global Health, Safety & Well-Being. Von 2003 bis 2011 baute sie zusätzlich den Bereich Diversity Management bei SAP auf.

Ihr Schwerpunkt heute liegt auf der Entwicklung innovativer Programme, die eine gesunde Unternehmenskultur ermöglichen und Lebensbalance, Gesundheit, Wohlbefinden, Produktivität und Innovationskraft fördern. Sie entwickelt digitale Konzepte, die weltweit skaliert und durch KPIs evaluiert werden können.

Frau Dr. Lotzmann war von 2009 bis 2013 im Vorstand des Deutschen Demographienetzwerks (ddn) und von 2013 bis 2019 ernannte Themenbotschafterin Gesundheit der legislaturübergreifenden Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) am Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Sie ist im Vorsitz des Netzwerks “Unternehmen für Gesundheit” und seit 2015 Mitglied des Aufsichtsrates des Zentralinstitutes für Seelische Gesundheit in Mannheim.