dm-Chef im Interview dmGPT und Robotik – wie dm Mitarbeiter entlastet und Prozesse optimiert

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Alles hinterfragen, vor allem Bestehendes: dm-Chef 
Christoph Werner erklärt, wie er Unternehmen und 
Mitarbeiter weiterentwickelt und mit dem Einsatz von Robotik und generativer KI die Produktivität steigert.

Freitag, 13. Dezember 2024, 06:40 Uhr
Bettina Röttig und Matthias Mahr
Technologie im Einzelhandel: dm-Chef Christoph Werner
In 14 europäischen Ländern ist die Drogeriemarktkette mittlerweile tätig. Zum Ende des Geschäftsjahres 2023/24 (zum 30. September) betrieb dm 2.131 Filialen in Deutschland sowie 1.116 Märkte in den übrigen Ländern.
Unter dm-Chef Christoph Werner hat die Drogeriemarktkette ihren Marktanteil am drogistischen Segment auf aktuell 26,8 Prozent ausgebaut. Bildquelle: Christina Riedl

Herr Werner, Sie wollen dm als antifragiles Unternehmen positionieren. Wie weit sind Sie auf diesem Weg?
Christoph Werner: Ziel ist nicht die Positionierung, sondern die Kultivierung dieses Prinzips. Damit wollen wir eine lernende Organisation werden, die in jeder unerwarteten Situation Chancen erkennt und gerade auch unter externem Druck qualitativ besser wird. Es ist ein langer Weg, der wahrscheinlich nie zu Ende geht.

Wie konkret arbeiten Sie daran?
Es geht uns darum, wie wir einen Beitrag leisten können. Im letzten Jahr standen in Deutschland Fragen zur liberalen Demokratie im Raum, besonders im Kontext der Umfragen zu Wahlneigungen. Als dm wurden wir gefragt, wie wir dazu stehen und damit umgehen. Das brachte uns auf die Idee, anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Grundgesetzes eine Anzeige zu schalten mit der Headline: „Die wichtigsten Artikel stehen nicht bei dm, sondern im Grundgesetz“. Damit konnten wir in den Vordergrund rücken, welch außergewöhnliche Grundlage für eine freiheitliche Bürgergesellschaft mit dem Grundgesetz geschaffen wurde in einer Zeit, als viele Menschen in Deutschland sich eine lebenswerte Zukunft kaum mehr vorstellen konnten.

Wie erleben Ihre Kunden und Mitarbeiter die Strategie der Antifragilität in Ihren Märkten?
Wir stellen uns stets die Frage: Was bewegt unsere Kunden? Auf was kommt es jetzt an? In Zeiten von Unsicherheit, steigenden Preisen und Inflation geht es darum, wie wir die Menschen unterstützen. Unsere Antwort: dm-Märkte sollen Verlässlichkeit bieten – sowohl im Sortiment als auch über unsere Dauerpreise. Diese Beständigkeit und Berechenbarkeit schafft Vertrauen und ein Gefühl der Sicherheit. Grundsätzlich müssen wir uns immer wieder fragen, was bleiben soll und was sich ändern muss. Der bekannte Ausspruch von Giuseppe Tomasi di Lampedusa – „Damit es so bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern“ – ist eine hilfreiche Perspektive. Unsere Ziele und Versprechen müssen konstant bleiben, und die Art und Weise, wie wir sie erreichen und einlösen, muss zeitgemäß sein. Deshalb entwickeln wir unser Ladenbild und Sortiment ständig weiter, um auch in Zukunft relevant zu bleiben.

Mitarbeiterzahlen dm

Wie flexibel können Sie mit Ihrem neuen Ladenbaukonzept reagieren?
Unser Ladenbildkonzept ist grundsätzlich so gestaltet, dass wir schnell auf Veränderungen reagieren können. Die Elemente sind austauschbar, ohne dass wir alles neu machen müssen. Aus dem gleichen Grund sind wir beispielsweise auch stets Mieter unserer Märkte und nicht Eigentümer, um immer dort sein zu können, wo die Kunden sein werden.

Rossmann punktete zuletzt im Kunden­monitor beim Faktor Preis-Leistung vor allem aufgrund von Angeboten. Warum meinen Sie, Ihre Dauerpreis-Strategie ist dennoch die richtige Antwort?
Die Kundenresonanz auf unsere Dauerpreisstrategie signalisiert uns, dass unser günstiges Dauerpreiskonzept ankommt. Die Preispolitik ist aber kein Dogma, sondern wird – wie alles bei dm – permanent hinterfragt. Unser Ziel ist es, im Auftritt stimmig zu sein und einen Kundennutzen zu stiften. Unser Markenversprechen „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“ ist Anspruch und Verpflichtung zugleich. Wir wollen unsere Kunden in die Lage versetzen, bewusste Kaufentscheidungen zu treffen, bei denen die Qualität der Produkte im Vordergrund steht und an der Kasse weniger Kaufkraft eingesetzt werden muss als bei anderen Anbietern. Eine Preispolitik, die durch überraschende und zeitlich begrenzte Sonderangebote Menschen unter Druck setzt, wäre nicht dienlich. Wenn es uns also gelingt, dass die Kunden weniger über die Preise nachdenken müssen und sich mehr mit den Produkten und deren Eigenschaften beschäftigen, dann haben wir aus unserer Sicht unsere Versprechen verlässlich eingelöst.

Denken Sie bei der Weiterentwicklung Ihrer Märkte auch an einen Einstieg in das Apothekengeschäft? Auf den Retail Innovation Days im Sommer haben Sie über Herausforderungen des Sektors gesprochen.
Es wäre unklug, jetzt schon konkrete Pläne zu machen. Der Apothekenmarkt steht vor Herausforderungen wie dem Nachwuchsproblem und dem sogenannten Apothekensterben. Viele Apotheken schließen, weil es sich finanziell nicht mehr lohnt. Das System ist finanziell unter Druck, und es gibt Forderungen nach höheren Vergütungen. Gleichzeitig steigen die Krankenkassenbeiträge – nicht zuletzt auch wegen des demografischen Wandels. Es wird neue Lösungen brauchen. Manchmal reichen bereits kleine Veränderungen, um Innovationen zu fördern. Ein Beispiel hierfür war der Fall der sogenannten Preisbindung der zweiten Hand für Drogeriewaren, der das Vertriebsformat der Drogeriemärkte erst möglich gemacht hat. Kommt es zu einer wesentlichen Veränderung der regulatorischen Rahmenbedingungen im Apothekenmarkt, werden sicherlich viele unterschiedliche Akteure mit innovativen Ansätzen den Markt weiterentwickeln.

Ist Ihr Fokus auf Lösungen und Chancen statt auf den Problemen Voraussetzung für die Strategie der Antifragilität? Wie bewahren Sie sich die Einstellung auch in Krisen?
Nun, ich denke, Menschen mit einer unternehmerischen Disposition sehen in den vorgefundenen Verhältnissen Chancen, wenn andere nur Probleme sehen.

Dennoch hört man vor allem Klagen …
Zumindest wird viel darüber berichtet, und wir haben als Land durchaus die Herausforderung, dass das bisherige Geschäftsmodell mit einer an die USA ausgelagerten Sicherheitspolitik, günstigen Energieträgern in Form von russischem Gas aus Pipelines und einem schier unermesslichen Absatzmarkt in China so nicht mehr trägt. Entscheidend ist, Lust auf Zukunft zu haben, voller Ideen zu sein und in jeder Situation Ansatzpunkte zu finden, um diese Ideen zu realisieren. Wenn Sie keine Ideen haben und deswegen am Bestehenden festhalten wollen, dann sind Veränderungen Zumutungen statt Chancen. Wenn es uns gelingt, im Unternehmen eine lebendige Zukunftsvision zu kultivieren, dann verhalten sich die Menschen im Unternehmen unternehmerisch. Im Ergebnis wird das gesamte Unternehmen dynamischer und anpassungsfähiger.

Mit welchen Maßnahmen nehmen Sie Ihre Mitarbeiter auf diesem Weg mit?
Wir haben im Unternehmen den Grundsatz der Subsidiarität [Anm. der Red.: Nach dem Prinzip wird eine Aufgabe möglichst von der kleinsten „zuständigen“ Einheit übernommen], der in Handelsunternehmen nicht ganz so üblich ist. Die meisten neigen zum Zentralismus, um durch Routinen Prozesskosten zu reduzieren. Die Kehrseite von Routinen ist aber, dass sie innovationsfeindlich sind. Denn Innovationen sind immer Abweichungen vom bekannten Pfad und verhindern, dass man sich mit neuen Fragen beschäftigt. Dabei verändert sich durch Fragen ja erst die Wahrnehmung, denn Fragen öffnen und Antworten schließen ab. Deswegen denken wir bei dm in Fragen und Aufgabenstellungen. Außerdem ist der Aspekt der Selbstwirksamkeit von zentraler Bedeutung. Schließlich möchte jeder selbst erleben, dass er einen Unterschied machen kann. Das gelingt in einem subsidiären Organisationsmodell besser als in ­einem zentralistischen, in dem Sie erst dann Selbstwirksamkeit erleben können, wenn Sie eine höhere Position mit Verantwortung erreicht haben. Ein Erfolgsbeispiel ist unser Whats­app-Kanal, der mittlerweile über 1 Million Follower hat. Hier haben sich unsere Mitarbeiter selbstverantwortlich eingebracht und diesen entwickelt. Damit Menschen einen Bezugsrahmen haben, um Dinge auszuprobieren, braucht es Datentransparenz. Wir haben daher eine starke IT, können bis runter in den einzelnen dm-Markt in Echtzeit darstellen, wie sich die Absätze entwickeln. Voraussetzung für eine subsidiäre Organisationsform ist allerdings eine starke Unternehmenskultur, mit der Sie sich verbinden wollen. Sonst laufen die Dinge auseinander, und Unternehmen werden ineffizient.

Sie haben in neue Technologien investiert: einen eigenen dmGPT, Robotik. Wo funktioniert dies gut und schafft Freiräume?
Generative KI ermöglicht es, dass wir Menschen mit Maschinen so kommunizieren können wie mit einem anderen Menschen, ohne uns wesentlich an die Maschine dafür anpassen zu müssen. GenAI kann daher als eine Basisinnovation betrachtet werden. Das Kennzeichnende von Basisinnovationen ist, dass Sie zum Zeitpunkt des Aufkommens noch gar nicht ermessen können, was daraus einst werden wird. Wir haben als eines der ersten Unternehmen in Deutschland im Juli 2023 dmGPT eingeführt. Seitdem geht es darum, die Kollegen zu unterstützen, indem beispielsweise repetitive Dinge automatisiert werden, Zusammenfassungen schneller erstellt werden, Hintergründe recherchiert werden. Dadurch entsteht Freiraum für Tätigkeiten, an denen die Kollegen wirklich Freude haben. Ein Beispiel sind Zusammenfassungen von Produktbewertungen für die Web­site. Können wir hier gute automatisierte Zusammenfassungen bieten, gewinnen unsere Mitarbeiter und Kunden Zeit.

Wo konnten Sie bereits effizienter arbeiten? Es geht doch nicht nur um Freude am Arbeiten, sondern auch um Produktivität?
Es geht immer auch um Produktivität. Diese können Sie steigern, indem Sie bei gleichem Output den Input reduzieren oder bei gleichem Input den Output steigern. Ziel des Einsatzes von dmGPT ist es nicht, Stunden abzubauen und Mitarbeitereinkommen zu sparen. Es sollte immer darum gehen, dass wir uns als Marktteilnehmer bei unseren Kunden profilieren. Daher ist die Frage für uns: Wie nutzen wir neue Technologien, um unsere Leistung zu verbessern und darüber unsere Produktivität zu steigern? Mittelfristig müssen wir natürlich über KPIs betrachten, wie das Verhältnis zum Beispiel von Personenstunden zum Umsatz, zur Anzahl der dm-Märkte oder der Online-Aufträge ist. Zuerst geht es jedoch darum auszuprobieren. Dann gucken wir, wohin es geht, und bewerten. Wenn ich mir nur Gedanken mache, was sein könnte, dann bin ich fokussiert auf das, was ich mir vorgestellt habe, und sehe die eigentliche Chance nicht. Das Wichtige in der Wirtschaft ist meiner Erkenntnis nach, dass wir Spielräume und Optionen haben und uns nicht um diese bringen. Wenn wir uns nicht nachhaltig verhalten, reduzieren wir unsere Optionen, geraten unter Druck und verschwinden am Ende aus dem unendlichen Spiel des Wettbewerbs.

Sie testen einen Roboter als Category ­Manager. Was ist da möglich?
Aktuell fahren 130 Ubica-Roboter nachts durch die Gänge und nehmen Realogramme auf, um digitale Zwillinge zu generieren. Im stationären Geschäft haben wir den Sollwarenbestand vorliegen und Planogramme, nach denen Produkte in einer bestimmten Reihenfolge und Anzahl der Facings platziert sein sollen. Die Realität in den Märkten ist aber oft eine andere, weil zum Beispiel aus baulichen Gründen eine Säule ungünstig steht. Oder Ware ist auch mal doppelt platziert: im Regal und auf Zweitplatzierungsflächen. Mit einem Scanroboter können wir die physische Wirklichkeit digitalisieren und mit dem Sollzustand abgleichen. Damit ist eine permanente Inventur möglich, und Sie können Aufgaben für die Kollegen strukturieren und optimieren, zum Beispiel Regallücken auffüllen oder Preisetiketten ­korrigieren.

Wie wichtig ist dies auch für das Omnichannel-Geschäft?
Für die Express-Abholung sichern wir zu, dass Kunden ihre Bestellung innerhalb von zwei Stunden abholen können. Die richtigen Warenbestände zu haben, ist Voraussetzung für die Verlässlichkeit des Service. Ein anderer Punkt ist: Die Bestellungen für Express-Abholungen unterbrechen ja die Routinen der Mitarbeitenden im dm-Markt. Daher ist eine möglichst effiziente Bearbeitung der Bestellungen betriebswirtschaftlich entscheidend. Mit den Realogrammen können Sie die Wege optimieren, damit Mitarbeiter möglichst wenig Strecke zurücklegen müssen, um die jeweils parallel bearbeiteten Aufträge zu kommissionieren.

Was ist künftig noch denkbar?
Perspektivisch könnten Kunden über die App angezeigt bekommen, wo sie ein bestimmtes Produkt in ihrem Markt finden. Bei Babygläsern oder im OTC-Regal ist die Übersicht ja manchmal schwierig. Auch für Umbauten, wenn neue Regalelemente integriert werden sollen, ist es wertvoll, den aktuellen Stand der Filialen zu haben, wo Unterzüge an der Decke und somit Höheneinschränkungen bestehen. Um dies zu erfassen, haben wir bisher immer Mitarbeiter rausgeschickt.

Ihre Wettbewerber rücken Lebensmittel mehr in den Fokus, und das Angebot wächst. Wollen Sie das Lebensmittelangebot in Ihren Märkten ausbauen?
Wo dm draufsteht, soll auch weiterhin dm drin sein. Als Drogeriemarkt sind wir traditionell fokussiert auf die fünf Bereiche Schönheit, Haushalt, Baby, rund ums Foto und Gesundheit mit Unterkategorien, zu denen auch gesunde Lebensmittel gehören. Wenn wir unser Lebensmittelsortiment ausweiten wollten, müssten wir etwas anderes dafür rausnehmen, denn wir können die Regalflächen in unseren 2.131 Märkten nicht einfach vergrößern. Unterkategorien verändern sich immer mal wieder, aber eine grundsätzliche Strategieänderung liegt in diesem Bereich nicht vor.

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