Sie reden heute mit Vertretern eines Fachmagazins für Lebensmittelwirtschaft und Lebensmitteleinzelhandel. Bedeutet das, dass Sie das Vertrauen in die Lebensmittelbranche noch nicht ganz verloren haben?
Hannes Jaenicke: Natürlich nicht, im Gegenteil. Nur ist es leider harte Arbeit, sich so zu informieren, dass man ungesunde, minderwertige Nahrungsmittel von gesunden, hochwertigen unterscheiden kann.
Wie nehmen Sie die Entscheidungsträger aus unserer Branche wahr? Bei einer Lektüre Ihres Buches „Die große Sauerei“ entstand für uns der Eindruck, dass Sie diese – zumindest auf höheren Ebenen – mit Mafiosi vergleichen.
Bei manchen Konzernen und in manchen Bereichen würde ich den Vergleich mit Mafiosi ziehen. Coca-Cola, Pepsico und Nestlé zum Beispiel sind die drei größten Plastikvermüller der Welt, und das hat katastrophale Folgen für Umwelt und Natur. Ihre Lobbyarbeit gegen schärfere Verpackungs- und Müllgesetze trägt tatsächlich mafiöse Züge. Und wenn ich mir anschaue, wie zum Beispiel in Südspanien unser Obst und Gemüse produziert wird, fühle ich mich an die Arbeitsverhältnisse in den schlimmsten Kolonialzeiten erinnert. Auch dass ein deutscher Viehzuchtbetrieb, statistisch betrachtet, nur alle 17 Jahre kontrolliert wird – und das nach Vorankündigung –, spricht für einen weitgehend rechtsfreien Raum in der Massentierhaltung. Ein Sprecher des Bundesverbandes Deutscher Milchviehhalter hat vor laufender Kamera einmal selbst gesagt, dass die Zustände der deutschen Milchindustrie an die Mafia erinnerten.
Eine gewaltige Macht des Lebensmitteleinzelhandels und der Ernährungsindustrie ist zweifellos gegeben. Würden Sie aber bestreiten, dass diese Macht auch sinnvoll eingesetzt werden kann? Wir denken zum Beispiel daran, dass Bio-Sortimente ohne den LEH niemals so weit gekommen wären wie jetzt. Anderes Beispiel: Die Tierhaltungsstufen 3 und 4 gäbe es ohne den LEH gar nicht.
Was Sie da zu den Bio-Sortimenten und Tierwohl-Haltungsstufen gesagt haben, halte ich für ein schwaches Argument. Denn die dortigen Standards sind verwässert und wenig zuverlässig. Wenn der Begriff Tierwohl mehr sein soll als ein reines Marketing-Etikett, müsste der allgemeine Standard die 5. Stufe sein, „Haltungsform Bio“ genannt. Trotzdem freut es mich, wenn Lidl mit Bioland kooperiert und die großen Discounter ihr Bio- und Fairtrade-Angebot erweitern. Es bewegt sich tatsächlich etwas – wenn auch in kleinen, langsamen Schritten. Allerdings bewegt sich der Verbraucher ja auch nicht schneller. Der Mensch ist nun einmal ein Gewohnheitstier und denkt nur widerwillig um, wenn überhaupt.
Sprechen Sie überhaupt mit denen, die die Märkte bewegen?
Natürlich. Das kann man in unserer ZDF-Dokumentationsreihe „Im Einsatz für …“ sehen. Wir haben Vertreter der Aquafarming- und Lachs-Industrie interviewt, genauso wie die Jäger von Singvögeln, Schweinezüchter, Großwildjäger, Löwenzüchter, Politiker, Sprecher des Deutschen Jagdverbandes. Wir lassen grundsätzlich alle Seiten zu Wort kommen.
Sie kritisieren Institutionen wie das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), die heutige Lebensmittel für so sicher wie noch nie halten. Diese beziehen sich darauf, dass heutige Lebensmittel zum Beispiel mit weniger Keimen und Schadstoffen belastet sind oder Nährstoffe besser erhalten. Ist es vor diesem Hintergrund Ihrer Auffassung nach falsch, wenn wir glauben, dass unsere Vorfahren schlechter ernährt waren als wir?
Das halte ich tatsächlich für falsch. Es gab damals noch kein Glyphosat, kaum chemische Düngemittel, nur wenige giftige Pestizide, Fungizide, Herbizide und Insektizide, keine „Übergüllung“, kaum Fast Food und keine Massentierhaltung. Wasser und Luft waren noch nicht so belastet, die Krebs- und Adipositas-Raten im Vergleich zu heute niedrig. Und was das BfR betrifft: Es wird, wie fast alle Bundesbehörden, weitgehend von Lobbyisten beeinflusst und gesteuert.
Können aus Ihrer Sicht Menschen mit geringem Einkommen von Demeter-Erzeugnissen oder anderen Bio-Produkten mit hohen Maßstäben leben?
Nein. Und das liegt am Subventionssystem. Subventioniert wird vor allem konventionelle, ungesunde Massenware aus Großbetrieben. Deshalb ist sie so billig. Das wiederum kostet das Gesundheitssystem Milliarden Euro und den Konsumenten seine Gesundheit. Würde man hochwertige Lebensmittel wie Demeter-Produkte höher subventionieren, würden a) nicht solche Massen an Nahrungsmitteln weggeworfen, wären b) gesunde Lebensmittel billiger und ungesunde teurer und c) würde das Gesundheitssystem massiv entlastet und die Gesundheit der Bevölkerung besser.
Wo hört aus Ihrer Sicht die persönliche Entscheidungsfreiheit bei der Ernährung auf? Wann muss der Staat eingreifen und lenken?
Dass freiwillige Selbstverpflichtung und -kontrolle nicht funktionieren, wissen wir seit Jahrzehnten. Das gilt für die Autoindustrie genauso wie für die Textil-,Verpackungs-, Chemie- und Lebensmittelindustrie. Agrar- und Lebensmittelindustrie scheinen – wie andere Wirtschaftszweige auch – einen Blankoscheck zu haben für alles, was Profit bringt. Auf Kosten unserer Gesundheit, der Umwelt, der Tiere. Wir brauchen schärfere Gesetze, Kontrollen, Verbote. Und vor allem benötigen wir endlich eine effektive CO2-Bepreisung. Der Maßstab auch im gesetzlichen und steuerlichen Bereich muss sein, welche Auswirkungen Produkte auf Klima und Umwelt haben. Sind sie schädlich, wie zum Beispiel SUVs oder Fleisch, müssen sie entsprechend bepreist werden.
Sie kritisieren die Vielfalt an Siegeln für Lebensmittel. Sollte ein einzelnes staatliches Siegel an deren Stelle treten?
Mittlerweile gibt es Siegel und Label wie Sand am Meer. Gefühlt kommen jeden Tag ein paar neue dazu. Es ist ziemlich egal, wer die Zertifizierungen und Siegel herausgibt, ob unabhängige Institute, Politik oder staatliche Behörden: Sie müssen zuverlässig, glaubwürdig und wissenschaftlich fundiert sein. Und das sind sie in keiner Weise. Derzeit sind sie hauptsächlich Verbrauchertäuschung, Etikettenschwindel, Greenwashing, Marketing-Tricks und Werbelügen. Die wenigen Ausnahmen bestätigen diese Regel. Schönfärberische Produktsiegel gehören verboten. Alle Nahrungsmittel müssen wahrheitsgemäß und für jeden verständlich beschriftet sein. Auf tierischen Produkten sollten Wasserkonsum, CO2-Bilanz, Medikamenten- und Hormoneinsatz, Futtermittel wie Gen-Soja, deren Herkunft, Transportwege etc. angegeben werden.
In Ihrem Buch „Die große Sauerei“ lassen Sie große Sympathien für „Die Letzte Generation“ und Extinction Rebellion erkennen. Sind deren Methoden nach Ihrer Meinung richtig, auch wenn sie gegen Gesetze verstoßen?
Es gab in der gesamten Geschichte noch keine Bürgerbewegung, die ohne zivilen Ungehorsam oder Gesetzesverstöße zum Erfolg geführt hat. Ich nenne beispielhaft die Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg oder gegen das DDR-Regime. Die jetzigen Klimaaktivisten mit RAF-Terroristen zu vergleichen, gehört zum Dümmsten und Reaktionärsten, was ich in letzter Zeit gelesen und gehört habe. Die Klimakrise ist real. Das wissen wir Deutschen spätestens seit der Katastrophe an Ahr und Erft oder seit dem zunehmenden Wassermangel in deutschen Flüssen, Wäldern, Feldern. Wer das immer noch leugnet, ist wahlweise geistig zurückgeblieben oder zynisch. Insofern freue ich mich über jeden, der sich für Klima, Umwelt, Tierschutz und Nachhaltigkeit engagiert, egal ob diese Menschen bei FFF, XR, BUND, NABU, LBV oder Greenpeace tätig sind. Ich persönlich klebe mich nicht fest; ich mache lieber Filme und Bücher zum Thema.
Welches System für Nahrungsmittelproduktion und -vermarktung wäre für Sie das Ideal?
Mein persönliches Ideal wären eine kleinparzellige Agrarindustrie, in der auch Kleinbetriebe und Familienbetriebe überleben. Es wäre die Abschaffung der Massentierhaltung und die Rückkehr zum Sonntagsbraten. Es wären Unverpacktläden, Hofläden, Bioläden, kleine Fachgeschäfte, die für jeden erschwinglich sind. Weitere Aspekte wären eine Belohnung von nachhaltiger Landwirtschaft und der Verzicht auf übermäßigen Pestizid-, Kunstdünger- und Antibiotikaeinsatz. Am wichtigsten scheint mir, dass Lebensmittel wieder einen Wert bekommen. In den Industrienationen sind sie zur Wegwerfware verkommen, die hauptsächlich billig sein und satt machen sollen.
Abschlussfrage: Bei welchem Lebensmitteleinzelhändler kaufen Sie persönlich am liebsten ein?
Egal wie ohnmächtig wir uns als einzelne Person fühlen: Unser Portemonnaie ist die schärfste Waffe, die wir besitzen. Es ist das geeignetste Instrument zur Steuerung des Marktes, gleichgültig ob wir es zum Boykott – besser Buykott – nutzen oder als Support für saubere Marken und Produkte. Was wir als Verbraucher nicht kaufen, wird aus den Regalen verschwinden. So einfach ist das. Wie gesagt, kaufe ich am liebsten in Unverpackt- und Bioläden, auf Wochenmärkten und in Hofläden ein. Und wenn ich das aus zeitlichen oder organisatorischen Gründen nicht schaffe, gehe ich zum Rewe-Markt in meinem Dorf in Oberbayern. Der hat ein großes Angebot an regionalen und veganen Produkten sowie an Bio-Artikeln.
Hannes Jaenicke, Schauspieler/ Umweltaktiver
Hannes Jaenicke, Jahrgang 1960, ist als Schauspieler durch zahlreiche Kino- und Fernsehfilme berühmt geworden. Seit 2007 dreht er unter anderem für das ZDF eigene Dokumentarfilme zu Umweltthemen.
Jaenicke hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, die die Lebensmittelwirtschaft kritisieren, darunter zuletzt 2022 „Die große Sauerei – Wie Agrarlobby und Lebensmittelindustrie uns belügen und betrügen – und was das für unsere Ernährung bedeutet“.