Notfallplan Gas Lebenserhaltende Maßnahmen

In der Nahrungsmittelindustrie herrscht Unsicherheit darüber, was ein Embargo auf russische Energieträger für die Betriebe bedeuten würde. Die gesetzliche Priorisierung bei einem Gas-Engpass ist umstritten.

Freitag, 29. April 2022 - Management
Tobias Dünnebacke
Artikelbild Lebenserhaltende Maßnahmen
Bildquelle: Getty Images

Die Debatte um ein vollständiges Energie-Embargo gegen Russland reißt nicht ab. Bei Redaktionsschluss lag noch keine abschließende Entscheidung zum Thema Öl vor. Die EU-Außenminister konnten sich hierzu bis jetzt nicht zu einer einheitlichen Position durchringen. „Nichts ist vom Tisch, einschließlich Sanktionen gegen Öl und Gas“, erklärt aber der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Besonders ein Ausbleiben russischer Gaslieferungen treibt vielen Managern in der gesamten Lebensmittelbranche die Sorgenfalten auf die Stirn. Die Nahrungsmittelproduktion ist mit einem Anteil von 12 Prozent der zweitgrößte Verbraucher von Industrieerdgas in Deutschland. „Die Verarbeitung von Milch zu Produkten und die Haltbarmachung erfordern ein wechselndes Erhitzen und Kühlen. Für die Prozesse benötigen die allermeisten Molkereien daher Gas als Energieträger, denn die meisten haben, auch politisch und immissionsschutzrechtlich bedingt, auf Gas umgestellt“, erklärt beispielsweise Dr. Björn Börgermann, Geschäftsführer des Milchindustrie-Verbands, das Dilemma.

Oder das Beispiel Getränkehersteller: Ein Komplettembargo von Gas hätte fatale Auswirkungen für die gesamte Getränkeindustrie – auch indirekt, da Vorlieferanten, etwa Mälzereien oder die Produzenten für Glas, Dosen, Kartonagen und andere Verpackungen, betroffen wären. Ein Dominoeffekt und eine Lawine von Produktionsausfällen wäre die Folge. „Wir bereiten uns als Unternehmen an allen unseren Standorten natürlich – soweit möglich – auch auf mögliche Krisenszenarien wie Lieferengpässe oder ein Komplettembargo bei Erdgas oder anderen Energiequellen und/oder Grundstoffen vor“, sagt Axel Dahm, Sprecher der Geschäftsführung, Bitburger Braugruppe. Holger Eichele vom Deutschen Brauer-Bund erklärt gegenüber diesem Magazin: „Für die Brauereien in Deutschland ist die Entwicklung auch ohne Gas-Embargo dramatisch. Wir beobachten bei Rohstoffen, Verpackungen, Energie und Logistik nie gekannte Preissteigerungen. Die Kosten schießen durch die Decke, sie drohen völlig aus dem Ruder zu laufen.“

Der Notfallplan Gas
Besonders heiß diskutiert wird in der Branche der „Notfallplan Gas“ der Bundesregierung. Bei einem Ausfall der Lieferung, entweder durch ein deutsches Embargo oder ein Stopp Russlands, träte dieser in Kraft. Die Frühwarnstufe wurde von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bereits ausgerufen. Sollte es zum Äußersten kommen, haben private Haushalte und soziale Einrichtungen Vorrang. Sie zählen gemäß Paragraph 53a des Energiewirtschaftsgesetzes zu den „geschützten Kunden“. Die Industrie gehört demnach zu den Abnehmern, die nach europäischen Vorgaben als Erste vom Netz genommen werden müssen. In welcher Reihenfolge Branchen und Unternehmen kein Gas mehr bekommen, ist allerdings nicht schriftlich definiert. Hier geht es um die sogenannte Systemrelevanz. Der Schaumweinproduzent müsste dann möglicherweise früher die Segel streichen, der Großbäcker könnte weitermachen.

Die Bäcker jedenfalls machten diesen Standpunkt schon früh deutlich: Ohne eine uneingeschränkte Versorgung der Großbäckereien mit Energie, insbesondere mit Gas und Elektrizität, und einer Sicherstellung der Lieferfähigkeit sei eine Aufrechterhaltung der Versorgung mit dem Grundnahrungsmittel Brot in Deutschland schlichtweg nicht sichergestellt, erklärte der Verband Deutscher Großbäckereien bereits Mitte März. „Ein Ausweichen auf andere Energieträger“, so der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Armin Juncker, „ist aus technischen Gründen ausgeschlossen, zumindest kurz- und mittelfristig.“

Daher sollte schon jetzt die möglichst uneingeschränkte Energieversorgung der deutschen Bäckereien sichergestellt werden. Auch Dr. Björn Börgermann vom Milchindustrie-Verband fordert, die Molkereien als „geschützte Kunden“ zu definieren. Die Agrarministerkonferenz hätte zuletzt dieses Anliegen unterstützt, nun gelte es, den Unternehmen Planbarkeit zu geben.

Während die Bedeutung von Brot und Milch für die Versorgung der Bevölkerung unstrittig scheint, ist die Wichtigkeit von Herstellern von Tiefkühlkost wie TK-Pizza zunächst weniger einleuchtend. Doch auch dieser Branchenzweig hat sich bereits in Stellung gebracht. Jan Peilnsteiner, Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Kühlhäuser & Kühllogistikunternehmen, und Dr. Sabine Eichner, Geschäftsführerin des Deutschen Tiefkühlinstitutes: „Die Bundesregierung fordern wir auf, die Versorgung der systemrelevanten Tiefkühl- und Frischewirtschaft sowie der Kühl- und Tiefkühllogistik mit Erdgas durch eine schnelle und klare Priorisierung sicherzustellen.“

Alle Branchen betroffen
Die Branchen würden nicht nur die Versorgung der Bevölkerung mit allen temperaturgeführten Lebensmitteln garantieren, sondern auch die Lagerung, den Transport und die Versorgung mit temperaturabhängigen Medikamenten, Impfstoffen, Blutplasma und Blutseren.

Besonders bitter würde ein Importstopp von russischem Gas wohl die ohnehin durch Corona stark gebeutelten Logistiker treffen. „Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen sind nicht mehr in der Lage, die steigenden Diesel- und Gaspreise zu stemmen“, erklärte unlängst Carsten Taucke, Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Die beschlossene Senkung der Mineralölsteuer für drei Monate sei ein erster richtiger Schritt, reiche aber nicht. Eine Insolvenzwelle in der Transportbranche müsse abgewendet werden.