Discounter Jäger und Gejagte

Jahrelang ging es bei Deutschlands Discountern nur in eine Richtung: nach oben. Doch Corona hat das Wachstum gestoppt. Wohin entwickeln sich Aldi, Lidl und Co.?

Montag, 12. April 2021 - Management
Heidrun Mittler
Artikelbild Jäger und Gejagte
Bildquelle: Carsten Hoppen

Die kleine Raupe Nimmersatt – diese Kinderbuchfigur hat vieles mit den Discountern in Deutschland gemeinsam. Tag für Tag frisst sich die Raupe durch verschiedene Lebensmittel, bis sie satt ist, um sich dann in einen wunderschönen Schmetterling zu verwandeln. Die ersten Läden der Albrecht-Brüder, die den Grundstein für Discount gelegt haben, waren aus der Not der Nachkriegszeit geboren. Spartanisch eingerichtet, Schnelldreher zu günstigen Preisen, möglichst wenig Personal. In der Anfangszeit verzichtete man sogar auf die Preisauszeichnung, die Kassiererinnen mussten die Preise auswendig kennen. Die Albrechts hatten einen ungeheuren Hunger auf Wachstum.

Im Zuge der Expansion haben die Brüder das Land in Aldi Süd und Aldi Nord aufgeteilt und immer neue Sortimente aufgenommen – und damit den Lebensmittelhandel bei uns entscheidend geprägt. Ab den 2000er-Jahren startete die Transformation: Die Filialen haben sich aufgehübscht, Backstationen eröffnet, die Zahlungsvorgänge optimiert. Zu Weihnachten 2020 konnte man sich bei Aldi Süd mit Entenkeulen von Käfer, Steaks vom irischen Weiderind und Lachs-Carpaccio samt Champagner eindecken. Ebenso hätte man solche oder ähnliche Delikatessen bei Lidl oder Netto Marken-Discount kaufen können.

Der Discount ist zu einer immens wichtigen Marktmacht herangereift. In keinem anderen Land der Erde ist der Anteil so hoch wie bei uns: Zum Jahresende 2019 vereinten die Discounter 43 Prozent der Umsätze im gesamten Lebensmittelhandel auf sich (nach GfK, Consumer Panel). Die Verbraucher ließen 2019 rund 84 Milliarden Euro an den Discount-Kassen (TradeDimensions).

Doch dann kam Corona. Und – hoppla! – der Kunde orientierte sich um, wollte alle Einkäufe lieber an einem Ort erledigen. Zwar stürmten die Verbraucher bei ihrer Suche nach Toilettenpapier und Hefe auch zu Penny und Norma, aber noch häufiger luden sie sich bei Edeka, Rewe oder Globus die Einkaufswagen voll. Ist der Siegeszug der Discounter damit gestoppt?

Sicher nicht, wenn man der Einschätzung von Martin Fassnacht folgt. Der Professor und Direktor des Lehrstuhls für Strategie und Marketing an der angesehenen WHU – Otto Beisheim School of Management prognostiziert, dass sich die wirtschaftliche Lage vieler Menschen im nächsten Jahr verschlechtern wird. Die Gelegenheit also für Discounter, mit günstigen Preisen zu punkten.

Fassnacht nimmt zudem die Discounter in vier Nutzen-Kategorien unter die Lupe, dabei geht es um die Eigenschaften funktional, emotional, symbolisch und ethisch-gesellschaftlich. Die Funktionalität ist eindeutig gegeben, Discounter verkaufen ein adäquates Sortiment in guter Qualität und meistens guter Lage. In Sachen Emotionalität sind Discounter eingeschränkt: Die Freude beim Einkaufen hält sich bei den Verbrauchern in Grenzen, ist aber grundsätzlich gegeben. Beim Kriterium „symbolisch“ haben Discounter in den letzten Jahren stark aufgeholt: Heute gilt als „smart“, wer bei Lidl oder Aldi einkauft. Bezogen auf den Aspekt ethische und gesellschaftliche Verantwortung sieht der Experte die Discounter sogar als „Treiber des Marktes“. Als Beleg zieht er unter anderem den Ausbau des veganen Sortiments und der Bioprodukte heran.

Der neue Markenkern
Mit dem neuen Markenkern des Discounts beschäftigt sich auch Robert Kecskes von der GfK, Gesellschaft für Konsumforschung. Er denkt, dass sich diese Vertriebsform „neu erfinden“ muss, wenigstens in Teilen. Seiner Auffassung nach verkörpert der Discount bislang einen „Nicht-Ort“, also einen rein funktional orientierten Ort, an dem man schnell und zu einem günstigen Preis Lebensmittel einkaufen kann. Doch bei den Shoppern kommt das heute nicht mehr so an, vor allem bei den jüngeren, erklärt der Experte: „Da ist der Händler häufig so etwas wie der Anker in der Nachbarschaft. Dort fühlt man sich wohl, macht neue Entdeckungen.“

Genau diese Argumente greifen die Unternehmen auf. Beispiel Penny: Die Rewe-Tochter setzt gezielt auf das Bild des „Nachbarschafts-Marktes“, wo man sich kennt und austauscht.

Marken verbessern die Welt
Kecskes bringt außerdem erwünschte „Sozialmarken“ ins Spiel: Diese erfüllen nicht nur die Bedürfnisse, sie mischen sich ein, wollen die Welt verbessern. Auch diese Forderung haben allen voran Lidl und Aldi schon umgesetzt und feilen weiterhin an ihren Sortimenten. So umfasst das Bio-Angebot bei Lidl derzeit rund 340 Produkte, wovon mehr als 80 Artikel das Bioland-Markenzeichen tragen. „In den nächsten Jahren wollen wir den Anteil an Bio(land)-Lebensmitteln verdoppeln“, kündigt eine Lidl-Sprecherin auf Anfrage an. Julia Adou, Director Corporate Responsibility bei Aldi Süd, ist im LP-Interview sogar überzeugt, dass „unsere Kunden ihren gesamten Wocheneinkauf mit Bio-Produkten des Unternehmens abdecken können“ (siehe dazu auch S. 19).

Keine Frage: Gerade die „Big Player“, also Lidl und Aldi, spüren Trends früh auf und setzen sie mit großer Schlagkraft um. Als die gekühlten Convenience-Produkte (wie fertige Mahlzeiten, Salate, Smoothies, Sandwiches) auf dem deutschen Markt anklopften, haben die einstigen Billigheimer nicht etwa Plätze in den bestehenden Kühlregalen freigeräumt. Nein, sie haben gleich komplett neue Chilled-Food-Abteilungen geschaffen und präsentieren Vielfalt in den Regalen. Anders formuliert: Die Discounter treiben die Entwicklungen in den Märkten voran.

Wut der Landwirte eskalierte
Gleichzeitig aber sind die „Pfennigfuchser“ auch Getriebene. Sie stehen in einem extrem harten Konkurrenzkampf untereinander, unterbieten sich ständig mit den niedrigsten Preisen. Dass die Jäger auch Gejagte sind, zeigte sich deutlich, als die Landwirte zu Beginn des laufenden Jahres auf die Barrikaden gingen und gegen – aus ihrer Sicht – zu niedrige Milch- und Fleischpreise protestierten. Die Wut der Bauern entlud sich zuallererst in Blockaden gegen Aldi und Lidl. Und das, obwohl Vertreter der Unternehmen zu Gesprächen bereit waren.

Interessant ist die Frage, wie sich Discounter künftig in puncto Online-Lieferservice aufstellen. Aldi Süd und Nord haben gerade eine eigene Firma „Aldi E-Commerce“ gegründet. Mit dem Ziel, „die unter ,Aldi liefert‘ laufenden Aktivitäten der Unternehmensgruppen Aldi Nord und Aldi Süd unter ein Dach zu bringen und im Sinne der Kundenorientierung einen einheitlichen Onlineshop zu schaffen“.

Gleich haben einigen Medien spekuliert, ob das der Einstieg des Branchenriesen in den E-Food-Markt ist. Doch Aldi winkt ab, ein „umfassendes Lebensmittel-Angebot zähle nicht zum Repertoire“ des Online-Dienstes, so ein Unternehmenssprecher zur Lebensmittel Praxis.

Jedenfalls zurzeit, sollte man hinzufügen. Denn so schwierig das Online-Geschäft auch ist, so viel Wachstum verspricht es – während und nach Corona. Auch wenn anfangs mit hohen Verlusten zu rechnen ist, wie Handelsexperte Martin Fassnacht betont.

Wichtiger Faktor: Ausland
Die Weichen für das weitere Vorgehen von Aldi werden seiner Ansicht nach ohnehin in den Auslandsmärkten gestellt. Gleiches gilt auch für den Hauptkonkurrenten Lidl. Beide sind international gut aufgestellt und können daher Gemeinkosten besser umlegen als ihre Mitbewerber, die ausschließlich in Deutschland präsent sind. Außerdem profitieren sie dabei von den Erfahrungen, die sie im Ausland im Online-Handel gemacht haben, anders als Rewe und Edeka.

Drei Fragen an … Martin Fassnacht, Professor an der WHU – Otto Beisheim School of Management und Direktor des Lehrstuhls für Strategie und Marketing:
Herr Fassnacht, in der Corona-Pandemie haben Discounter weniger Umsatz hinzugewonnen als andere stationäre Vertriebsformen. Bleibt das nach Corona so?
Martin Fassnacht: Die wirtschaftliche Lage vieler Menschen wird sich leider verschlechtern. Nach den Bundestagswahlen im Herbst wird die Arbeitslosigkeit steigen, die Menschen müssen sparen. Davon profitieren Discounter, weil sie das preissensitive Segment bedienen.

Gerade die großen Player Lidl und Aldi werten ihre Filialen auf: teure Standorte, hochwertige Ausstattung. Können sich diese Investitionen rechnen?
Das kann ich nicht beurteilen, ohne die Zahlen zu kennen. Klar ist aber: Aufgrund der hohen Investitionen ist es für die Discounter schwierig, so profitabel zu arbeiten, wie sie das vor etwa zehn Jahren konnten.

Aldi hat die technischen Voraussetzungen, auch Lebensmittel zu liefern. Halten Sie das für eine Erfolg versprechende Option?
Wenn Aldi online Lebensmittel liefert, werden anfangs hohe Verluste auflaufen, mittel- und langfristig aber kann sich das rechnen. Sobald Aldi einmal richtig in die IT-Infrastruktur investiert hat, läuft das Geschäft, und die Kunden werden sich möglicherweise daran gewöhnen, für die Lieferungen zu bezahlen. In Großbritannien und den USA hat Aldi bereits Erfahrungen mit dem Thema E-Food gemacht.