Innenstädte Öffnen und neu denken

Weg vom reinen Versorgungsstandort hin zum Wohlfühlzentrum – das ist der Weg zur neuen Normalität der von Corona malträtierten Innenstädte. Das heißt machen und nicht grübeln.

Montag, 15. März 2021 - Management
Dieter Druck
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Die Rufe nach der Belebung unserer Innenstädte hallen durchs Land. Sie werden lauter, aber werden sie auch erhört? Innenstädte erweisen sich als komplexes System, das seit März 2020 und spätestens nach dem zweiten Corona-Lockdown durcheinandergewirbelt wird, aber länger schon eine gewisse Schwächesymptomatik zeigt. Durch Corona potenziert sich diese.

Die verhaltenen, stufenweisen Wiedereröffnungspläne der Bundesregierung stoßen nach einem Jahr Pandemie mit etlichen Rückschlägen auf Skepsis. Der Inzidenzwert ist kein wirklicher Maßstab mehr, die versprochenen Finanzhilfen kommen nicht an beziehungsweise fließen nur spärlich. Angestrebte Wiedereröffnungstermine platzen, die Einführung kostenloser Selbsttests verzögert sich, ebenso die Pro‧gnosen bis zur Durchimpfung der Bevölkerung.

„Die Lage im Handel ist dramatisch“, betont HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth unter Berufung auf eine aktuelle Umfrage des Verbandes unter mehr als 2.000 Händlern. Mindestens 50.000 Unternehmen seien akut in Insolvenzgefahr, und jeder weitere Tag des Lockdowns werde diese Zahl erhöhen. Rund 250.000 Jobs seien akut gefährdet. „Ohne passgenaue staatliche Unterstützung und ohne Öffnungsperspektive werden in vielen Innenstädten in den kommenden Wochen die Lichter ausgehen.“

Der Online-Handel boome, und Corona habe diesen Wandel verstärkt. Eine Ursache für Leerstand in Innenstädten seien die Mieten, sagt Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages. „Gerade kleinere inhabergeführte Einzelhändler schaffen es bei sinkenden Umsätzen oft nicht mehr, die hohen Mietforderungen der Immobilieneigentümer zu erfüllen. Sie müssen dichtmachen, wenn es ihnen nicht gelingt, die Mietbedingungen ihrem Umsatz anzupassen.“ Damit gehe Individualität und Besucherfrequenz in den Innenstädten verloren, sagt Dedy. Gleichzeitig durchforsten die mehr oder weniger großen, innerstädtischen Ankermieter angesichts der Online-Expansion ihre Filialstandorte und machen dabei in der Regel dicht und nicht auf. Dadurch entstehen weitere Lücken.

Die Innenstädte müssten neu gedacht und weiterentwickelt werden. Aber wo anfangen? „Wir sind längst in einer digitalisierten Welt angekommen“, konstatiert Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, aber die offenbar noch nicht in den Innenstädten. Die Kommunen und viele Unternehmen haben bislang zu wenig in die Digitalisierung investiert, obwohl die Entwicklung bereits weit vor der Pandemie eindeutig erkennbar war. Auch Staat, Bundesländern und Kommunen fehlen aus Sicht des Bundesverbandes E-Commerce und Versandhandel Deutschland e. V. (bevh), selbst für ihre hoheitlichen Aufgaben, digitale Visionen. Ebenso werde die fortschreitende Digitalisierung sowie der rasch wachsende Online-Handel als ursächlich für einen bereits länger andauernden Erosionsprozess vieler Zentren ausgemacht, nicht aber als Kern der Lösung gesehen, so der bevh.
Der stationäre Handel versucht bei geschlossenen Türen, beispielsweise mit Click & Collect oder dem Einkauf zu individuell vereinbarten Terminen etwas abzufangen. Das ist meist keine grundlegende Maßnahme, sondern oftmals aus der Not heraus geboren, situativ und nicht konzeptionell auf Standort und die dort bestehenden Kundenstrukturen und -ansprüche abgestellt. „Neue Serviceangebote der stationären Händler sind für viele Konsumentinnen und Konsumenten interessant, allerdings erst wenig bekannt und somit noch kaum genutzt.“ Zu diesem Schluss kommt der Corona Consumer Check des IFH KÖLN im vergangenem Februar. Also dürfte in diesem Fall, trotz der guten aktuellen Performance, sich dieser Service künftig relativieren.

Am Online-Boom teilhaben
Den kann beispielsweise das Projekt Fashionbox in Mönchengladbach bieten, als zentrales von der Stadt initiiertes, innerstädtisches Abhol- und Testcenter für online bestellte Kleidung. Hier kann der Kunde seine online bestellte Ware, gleich ob von Zalando, Amazon oder regionalen Anbietern, entgegennehmen, in Umkleidekabinen mit großen Spiegeln an- und ausprobieren, sich gleichzeitig mit Freunden zum Plausch nebst gleichzeitiger Begutachtung treffen und das gastronomische Angebot nutzen. Gleichzeitig ist die Retourenabwicklung schneller und einfacher. Der Test läuft, und im Idealfall ergibt sich daraus ein Treffpunkt mit sozialer Komponente und Erlebniswert/Entertainment, welcher negative Online-Effekte für die Innenstadt quasi im Sinne eines Umkehrschubs auffängt.

Boris Hedde, Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung IFH KÖLN, sieht die Zeit gekommen, die reine Einkaufsfokussierung beim Innenstadtmarketing und bei den Handelsunternehmen hinter sich zu lassen. „Natürlich ist der Einkaufsbummel nach wie vor der Hauptanlass für den Innenstadtbesuch bei allen Altersgruppen, jedoch insbesondere die Jüngeren erwarten von Städten heute Erlebniswert, Kultur, Entertainment und Treffpunkte. Eine Wandlung vom reinen Versorgungsstandort zum Wohlfühlstandort. „Das können auch Handelsunternehmen befeuern“, ist er überzeugt.

Hedde sieht insbesondere jetzt die Zeit für zukunftsweisende Experimente gekommen. Nicht alles konzeptionell durchplanen bis zur letzten Schraube, sondern sich auch gedanklich Freiräume schaffen. Dazu gehört auch die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger und ihrer Vorstellungen sowie Erwartungen an die Innenstadt, so, wie die Fuldaer Zukunftswerkstatt die Ideenfindung angeht.

Der LEH ist schon dabei
Welche Rolle spielt bei der Revitalisierung der Innenstädte der Lebensmitteleinzelhandel (LEH), der sich in den Vorjahren eher aus der City zurückgezogen hat? Hedde bewertet den LEH generell als einen Frequenzbringer, bei dem im Vergleich zu anderen Einzelhandelssparten mehr Kundinnen und Kunden häufiger einkaufen – und das darüber hinaus ziel- und altersgruppenübergreifend. Dadurch sei der LEH ein potenzieller Kundenmagnet, aber kein genereller Heilsbringer für den innerstädtischen Handel. Natürlich suchen beziehungsweise besetzen auch die Lebensmittelhändler stark frequentierte Standorte, beispielsweise im Umfeld von Nahverkehrsknotenpunkten wie Penny in München, in der Nähe des Königsplatzes, Lidl in der Bayernmetropole am Isartor oder der 35. Aldi in Düsseldorf am Kö-Bogen II, mit dem Aldi Süd die Erschließung urbaner Standorte fortsetzt. Aktuell leben bei steigender Tendenz mehr als 77 Prozent der Bundesbürger in Städten. Parallel nimmt die Zahl der Ein- bis Zwei-Personen-Haushalte weiter zu. Wenn die Städte aber von den Menschen als Wohn-, Lebens- und Kulturräume zurückerobert werden, dann sind Nachbarschaftsangebote und Stammhändler und -kunden damit eingebunden und profitieren von einer allgemeinen Frequenzsteigerung. Die enge Verknüpfung von Wohnraum und LEH macht Schule.

Damit sind urbane Standorte auch für Rewe- und Penny-Standorte Zielpunkte. „Durch flexible, angepasste Konzepte und durch Modularisierung leisteten beide Vertriebslinien einen entscheidenden Beitrag zur Lokalität und zum wohnortnahen Einkauf“, heißt es in Köln. Die Rewe-Märkte in den Innenstadtlagen und Quartieren seien mit ihren flexiblen Verkaufsflächen und standortspezifisch abgestimmten Sortimenten „echte Vollsortiments-Nahversorger“. Darüber hinaus positioniere sich Penny als Nachbarschaftsmarkt und spreche „seine“ Nachbarn direkt an. Penny gibt nicht nur jedem Standort einen eigenen Namen, sondern entwickelt für jeden Markt auch das passende Flächen- und Sortimentskonzept. 

Tegut liefert ebenfalls zwei gute Beispiele: zum einen das Konzept des ‧digitalen und nachhaltigen Kleinstladens „tegut… teo“. Durch flexible Öffnungszeiten können die Menschen nahezu rund um die Uhr einkaufen. Mit der Tegut-App geht das schnell und unkompliziert. Gerade nachdem in Fulda die Ausgangssperre aufgehoben war, konnte man sehen, dass die Menschen den „teo“ wieder genutzt haben. „Er aktiviert also die Menschen vorbeizukommen“, ist man in der Tegut-Zentrale überzeugt. Zum anderen kommt das neue Konzept „QUARTIER“. Der Erstling hat jetzt in Fulda in der Bahnhofstraße eröffnet. Dabei setzt Tegut auf ein Sortiment, das die Menschen zu einer „abwechslungsreichen, ausgewogenen Pause animiert“.

Stationäre Erlebniswelten
Nichtsdestotrotz bestimmt der gesamte stationäre Einzelhandel nach wie vor den Erlebniswert und trägt maßgeblich dazu bei, wie attraktiv deutsche Innenstädte wahrgenommen werden. Weitere Top-Treiber für den Erlebniswert sind Sehenswürdigkeiten sowie Freizeit- und Kulturangebote. Um Stadtzentren attraktiver zu gestalten – nicht zuletzt, um die geschlossenen Innenstädte nach Corona zu revitalisieren –, gilt es, Verantwortliche von Städten, Handel und der Immobilienbranche an einen Tisch zu bringen. Auch die Digitalisierung und eine zukunftsorientierte Positionierung von Städten – etwa durch den passenden Online-Auftritt – sind oft noch ein Manko. Hier besteht Handlungsbedarf – schließlich kaufen zwei Drittel der Innenstadtbesucher (auch) online ein.

Die Alten sind ja noch halbwegs treu, aber die Städte müssen für jüngere Zielgruppen attraktiver werden. Der klassische Einkaufsbummel ist das Hauptmotiv für den Besuch von Innenstädten – vor allem für ältere Personen (65 Prozent). Bei jüngeren Menschen unter 25 Jahren gibt die Hälfte an, zum Einkaufen in die Stadt zu kommen. Dafür sind Gastronomie oder Behörden-/Arztgänge für jüngere öfter ein Besuchsanlass als bei älteren Menschen. Für die Praxis bedeutet das: Ein Blick auf die Einwohnerstruktur und die speziellen Bedarfe der Zielgruppen vor Ort ist unerlässlich bei der Konzeption zukunftsfähiger Innenstadtmodelle.