HIT 2022 Der Geldbeutel wird zunehmend geschont

Inzwischen ist dies schon (fast) die dritte HIT-Befragung zu Corona-Zeiten. Zwar scheint die Pandemie derzeit wieder eine Sommerpause einzulegen, aber für den Herbst gibt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach noch nicht wirklich Entwarnung. Und die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs zeigen sich bei den Herstellern und in den Regalen. Fünf Thesen zur aktuellen Welt der Lebensmittel.

Dienstag, 14. Juni 2022 - HIT Produkte 2022
Andrea Kurtz, Reiner Mihr
Artikelbild Der Geldbeutel wird zunehmend geschont
Bildquelle: Peter Eilers

Der Lebensmittelhandel hat sich in der Corona-Pandemie als sicherer Versorger bewährt. Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bilden allerdings die nächste Herausforderung. Dennoch schafft der LEH es derzeit, trotz erneuter Engpässe und Lieferschwierigkeiten (die teils leeren Öl-Regale und die zeitweise immer noch großen Lücken bei Nudeln und anderen Trockenprodukten) die Versorgung der Bevölkerung reibungslos zu sichern. Was aber geschieht, wenn die „normalen“ Zeiten doch nicht so richtig wieder einkehren wollen?

Die Zeichen stehen für den Verbraucher auf Sparen, schon wegen der hohen Energiekosten, die künftig aufgewendet werden müssen. Die Marktforscher melden einen ersten Run auf die Eigenmarken des Handels sowie auf die Marken im unteren Preissegment. Und auch die Discounter scheinen beim Kunden wieder höher im Kurs zu stehen als die Lebensmittel-Vollsortimenter, die sich zu Pandemie-Zeiten zur Hauptanlaufstelle für alle Lebensmittel entwickelt hatten.

Die Lebensmittel Praxis hat Fred Hogen, den Market Leader DACH vom Marktforschungsunternehmen Nielsen IQ mit fünf Thesen zur Zukunft der Lebensmittelwelt im Jahr 2022 konfrontiert.

Hier seine vielschichtigen Reaktionen:

These 1:
Die wirtschaftlichen Aussichten allgemein und Preissteigerungen in allen Bereichen des Lebens sind ein Konjunkturprogramm für die Discounter und die Marken im Preiseinstieg.

Nein, die bisherigen Krisen – egal ob die Corona-Pandemie oder aber die bereits weiter zurückliegende Finanzkrise von 2008 und 2009 mit ihren jeweils schwierigen wirtschaftlichen Aussichten – haben jeweils keinen starken Trend zu Discountern und Eigenmarken gezeigt. Die aktuelle Krise ist aber nicht 1:1 vergleichbar aufgrund der seit Langem nicht dagewesenen Höhe der Inflation und des neuen Aspektes der Existenzangst, den der Krieg in der Ukraine ausgelöst hat. Doch unsere Daten zeigen seit Jahresbeginn noch keine Entwicklung hin zu Discountern oder Preiseinstiegsmarken.
Im Gegenteil: Der Marktanteil der Discounter am Lebensmittelhandel bleibt in den ersten vier Monaten stabil bei 44 Prozent, der Eigenmarkenanteil im Lebensmittelhandel insgesamt wächst nur geringfügig auf 40,4 Prozent.

These 2:
Da die Inflation noch länger anhalten wird, geraten die Markenhersteller immer mehr unter Druck. Die Ausgaben für den Konsum sinken.

Davon ist nicht unbedingt auszugehen. Zwar steigt die Inflation bereits seit Anfang 2021 stärker als zuvor, doch ein Rückgang der Konsumausgaben ist seitdem nicht zu sehen, auch nicht für Markenhersteller. Preissteigerungen wirken grundsätzlich positiv auf die Umsätze im Lebensmitteleinzelhandel und in den Drogeriemärkten.
Eine aktuelle Befragung in unserem Consumer Panel hat zudem gezeigt, dass bei steigenden Preisen nicht unbedingt als Erstes die Markenhersteller „abgestraft“ werden. Die Hälfte der Befragten gibt an, die Preise im Regal zuerst einmal genauer zu vergleichen. So gilt erst einmal: Das teuerste Produkt im Regal hat die schlechtesten Karten.

Wir nehmen aber an, dass je höher die Inflation noch steigt oder je länger sie anhält, noch mehr Maßnahmen ergriffen werden, um den Geldbeutel zu schonen. Ebenso erwarten wir einen leichten Rückgang beim Einkaufsvolumen, denn auf nicht notwendige Produkte wird mehr und mehr verzichtet. 45 Prozent der deutschen Verbraucher kaufen nur noch die Dinge ein, die sie wirklich benötigen.

These 3:
Argumente wie „biologisch erzeugt“, „Tierwohl“, „nachhaltig“, „regional“ oder „fair gehandelt“ werden weniger wichtig, weil es sich ein Großteil der Konsumenten nicht mehr leisten kann, nach diesen Kriterien einzukaufen.

Das ist differenziert nach Zielgruppen zu betrachten. Im Rahmen unserer aktuellen „Bewusste Konsumenten“-Studie zum Beispiel unterscheiden wir sieben Verbrauchertypen. Darunter fallen auch die sogenannten „naturnahen Verbraucher“, die erwartungsgemäß auch weiter nicht auf den Konsum von Bioprodukten verzichten werden. Auch ist das Thema Tierwohl nach wie vor von Relevanz. 26 Prozent der deutschen Haushalte sprechen sich dezidiert gegen schlechte Haltungsbedingungen aus. Der ethische Gesichtspunkt hat also für Deutsche weiterhin einen hohen Stellenwert. Spannend zu sehen ist auch, dass deutsche Verbraucher umweltbewusster und nachhaltiger einkaufen als ihre europäischen Nachbarn.

These 4:
Der vollsortierte Supermarkt muss wegen schwieriger Rahmenbedingungen vermehrt auf seine Eigenmarken setzen. Echte Marken werden weniger, nur sehr starke Marken behalten ihre Berechtigung.

Der Trend zu Eigenmarken im Vollsortiment besteht schon länger. Die Vollsortimenter sind weiter erfolgreich darin, im Bereich der Eigenmarken ihr Angebot zu differenzieren. Das hat mehrere Gründe, darunter beispielsweise Auslistungen von Markenherstellern aufgrund der Preise, sodass Lücken geschlossen werden müssen, oder aber auch die Tatsache, dass das Erscheinungsbild und die Qualität der Handelsmarken immer häufiger als mit Marken vergleichbar angesehen werden. Der Handel stellt sich durch Investitionen und Innovationen in die Eigenmarkensegmente sowie durch die Listung von Start-ups und Exklusivmarken weiterhin stark gegenüber den Produkten der Industrie auf.

Ein Blick auf die aktuellen Zahlen ergibt, dass auch in den ersten vier Monaten 2022 die Eigenmarkenanteile beim Vollsortiment, also bei den Verbraucher- und Supermärkten, gestiegen sind: Um einen Prozentpunkt, von 21,4 auf 22,4 Prozent. Beim für das Handelsmarkengeschäft besonders wichtigen Discount gingen die Eigenmarkenanteile hingegen leicht, genau um minus 0,7 Prozentpunkte, zurück. Selbst in den Wochen seit Kriegsbeginn ergibt sich kein deutlich anderes Bild.

These 5:
Die steigende E-Commerce-Nachfrage bei FMCG wird die Handelslandschaft in Deutschland 2022 nachhaltig durcheinanderwirbeln.

So kurzfristig, nein. Insgesamt sehen wir im FMCG-Bereich ein Wachstum von über 20 Prozent, deutlich getrieben durch eine wachsende Anzahl von Online-Shopping-Trips. Der E-Commerce-Anteil bei Food liegt bei rund 1 Prozent, bei Nearfood bei knapp über 4 Prozent.

Ganz spannend: Die Entwicklung bei Nearfood ist überdurchschnittlich stark durch den OTC-Bereich und Produkte rund um Gesundheit und Fitness getrieben. Ein starkes Wachstum beobachten wir auch im Getränkebereich. Spirituosen verzeichnen beispielsweise im aktuellen Jahr ein Plus von knapp 25 Prozent beim Umsatz, alkoholfreie Getränke wachsen um 23 Prozent.

Aber trotz des Wachstums im letzten Beobachtungszeitraum ist hierzulande immer noch kein vollständiger E-Commerce-Durchbruch festzustellen. Das sieht in Großbritannien oder in Frankreich ganz anders aus. In diesen Ländern ist die Einkaufsfrequenz höher und sind die Warenkörbe größer. Das liegt vor allem am höheren „Click and Collect“-Anteil. Die Verbraucher tätigen ihre „Big-Trolley-Einkäufe“ online und holen sie nur noch ab, zum Beispiel auf dem Heimweg von der Arbeit.

Mit Blick zurück auf Deutschland und auf die nächsten Jahre erwarten wir weiterhin einen Anstieg der E-Commerce-Nachfrage, auch getrieben durch die Dynamik der sogenannten Quick-Commerce-Player. Allerdings wird es kurzfristig aufgrund der heutigen Händlerstruktur mit dem begrenzten flächendeckenden Angebot für das Online-Liefergeschäft und durch die hohe Geschäftsdichte im Lebensmittelhandel und bei den Drogeriemärkten in Deutschland keinen kurzfristigen Umbruch geben.