Ukraine „Kornkammer“ unter Beschuss

Verminte Felder, angespannte Getreidemärkte, zerstörte Supermärkte. In der Ukraine muss die Lebensmittelbranche enorme Herausforderungen meistern. Das Land zählt auf die Solidarität westlicher Länder.

Sonntag, 23. Juli 2023 - Hersteller
Santiago Engelhardt
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Bildquelle: Getty Images

Die Ukraine gehört weltweit zu den größten Exporteuren für Weizen, Sonnenblumenöl und Mais. Doch der Krieg brachte die Produktion und den Export landwirtschaftlicher Produkte teilweise zum Erliegen. Wurden im Jahr 2021 in der sogenannten Kornkammer Europas 33 Millionen Tonnen Weizen geerntet, waren es im Jahr 2022 nur noch 26 Millionen Tonnen. Und die nächste Ernte scheint nicht besser zu werden, da allein die Anbaufläche für Weizen in der Ukraine um ein Drittel geringer ausfällt. Dabei sind verminte Felder, die nicht mehr bestellt werden können, nicht das einzige Problem in diesem Land. Die Trockenheit und der blockierte Transport machen der Branche zusätzlich zu schaffen.

Die Situation wirkt sich auch massiv auf den Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus. Vor dem Krieg exportierte die Ukraine 90 Prozent des Weizens über ihre Häfen an der Schwarzmeerküste. Nun sind die meisten Häfen zerstört oder sie werden von der russischen Marine blockiert. Im Juli 2022 einigten sich beide Länder auf die Ausfuhr von Millionen von Tonnen ukrainischen Getreides (Schwarzmeer-Getreide-Initiative). Mitte Mai wurde das Abkommen nach langen Verhandlungen mit der russischen Regierung erneut um 60 Tage verlängert. Ein ungehinderter Export landwirtschaftlicher Güter aus der Ukraine sei entscheidend, damit die Preise international stabil bleiben und so dazu beitragen, den Hunger in vielen Entwicklungsländern zu bekämpfen, meinen die Experten des UN-Welternährungsprogramms. Dennoch ist der Erhalt des Abkommens durch ständige Unsicherheiten bedroht und bietet wenig Planungssicherheit für die Produzenten und Exporteure.

Statt mit dem Schiff werden immer größere Mengen an Getreide mit Lastwagen oder auf der Schiene über Polen und Rumänien exportiert. Dieser Weg ist allerdings mit großen Hürden verbunden. Zum einen treibt der hohe Kraftstoffpreis die Transportkosten in die Höhe, zum anderen fehlt es der Eisenbahnlogistik schlichtweg an den nötigen Kapazitäten für solch große Getreidemengen. Logistikunternehmen beklagen zudem, dass die Abfertigung an den Grenzen nur sehr schleppend laufe. Hinzu kommt: Durch die Aufhebung der Zölle auf ukrainische Importe wurde das ukrainische Getreide günstig und konkurrierte mit Ware aus Polen, Bulgarien und anderen Grenzländern. Die Solidarität der Nachbarstaaten wurde auf die Probe gestellt, befürchteten sie doch eine Marktverzerrung. Proteste der Bauern in den Grenzländern konnten nur mit weiteren Agrarhilfen und dem Versprechen, dass das ukrainische Getreide nicht mehr in den Grenzländern verkauft werden dürfe, gedämpft werden. Zudem durfte das Getreide die Grenzländer nur für den Export in andere EU-Länder passieren.

4,1

Mio. Hektar Weizen wurden in der Ukraine 2023 angesät. Vor dem Krieg waren es 6,2 Millionen Hektar.

Quelle: Schätzungen des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums

64

Prozent des im Rahmen der Schwarzmeer-Getreide-Initiative ausgeführten Weizens gingen an Entwicklungsländer.

Quelle: Gemeinsame Koordinierungsstelle der Schwarzmeer-Getreide-Initiative

38

Mio. Tonnen Getreide, Ölsaaten und andere Erzeugnisse wurden seit Mai 2022 über Solidaritätskorridore exportiert.

Quelle: Rat der EU und des Europäischen Rates

Vom Helfer zum Hilfesuchenden
Dem UN-Welternährungsprogramm (World Food Programme) zufolge ernährt die Ukraine 400 Millionen Menschen. „Das Absurde an der Situation ist: Vor dem Krieg war die Ukraine quasi der Supermarkt der Welt. Das Land hat Lebensmittel in die ganze Welt exportiert und die Not in vielen Krisenherden gelindert. Nun sind viele Ukrainer auf die Hilfe anderer Länder angewiesen“, sagt Marianne Ward, stellvertretende Direktorin für die Ukraine bei dieser UN-Organisation. Die Folge: Das UN-Welternährungsprogramm, das seine Aktivitäten in der Ukraine 2018 eingestellt hatte, ist wieder aktiv.

German Food Bridge bleibt erhalten
Solidarität erfuhren die Ukrainer unter anderem aus den westlichen Ländern. So haben der deutsche LEH und die Ernährungswirtschaft große Mengen an Lebensmitteln für die Ukraine gespendet, sagt Susanne Galle, Sprecherin des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Das BMEL hatte kurz nach der russischen Invasion die Koordinierungsstelle „German Food Bridge“ ins Leben gerufen. Darüber haben 107 Organisationen 14.485 Paletten Lebensmittel gespendet. Mittlerweile habe sich die Verfügbarkeit von Lebensmitteln in der Ukraine zwar deutlich verbessert. Doch nun erschweren finanzielle Probleme der Ukrainer den Zugang zu Lebensmitteln. Die German Food Bridge wird deshalb weiter aufrechterhalten. Spenden können weiterhin über die German Food Bridge abgewickelt werden.

Nach Ausbruch des Krieges hatte auch das Import Promotion Desk (IPD) reagiert. Das IPD dient als wichtige Schnittstelle zwischen europäischen Importeuren und Exporteuren in ausgewählten Entwicklungs- und Schwellenländern. Dazu zählt auch die Ukraine. Seit 2018 unterstützt das IPD ukrainische Produzenten beispielsweise von frischem Obst, Gemüse und natürlichen Zutaten für Lebensmittel beim Export nach Europa. Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat das IPD das Sonderprogramm „Ukraine Special Programme“ (UASP) ins Leben gerufen. Ziel ist es, europäische Händler mit exportfähigen Produzenten zusammenzubringen. Viele ukrainische Unternehmen, die an dem Programm teilnehmen, exportieren unter anderem Äpfel, Blaubeeren, getrocknete Früchte, grüne Linsen, Amaranth-Flakes und Melonen. Die Leiterin des IPD, Dr. Julia Bellinghausen, erklärt gegenüber Lebensmittel Praxis: „Viele Importeure haben großes Interesse daran, Produkte aus der Ukraine zu beziehen und Handelspartnerschaften aufzubauen.“ So konnten rund 860 Geschäftskontakte zwischen ukrainischen Firmen und europäischen Importeuren vermittelt werden. 49 Geschäftsabschlüsse wurden bisher erzielt. Damit erwirtschafteten die ukrainischen Unternehmen ein Exportvolumen nach Europa von rund 6,7 Millionen Euro.

Investitionsgarantien für Exporte
Um deutschen Firmen die Arbeit in der Ukraine zu ermöglichen, sichert die Bundesregierung laut der Deutschen Presseagentur aktuell elf Projekte in der Ukraine mit 21 Investitionsgarantien mit einer Kapitaldeckung von insgesamt 221 Millionen Euro ab. Auch deutsche Exporte in die Ukraine in Höhe von 144,2 Millionen Euro (2022) sind dabei, wie der Pharma- und Pflanzenschutzkonzern Bayer. Obwohl dessen Saatgutfabrik gleich zu Kriegsbeginn angegriffen wurde, beschloss das Unternehmen, trotzdem weitere 60 Millionen Euro in eine Erweiterung der Kapazitäten zu investieren, da die Ukraine laut Bayer der beste Standort für die Saatgutproduktion in Europa sei.

Wiederaufbau der Supermärkte
Seit Kriegsbeginn gehören Granateinschläge und mangelnde Stromversorgung auch zum Alltag ukrainischer Lebensmittelhändler. Zerstörte oder von russischen Soldaten geplünderte Supermarktfilialen wurden zu 95 Prozent wieder instand gesetzt. Die Supermärkte von Silpo (Fozzy Gruppe), die früher europaweit für ihr opulentes Ladendesign bekannt waren, sind nun nüchtern und praktisch eingerichtet. Unter anderem sind neue Filialen mit Dieselgeneratoren und Starlink-Kommunikationssystemen ausgestattet. Die Mitarbeiter in den Märkten haben gelernt, von Granateinschlägen zerstörte Schaufenster selbst zu ersetzen.

Große Player wie Silpo haben es verstanden, die Herausforderungen des Krieges zu meistern. Wie Dmytro Tsyhankov, Marketing Director von Silpo, berichtet, sei der Umsatz wegen der geflüchteten Verbraucher und der Gebiete, die nun unter russischer Kontrolle stehen, zwar um 20 Prozent zurückgegangen. Wegen der Inflation sei der Umsatz etwa so hoch wie in dem Jahr vor dem Krieg. Tshyankov weiter: „Selbst am Tiefpunkt hat Silpo 80 Prozent seiner 320 Märkte betrieben. Wir verloren Märkte in vorübergehend besetzen Gebieten, andere wurden zerstört, aber die Lage verbessert sich kontinuierlich.“ Trotz der Probleme – oder gerade deswegen – investieren Unternehmen wie Silpo auch in neue Verkaufsflächen.