Silvia Schulz Handeln und verteilen

Seltsam: Es ist noch gar nicht so lange her. Ich kann mich noch sehr gut an den 10. und 11. November 1989 erinnern. Die Kaufhallen im Ostteil der Stadt Berlin waren wie leergefegt. Erinnerungen einer Vollblutverkäuferin.

Donnerstag, 21. Oktober 2010 - Management
Silvia Schulz
Artikelbild Handeln und verteilen
Bildquelle: Silvia Schulz

Von Handel konnte zu DDR-Zeiten nicht die Rede sein. Es ging um Verteilung und Versorgung. Meist um Versorgung mit Waren des täglichen Grundbedarfs. So hieß das zuständige Ministerium auch: Ministerium für Handel und Versorgung. Alles andere unterlag der Mangelwirtschaft und damit der Zuteilung. Auch wenn manche Lebensmittel im Osten produziert wurden: So lange damit Devisen zu erzielen waren, wurde ins Ausland verkauft.

Die Versorgungsknappheit in der DDR hatte für Händler auch eine positive Seite. Er hatte Zugriff auf H-Milch, Berliner Pils, Rosenthaler Kadarka, Klostergeflüster, russischen Sekt, Mandarinen, Ananas und Pfirsiche in Dosen, ungarische Salami, Rinder- und Schweinefilet .... Und der Verkäufer war angesehen. Im Osten hieß es: „Die arbeitet im Handel, die müssen wir uns warm halten". Leider heißt es heute eher, die hat nichts Vernünftiges gelernt und sitzt beim Discounter an der Kasse.

An die Öffnungszeiten im Ost-Handel darf man sich – ohne als Ostalgiker abgestempelt zu werden – gerne erinnern. Montag bis Donnerstag von 8 bis 18.30, Freitag bis 20 und samstags war noch nicht einmal halbtags von 8 bis 11.30 Uhr geöffnet. Obwohl Öffnungszeit nicht gleich Arbeitszeit war. Heute sind die Öffnungszeiten im Handel kundenfreundlicher, doch zu welchem Preis?

Prinzipiell wurde im Osten im Zweischichtsystem gearbeitet, Vollzeit hieß 42 Wochenstunden bei vollem Gehalt. Plus Schichtzuschläge und Zusatzurlaub. In größeren „Versorgungseinrichtungen" gar im Dreischichtsystem. Nahezu die komplette Ware wurde nachts angeliefert und von Auffüllern in die Regale verräumt. 3-Schicht-Arbeiter hatten im sozialistischen Handel eine 40-Stundenwoche und bekamen ebenso Schichtzuschläge und Zusatzurlaub. Die Bezahlung im DDR-Handel bot mehr Regulierung. Es gab ein festes Grundgehalt und einen leistungsabhängigen Anteil (MLL). Wenn der Verantwortliche damit gewissenhaft umging, konnten Mehr-Leistungen tatsächlich honoriert werden.

Mangelwirtschaft überall

Im Osten herrschte prinzipiell Ressourcenknappheit. Sei es bei Tüten, Netzschläuchen, Einpackpapier, Zuschnitten, Kassenrollen oder Büropapieren. Papier wurde prinzipiell von beiden Seiten beschrieben. Blaupapier wurde so lange benutzt, bis gar nichts mehr zu lesen war. Und Kataloge wurden zigmal überklebt: Ein 20-Seiten-Katalog wurde schnell zu einem dicken Wälzer. Die materiell-technische Basis (MTB) im sozialistischen Handel, sprich die technische Ausstattung der Handelseinrichtungen, möchte gewiss auch nicht der letzte Anhänger der DDR zurückhaben. Es gab Gabelhubwagen, die schwerer waren als die zu befördernde Ware, mechanische Kassen, Neigungsschaltwaagen. Apropos Neigungsschaltwagen – die hatten auch ihr Gutes. Lehrlinge, Verzeihung Azubis, lernten an diesen wirklich rechnen. Wer dabei schnell genug war, durfte im Außenverkauf Schmackazien wie Erdbeeren, Pfirsiche und Weintrauben verkaufen.

Beliebt waren im sozialistischen Handel die ALB (Arbeits- und Lebensbedingungen). Nach denen darf man sich zurücksehnen. ALB das hieß: betriebseigene Kantinen, in denen selbst gekocht wurde, betriebseigene Kinderferienlager und Ferienheime. Für kleines Geld. Nicht unerwähnt möchte ich den Tag des Handels lassen, an dem es alljährlich Auszeichnungen regnete. Kleine Motivationen, die an Prämien gekoppelt waren. Es gab Betriebskinderferienlager und betriebseigene Ferienheime für Mitarbeiter. Ebenfalls für kleines Geld.

Aber es gab auch den gesellschaftlichen Zwang, sich als Verantwortliche einzubringen. So bekam man die Leitung einer größeren Kaufhalle nur, wenn man Parteibuch und ein abgeschlossenes Studium vorweisen konnte. Heute reicht das fachliche Zeug dazu.

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Silvia Schulz ist gelernte Fachverkäuferin und Diplom-Ökonomin. Nach der Wende arbeitete sie u.a. für Kaiser's Tengelmann.

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Silvia Schulz auf einem Foto von 1982. In der DDR leitete sie eine HO-Kaufhalle im Ostteil Berlins.

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