Mindestlohn Angriff auf die Tarifautonomie

Hubertus Heil (Foto) hat vor ersten Ergebnissen der Mindestlohnkommission ein deutliches Signal gesetzt, „was er erwartet“. Damit sehen sich Kritiker bestätigt: Löhne werden mehr und mehr zum politischen Spielball.

Mittwoch, 03. Mai 2023 - Strategie
Tobias Dünnebacke
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Es sollte eine Ausnahme bleiben: das Wahlversprechen der SPD, den Mindestlohn von 9,50 Euro auf 12 Euro je Stunde anzuheben. Ausnahme deshalb, weil dieser Anstieg von 26 Prozent die Mindestlohnkommission im Prozess quasi ausgesperrt hat. Die in Deutschland geltende Tarifautonomie sieht aber vor, dass nicht der Staat die Löhne festsetzt, sondern dies den Sozialpartnern überlässt. Kritiker sahen im Vorstoß von Kanzler Scholz und seiner Partei einen Angriff auf jene Tarifautonomie.

Akutes Problem: Kaum wurde die Erhöhung im Oktober 2022 gültig, war das Lohnplus durch die Inflation schon wieder weitgehend verloren für die Arbeitnehmer. Von Zurückhaltung bei der Debatte um eine weitere Erhöhung hält Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dann auch wenig: „Im Sommer wird mir die Mindestlohnkommission einen Vorschlag machen. Ich rechne mit einer deutlichen Steigerung.“

Ein Satz, der eigentlich nur als konkreter Arbeitsauftrag zu verstehen ist. Der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Besonders natürlich von der Opposition. Allen voran die CDU beklagt, dass der Mindestlohn nun „völlig zum Spielball eines politischen Überbietungswettbewerbs“ geworden sei. Die gleiche Metapher verwendet der Handelsverband (HDE): „Einmischungen des Bundesarbeitsministers sind kontraproduktiv. Die Festlegung der Höhe des Mindestlohnes droht ansonsten zum Spielball der Politik und ihrem Kampf um die Wählergunst zu werden. Ein solcher Überbietungswettbewerb würde der Wirtschaft schweren Schaden zufügen. Diese Einlassungen des Ministers betrachten wir deshalb mit großer Sorge“, macht HDE-Präsident Alexander von Preen gegenüber der Lebensmittel Praxis deutlich. Ähnlich sehen das Vertreter der Ernährungsindustrie, auch wenn diese weniger stark betroffen ist von dem Thema Mindestlohn. „Die Betriebe der Ernährungs- und Genussmittelindustrie sind nur mittelbar von der Mindestlohnfindung betroffen. Für weniger als 5 Prozent dieser Mitarbeitenden gilt überhaupt der Mindestlohn, die große Mehrheit verdient deutlich oberhalb der Lohnuntergrenze“, erklärt Stefanie Sabet, Hauptgeschäftsführerin Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss, gegenüber LP.

Angst vor Überbietungswettbewerb
Bleibt die Frage, ob sowohl Handel als auch Industrie in Zeiten zum Teil drastischen Fachkräftemangels nicht ohnehin höhere Löhne zahlen müssen, um Personal zu bekommen. Sabet sieht das differenzierter: „Alleine höhere Löhne lösen das Problem des Fachkräftemangels auch nicht. Ein Überbietungswettbewerb lässt die neuen Lücken nur woanders entstehen. Es braucht eine Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials in Deutschland, also neben Erwerbsmigration das Schaffen von Voraussetzungen und Anreizen, mehr in Vollzeit zu arbeiten.“ Ähnlich sieht das der Interessenverband des Handels: „Der Einzelhandel bezahlt schon heute gutes Geld für gute Arbeit. Der Wettbewerb um qualifiziertes Personal wird aber immer härter. Der Mindestlohn spielt in diesen Bereichen aber eher eine untergeordnete Rolle. Denn wo Personal knapp ist, steigen die Gehälter von alleine“, ergänzt von Preen.

Wolfgang Steiger, Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats, macht auf die ohnehin drückende Kostenlast im Zuge der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges aufmerksam. Bereits die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro sei für viele kleine und mittelgroße Unternehmen, die von der Corona-Krise und Energiepreisexplosion schwer getroffen wurden, „ein fataler, politisch verordneter Lohnkostenschock“ gewesen, so Steiger gegenüber der „Welt“. „Entweder müssen diese Unternehmen nun Perso‧nal entlassen, um weiter wettbewerbsfähig zu bleiben; oder sie müssen die Preiserhöhungen an die Kunden weitergeben, was die ohnehin schon viel zu hohe Inflation weiter anheizt.“ Stefanie Sabet plädiert ebenfalls dafür, „ebenso verantwortlich soziale Notwendigkeit und wirtschaftliche Machbarkeit in der Krise bei der kommenden Beschlussfassung zur Mindestlohnentwicklung zu betrachten“. Bleibt abzuwarten, wie unabhängig die Kommission wirklich ist und wie sehr die Worte des Bundesarbeitsministers bei den Tarifparteien nachwirken. Im Juni finden die ersten Treffen statt.

Antworten des HDE-Präsidenten Alexander von Preen: 

Hubertus Heil hat mit Aussagen ein deutliches Signal für die Mindestlohnkommission und deren Beschlüsse im Juni gesetzt. Wie kann das bei Ihren Mitgliedern an?
Entgegen aller Beteuerungen aus der Vergangenheit versucht die Politik nun zum wiederholten Male, Einfluss auf die Festlegung der Höhe des Mindestlohnes zu nehmen. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern es führt die vorgesehene Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission ad absurdum. Es muss jetzt darum gehen, die Kommission ihre Arbeit machen zu lassen. Einmischungen des Bundesarbeitsministers sind an dieser Stelle kontraproduktiv. Die Festlegung der Höhe des Mindestlohnes droht ansonsten zum Spielball der Politik und ihrem Kampf um die Wählergunst zu werden. Ein solcher Überbietungswettbewerb würde der Wirtschaft schweren Schaden hinzufügen. Diese Einlassungen des Ministers betrachten wir deshalb mit großer Sorge.

Wäre eine „deutliche Anhebung“ des Mindestlohns in Zeiten hoher Inflation nicht fair?
Es ist Sache der unabhängigen Mindestlohn-Kommission über eine Anhebung des Mindestlohns zu befinden. Im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung muss es dann natürlich auch immer darum gehen, die Arbeitgeber nicht zu überfordern. Wenn man das richtige Maß verfehlt, kann das viele Arbeitsplätze kosten.

Ist nicht auch der Handel sowieso auf höhere Löhne angewiesen, um genügend qualifiziertes Personal zu bekommen?
Der Einzelhandel bezahlt schon heute gutes Geld für gute Arbeit. Der Wettbewerb um qualifiziertes Personal wird aber immer härter. Der Mindestlohn spielt in diesen Bereichen aber eher eine untergeordnete Rolle. Denn wo Personal knapp ist, steigen die Gehälter von alleine.

Sehen Sie die Tarifautonomie in Gefahr?
Die Tarifautonomie gerät immer dann in Gefahr, wenn sich die Politik zu sehr in die Lohnfindung einmischt und damit das empfindliche Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zerstört. Deshalb ist es so wichtig, dass gerade der Arbeitsminister sich in diesem Bereich zurückhält und die Empfehlung der unabhängigen Mindestlohn-Kommission in den nächsten Monaten abwartet.  

 

Stefanie Sabet, Hauptgeschäftsführerin Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss e.V.: 

Hubertus Heil hat mit Aussagen ein deutliches Signal für die Mindestlohnkommission und deren Beschlüsse im Juni gesetzt. Wie kann das bei Ihren Mitgliedern an?
Die Mindestlohnkommission hat als unabhängiges Gremium, dass paritätisch aus Arbeiternehmer- und Arbeitgebervertretern besetzt ist, Beschlüsse zu fassen, eine politische Einflussnahme von außen widerstrebt ihrem Auftrag. Es muss weiterhin gültig bleiben, dass die Sozialpartner in Deutschland die Löhne verhandeln und nicht die Politik.

Wäre eine „deutliche Anhebung“ des Mindestlohns in Zeiten hoher Inflation nicht fair?
Alle Tarifvertragspartner sind derzeit von der Inflationsentwicklung herausgefordert, eine Lohn-Preis-Spirale muss verhindert werden. Die zuletzt erfolgte Anpassung des Mindestlohns von 10,45 Euro aus Juli 2022 auf 12,00 Euro ab 01. Oktober 2022 war eine überdurchschnittliche Steigerung von 14,8 Prozent in weniger als drei Monaten. Auch die unteren Lohngruppen im Tarifgefüge hat das erheblich unter Druck gesetzt. Die Sozialpartner in der Mindestlohnkommission müssen daher die Tariflohnentwicklung berücksichtigen und ebenso verantwortlich soziale Notwendigkeit und wirtschaftliche Machbarkeit in der Krise bei ihrer kommenden Beschlussfassung zur Mindestlohnentwicklung betrachten.

Ist nicht auch die Industrie sowieso auf höhere Löhne angewiesen, um genügend qualifiziertes Personal zu bekommen? (Hier können Sie darauf verweisen, dass die Branche in der Regel weit darüber liegt)
Die Betriebe der Ernährungs- und Genussmittelindustrie sind nur mittelbar von der Mindestlohnfindung betroffen. Für weniger als 5 Prozent der Mitarbeitenden in der Ernährungs- und Genussmittelindustrie gilt überhaupt der Mindestlohn, die große Mehrheit verdient deutlich oberhalb der Lohnuntergrenze. Dennoch hat jede Mindestlohnanpassung mittelbar eine Signalwirkung besonders für die unteren Tarifentgelte, in etwa ein ungeschriebenes Abstandsgebot. Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Lohnniveau und Fachkräftemangel bleibt festzustellen, dass die Ernährungs- und Genussmittelindustrie was die Höhe der Löhne anbelangt wettbewerbsfähig auf dem Industriearbeitsmarkt ist. Alleine höhere Löhne lösen das Problem des Fachkräftemangels auch nicht. Ein Überbietungswettbewerb lässt die neuen Lücken nur woanders entstehen. Es braucht eine Erhöhung des Erwerbspersonenpotentials in Deutschland, also neben Erwerbsmigration das Schaffen von Voraussetzungen und Anreizen mehr in Vollzeit zu arbeiten.

Sehen Sie die Tarifautonomie in Gefahr?
Der staatliche Eingriff in die Mindestlohnfestsetzung war ein klarer Eingriff in die Tarifautonomie und hat die Tariflandschaft unnötig unter Druck gesetzt. Das Grundgesetz sichert den Sozialpartnern eine Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme zu. Daran muss die Politik sich halten.