„Too Good To Go“ Lebensmittel-Abfall treibt den Preis

Abschriften minimieren, neue Kunden gewinnen, Zusatzumsätze generieren: Die Erfahrungen von Händlern mit der App „Too Good To Go“ fallen messbar positiv aus. Über Fallstricke und Nutzen.

Montag, 26. September 2022 - Management
Bettina Röttig
Artikelbild Lebensmittel-Abfall treibt den Preis
Bildquelle: Too Good To Go

Es sind Zahlen, die immer wieder schwer im Magen liegen. Rund ein Drittel der weltweit für den menschlichen Verzehr hergestellten Lebensmittel gehen pro Jahr verloren. Mit diesem großen ethischen Problem verbunden sind enorme ökologische und soziale Kosten, verschwendete Ressourcen und Umsatzverluste. Allein in Deutschland machen Lebensmittelverluste laut Umweltbundesamt aktuell rund 4 Prozent der nationalen Treibhausgasemissionen aus. „Auch für die aktuell verschärfte Preisdebatte hat der Kampf gegen Lebensmittelverluste eine große Relevanz“, betont Wolfgang Hennen, seit Ende Juni Geschäftsführer von Too Good To Go Deutschland.

Aktuell sei die Verschwendung der Lebensmittel mit eingepreist. „Schaffen wir es, effizienter zu arbeiten und den Großteil der angebauten und verarbeiteten Lebensmittel auch zu nutzen, würde sich das günstig auf die Preise auswirken“, meint er.

Um Bäckereien, Supermärkte, Gastronomie und Co. dabei zu unterstützen, unverkäufliche Produkte zu verkaufen, anstatt sie zu entsorgen, hat Too Good To Go eine App entwickelt, die hierzulande bereits von acht Millionen Bürgern genutzt wird. Aktuell ist der Preis-Hebel bereits ausschlaggebend für den Erfolg der App. Normalerweise seien nachhaltige Angebote meist teurer als konventionelle und daher nicht für jeden verfügbar, so Hennen. So sparten Verbraucher Geld und täten zugleich etwas Gutes für die Umwelt. Im Schnitt zu einem Drittel des ursprünglichen Wertes werden die sogenannten Überraschungstüten angeboten.

Hennen will die Zusammenarbeit mit dem Lebensmitteleinzelhandel deutlich ausbauen: „Wir arbeiten mit allen großen Handelskonzernen zusammen und bekämpfen Lebensmittelverluste bereits in 2.600 Supermärkten.“ Damit bleibe noch „sehr viel Potenzial“, weiß er. Im Handel müsse die Bekanntheit von Too Good To Go noch gesteigert und Überzeugungsarbeit geleistet werden. Die Angst vor einem großen Zusatzaufwand sei eine Hürde, so Hennen, dass diese unbegründet und der Nutzen messbar sei, werde in der Praxis sehr schnell erkannt. Zu den Vorteilen zählen laut Hennen und bereits aktiven Händlern: Zusatzumsätze, geringere Entsorgungskosten, die Ansprache neuer Kunden und eine Verbesserung des ökologischen Fußabdrucks.

Wichtiges Pilotprojekt mit WEZ
2019 startete Edeka WEZ Karl Preuß die Kooperation mit Too Good To Go mit der Backwarenabteilung einer Filiale. „Uns ging es darum, eine Lücke zu schließen“, erklärt Stephanie Albers, Einkaufs- und Marketingleitung bei Edeka WEZ. Obst und Gemüse mit optischen Makeln verarbeiten die Mitarbeiter in den Märkten beispielsweise zu Feinkostsalaten für die Salatbars, der Rest, also Produkte, die sich dem MHD nähern, geht an die örtlichen Tafeln. Da die Tafeln nur zweimal die Woche Ware abholen, galt es, eine Lösung zu finden für überschüssige Backwaren. „Der erste Test war für uns besonders wertvoll, um die Abläufe zu verstehen und für den späteren Roll-out zu optimieren“, sagt Sandra Hepner, verantwortlich für Marketing, Social Media und Nachhaltigkeits-Projekte.

Ein wichtiges Learning: Die Mitarbeiter müssen den Zweck der Kooperation genau verstehen, nämlich dass es darum gehe, Lebensmittel zu retten. Der ein oder andere habe das Engagement jedoch als Sozialprojekt gedeutet. „Wir mussten zu Anfang feststellen, dass vereinzelt quasi für Too Good To Go produziert wurde, also drei Stunden vor Schließung der Theke Ware weggeräumt wurde, die zumindest zum Teil noch verkauft worden wäre.

Auch kritisierten Mitarbeiter, dass ein Kunde mehrere Überraschungstüten kaufe und damit anderen Menschen etwas wegschnappen könnte, erläutert Hepner. So wurde bei der Implementierung der Too-Good-To-Go-Lösung in den Backshops der übrigen Edeka-WEZ-Filialen darauf geachtet, jeden Marktleiter und jeden Mitarbeiter mitzunehmen und umfangreich zu informieren. Die angeschafften Tablets werden auch für andere Tätigkeiten und digitale Schulungen genutzt, so lohnte sich die Investition doppelt.

Zwischen 600 und 700 Paketen pro Woche werden abgegeben, die Abholrate liegt bei 95 Prozent. 3.500 Euro Zusatzumsatz kamen so allein in den vergangenen drei Monaten zusammen – bei gleichzeitiger Reduktion von Entsorgungskosten. „Wir konnten neue Kunden, vor allem jüngere Konsumenten, erreichen, zudem ist das Konzept einfach und gut händelbar im Arbeitsalltag“, ergänzt Albers. Sie kann sich vorstellen, die Lösung auch in anderen Bereichen zu implementieren. Zehn Edeka-WEZ-Filialen bieten einen Mittagstisch an. „Hier könnten wir disponieren, ohne Angst haben zu müssen, dass etwas verschwendet würde, sollte die Nachfrage an einem Tag mal schwächer ausfallen“, so Albers.

Seit März 2021 arbeiten 21 Lüning-Filialen mit Too Good To Go zusammen. Bis zu 600 Überraschungstüten werden pro Woche insgesamt in den Märkten gepackt. Darin: Obst und Gemüse, Backwaren oder auch im Regal verbliebene Saisonware wie Schoko-Osterhasen. Die Kooperation mit Too Good To Go schließt eine Lücke im bereits etablierten Engagement zur Reduzierung von Lebensmittelverlusten von Lüning. Das Unternehmen arbeitet mit den Tafeln und unterstützt einen Wildlife-Zoo. Dennoch blieb einiges übrig.

Greifbare Zahlen verfügbar
Oliver Jasperkaldeweh, Bezirksleiter bei Lüning, zieht ein positives Zwischenfazit zur Kooperation mit Too Good To Go: „Das Konzept wird von unseren Teams in den Filialen durchweg positiv angenommen und mit einem Verständnis umgesetzt wie bei sonst keinem anderen Projekt.“ Schon im ersten Jahr konnte Lüning eine Million Nutzer über die App erreichen und 18.000 Portionen (rund 18 Tonnen) zuvor unverkäuflicher Ware absetzen. Der Zusatzumsatz betrug 50.000 Euro, zudem sanken die Entsorgungskosten, und neue Kunden wurden hinzugewonnen.

Dies bestätigt Netto Stavenhagen, seit Mai 2021 kooperieren alle 343 Märkte des Unternehmens mit der App. „Wir sind ein kleinerer regionaler Player in Deutschland. Mit Too Good To Go können wir unsere Reichweite erweitern“, sagt Sven Selzam, Head of Sales bei Netto Stavenhagen. Das System habe sich sehr gut in das Tagesgeschäft eingefügt. Die Mitarbeiter kontrollierten morgens ohnehin die Qualität sowie das MHD der Produkte und sortieren Produkte aus. Kurz vor Ladenschluss werden die Waren hinzugefügt, die am nächsten Tag nicht mehr verkauft werden können, etwa Teilchen aus den Backregalen oder Überhänge an Obst und Gemüse. Seit Beginn der Kooperation sind 35 Millionen Klicks auf das Netto-Angebot registriert worden, 180.000 Portionen Lebensmittel wurden verkauft anstatt entsorgt.

Die Politik ist gefragt
Wolfgang Hennen hat die Geschäftsführung von Too Good To Go Deutschland übernommen und spricht über Pläne und Hürden.

Welche mittelfristigen Ziele haben Sie sich in Ihrer neuen Rolle als Deutschland-Geschäftsführer von Too Good To Go gesteckt?
Wolfgang Hennen: Wir wollen langfristig in den bestehenden Märkten wachsen und in neue Länder expandieren. In Deutschland sind wir im Bäckerei-Segment mit 4.800 Partnerbetrieben schon sehr gut aufgestellt. Rund 2.600 Supermärkte nutzen die Anbindung an unsere App. Hier müssen wir noch bekannter werden.

Wo sind Hürden für das Wachstum im Lebensmitteleinzelhandel?
Gerade im Umgang mit allgemeinen Kennzeichnungspflichten sehen wir aktuell vor allem im LEH noch Vorbehalte seitens der Händler. Einige Supermärkte befürchten, in der App Produktinformationen wie Zusatzstoffe, Allergene & Co. ausweisen zu müssen. Das ist rechtlich nicht notwendig, da die Lebensmittel in der App nur reserviert werden und der eigentliche Kauf erst bei der Abholung der Ware in der Filiale stattfindet, wo diese Infos zur Verfügung stehen. Natürlich wissen weder unsere Partner noch wir im Vorfeld, welche Lebensmittel übrig bleiben und gerettet werden müssen. Nichtsdestotrotz geben wir in der App Auskunft darüber, welche Lebensmittel grundsätzlich in einer Überraschungstüte landen können. Bei der Abholung vor Ort haben Nutzer ein bedingungsloses Stornierungsrecht und bekommen gegebenenfalls ihr Geld zurück. 

In der Vergangenheit gab es rechtliche Unsicherheiten in der Lebensmittelrettung, sind diese ausgeräumt?
Die Bundesregierung hat richtigerweise im Koalitionsvertrag die Klärung von haftungsrechtlichen Fragen und die Schaffung von steuerlichen Anreizen für Lebensmittelspenden vorgesehen. Entsorgung muss der teuerste und umständlichste Umgang mit überschüssigen Lebensmitteln werden. Frankreich geht hier sogar einen Schritt weiter – dort sind Supermärkte gesetzlich verpflichtet, überschüssige Lebensmittel weiterzugeben.
 
Wo müssen rechtliche Rahmenbedingungen nachjustiert werden, um Lebensmittelverluste zu minimieren?
Freiwilligkeit alleine funktioniert nicht. Im Koalitionsvertrag ist die Verpflichtung zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung entlang der Wertschöpfungskette inklusive branchenspezifischer Reduktionsziele festgeschrieben worden. Jetzt geht es vor allem darum, konkrete Maßnahmen zu definieren und diese zeitnah umzusetzen.

Arbeiten Sie auch mit der Lebensmittelindustrie an Konzepten?
Wir sind mit den Großen der Branche im Gespräch und evaluieren Optionen.