Mit einer alternden Gesellschaft wird das Thema „Wohnen im Alter“ immer präsenter. Ein inzwischen sehr beliebtes Modell bei der Generation 65 + sind Seniorenresidenzen. In ihrem Konzept unterscheiden sie sich deutlich von klassischen Altenpflegeheimen. In Seniorenresidenzen leben die Bewohner innerhalb der Anlage in ihren eigenen kleinen Wohnungen. Je nach Träger und Anbieter umfassen diese zwischen ein und drei Zimmer.
Das Serviceangebot in diesen Residenzen erinnert manchmal beinahe an ein Hotel mit Halbpension. Die Bewohner bekommen je nach Angebot mindestens eine Mahlzeit pro Tag, bei den restlichen versorgen sie sich selbst. Der wohl größte Vorteil für viele: Kommt es später einmal zur Pflegebedürftigkeit, können die Bewohner in ihren Wohnungen bleiben und werden hier von dem Personal gepflegt.
Ein großer Teil des Serviceangebots ist aber für fitte und pflegebedürftige Personen gleichermaßen interessant. Zu dem Gesamtkonzept gehört bei Trägern wie Kursana oder dem Augustinum auch ein angeschlossener hausinterner Lebensmittelhandel.
„Wir hatten schon immer verschiedene Dienstleistungen im Haus. Dazu gehört zum Beispiel der gesundheitliche Bereich wie ein Hausarzt, Physiotherapeuten oder auch die medizinische Fußpflege, aber auch der alltägliche Bedarf wie Banken, Friseur oder eben, in allen unseren Einrichtungen, der Lebensmittelmarkt“, sagt Petra Hellenthal, Direktorin im Augustinum Stuttgart-Killesberg, im Gespräch. Ziel dieser Nahversorgung sei vor allem, die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der Bewohner möglichst lange zu erhalten. Vor allem Menschen mit Gehbehinderung oder anderweitig eingeschränkter Mobilität schätzen die hausinterne Versorgung.
Wer den Zuschlag für die begehrte Kooperation bekommt und die exklusiven Kunden innerhalb der Residenz in Zukunft versorgen darf, ist nicht durch bestimmte Kriterien festgelegt. Einzige Ausnahme ist die Bedingung, dass der Partner die Bedürfnisse der Senioren erkennt und bedient. „Das bedeutet vor allem Freundlichkeit und Dienstleistungsorientierung“, so Hellenthal. Eine Abstimmung über das Sortiment gibt es nicht und auch nicht darüber, ob der Kaufmann komplett frei sein Geschäft führt oder unter dem schützenden Mantel eines der „Big Player“ agiert.
Trotzdem fällt natürlich auf, dass in den meisten Residenzen des Augustinums vermehrt Edeka-Kaufleute ihren Markt haben, während es bei Kursana zum Beispiel häufig Rewe-Kaufleute sind.
Vorteile für Beschaffung
Direktorin Hellenthal hat dafür eine Erklärung: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Produktbeschaffung schwieriger ist, wenn keine Warenbeschaffungskooperation besteht. Dann gibt es Lieferungen mehrmals am Tag, die teilweise die Ruhe und den Ablauf unserer Bewohner stören könnten. Wir sehen daher schon einen klaren Vorteil in einer solchen Kooperation.“
Ob also wirklich jeder Kaufmann und jede Kauffrau eine Chance hat, eine der begehrten Kooperationen mit Seniorenresidenzen einzugehen, bleibt dahingestellt. Aber wirtschaftlich interessant ist ein solch exklusiver Standort für Kaufleute allemal. Denn der Umsatz, den sie dort generieren, ist mindestens ‧silbern.
Eine Win-Win-Situation?
Thorsten Bausch, Geschäftsführer der Enso E-Commerce GmbH, arbeitet unabhängig, hat aber eine Warenbeschaffungskooperation mit Edeka. Die Vorteile sieht er im Sortiment, das aus seiner Sicht kein anderer Partner in diesem Umfang bieten kann. Tatsächlich ist das Sortiment in seinem kleinen „Tante Enso Laden“ im Augustinum Stuttgart-Killesberg vollumfänglich. Das hat auch seinen Grund, denn ähnlich wie in einem bewährten Tante-Emma-Laden von früher sollen die Bewohner des Augustinums hier alles finden, was sie für ihren täglichen Bedarf brauchen. So umfasst das Sortiment im Tante Enso rund 2.500 Artikel. Und der Bedarf der rund 330 Bewohner in der Stuttgarter Einrichtung ist groß.
„Abgesehen von der einen Mahlzeit pro Tag gibt es an diesem Standort keine Vollversorgung“, erzählt Bausch im Gespräch. Zwar haben die Bewohner die Möglichkeit, sich durch zusätzliche Zahlungen auch mit den zwei anderen Mahlzeiten versorgen zu lassen, viele schätzen aber ihre Unabhängigkeit und kochen lieber frisch und kaufen selbst ein. Die meisten erledigen ihre Einkäufe im hausinternen Markt, unabhängig von der Preisgestaltung.
„Die Bewohner der Einrichtung haben ein Haushalts-Nettoeinkommen, das in der Regel höher ist als im Durchschnitt“, sagt Bausch. „Für uns speziell bedeutet das, dass wir nicht mit Angeboten arbeiten. Preisdumping gibt es bei uns nicht, dafür hohe Qualität zum unverbindlichen Verkaufspreis des Herstellers.“ Zwar gebe es auch Discounter außerhalb des Augustinums, viele sogar fußläufig erreichbar, diese würden von den Bewohnern aber fast nur als eine Art Ausflugsziel und nicht zur Versorgung aufgesucht.
Auf die Frage, ob er denn überhaupt noch um seine Kunden kämpfen müsse, sagt Bausch ehrlich: „Natürlich. Das bezieht sich aber eher darauf, dass wir uns doppelt anstrengen müssen, um die Wünsche des Kunden zu erfassen. Die Senioren sind im Vergleich zu einer jüngeren Kundschaft oft weniger mitteilsam darin, was sie sich in einem Markt wünschen.“ Ob nun alle Wünsche von den Augen abgelesen werden oder nicht: In jedem Fall deckt ein Großteil der Residenzbewohner den Einkaufsbedarf über den hausinternen Markt.
Aber natürlich gibt es auch Ausnahmen. „Manche Bewohner haben schon vor ihrem Einzug hier in der Nähe gewohnt und unterstützen, solange es geht, weiter ihre vertrauten Kaufleute“, erzählt Hellenthal. Spätestens jedoch, wenn die Mobilität eingeschränkt ist, würden viele auf den hausinternen Markt umschwenken. Eine Win-win-Situation für beide Seiten also. Für die Kaufleute und für die Seniorenkunden – oder doch nicht?
Ein kritischer Blick
Was wohl weder Kaufleute noch Kunden bestreiten können: Dort, wo für Kunden aus Mobilitätsgründen eine sehr nahe Versorgung notwendig ist, es hierfür aber nur wenig Möglichkeiten – quasi ohne Konkurrenz – gibt, besteht immer auch die Gefahr einer Abhängigkeit. Senioren in ländlichen Gebieten kennen dieses Phänomen schon lange, aber auch in städtischen Seniorenresidenzen kann eine solche Situation entstehen.
Das tut der Dankbarkeit der Bewohner sicher keinen Abbruch, ist marktwirtschaftlich aber trotzdem kritisch zu betrachten. Denn dass das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auch einen Einfluss auf die Preisgestaltung der Ware hat, ist ebenso natürlich wie problematisch.
Schieben wir die zwei genannten Problempunkte und die damit verbundene Versorgungsabhängigkeit für mobilitätseingeschränkte Bewohner für einen Moment einmal beiseite. Anders als in ländlichen Gebieten müssen die Senioren in Seniorenresidenzen zumindest nicht befürchten, dass ihre Nahversorgung irgendwann plötzlich wegfällt, denn ein angeschlossener Markt ist vielerorts Teil des Wohnkonzepts. Als konkurrenzfähige Alternative sprießen außerdem auch Lieferservices wie Pilze aus dem Boden, und die Senioren haben nicht erst seit der Pandemie gelernt, online unterwegs zu sein. Ist dann nicht alles gut?
In Bezug auf Versorgung und Wirtschaft – vielleicht. Beobachten wir jedoch das Einkaufsverhalten von Kunden in Seniorenresidenzen, so fällt auf, dass es sich von denen anderer in der gleichen Altersgruppe deutlich unterscheidet.
„Unsere Kunden kommen teilweise bis zu fünfmal pro Tag in den Markt und tätigen Kleinsteinkäufe. Mal eine Zeitschrift, mal eine Tafel Schokolade oder den kleinen Sekt“, so Bausch. Außerhalb der Öffnungszeiten benutzen die Senioren auch gerne einmal den Self-Scan, um auch spät abends und am Wochenende ihre Kleinigkeiten besorgen zu können. Die Zahl der Einkäufe ist hier sogar vergleichbar wie zu den Öffnungszeiten mit Personal, zu denen parallel oft noch Veranstaltungsangebote der Residenz laufen. Einkaufen als Beschäftigung, vermutlich auch gegen Langeweile. Aber natürlich erfüllt das Einkaufen auch eine soziale Funktion. Menschen treffen sich im Markt oder auch im Self-Scan-Bereich, können sich miteinander austauschen. Die soziale Interaktion bleibt dabei jedoch residenzintern.
„Wir liegen hier sehr versteckt im Hinterhof, viel Laufkundschaft von außerhalb haben wir nicht“, so Bausch. Im Markt treffen daher vor allem Bewohner auf andere Bewohner. Einkaufen im angeschlossenen Markt wird so zum Einkaufen in der Blase. Während einer Pandemie sicherlich ein Vorteil, aber außerhalb davon?
Ein guter Altersmix
Da würde sich auch Bausch in Zukunft mehr Kontakt zwischen Seniorenresidenz und Außenwelt wünschen. Seine Idealvorstellung: „Der Nahversorger, der die Revitalisierung des gesellschaftlichen Zentrums im Stadtteil vorantreibt! Blicken wir doch einmal darauf, wie früher Großfamilien funktionierten. Hier kümmerten sich die Großeltern um die Enkel. Wir könnten so etwas mit Quartiermischungen erreichen, etwa mit Kitas in Seniorenresidenzen und dem Nahversorger als verbindendem Element mittendrin.“
Sicherlich eine gute Möglichkeit, wirtschaftliche Interessen und soziales Leben erfolgreich und für beide Seiten attraktiv miteinander zu verbinden. Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg. Und so lässt sich aktuell die Frage nach den Gewinnern der Situation nicht so einfach beantworten, wie es zunächst den Anschein hatte.