Türkei Kein Albtraum

Die Bevölkerung ist jung und konsumfreudig, und die Umstände waren für Unternehmen vor dem Referendum auch nicht perfekt: Man sollte die Türkei jetzt nicht aufgeben, meint Planet-Retail-Analystin Franziska Schmidt.

Montag, 15. Mai 2017 - Management
Franziska Schmidt
Artikelbild Kein Albtraum
Bildquelle: Gettyimages

Am 16. April 2017 hat sich eine knappe Mehrheit der türkischen Wähler (circa 51 Prozent) in einem Volksreferendum für einen Regimewechsel entschieden, weg von einer parlamentarischen Demokratie hin zu einem Präsidialsystem. Fast unausweichlich waren dabei Wahlbetrugsvorwürfe. Nichtsdestotrotz ist es wahrscheinlich, dass die abgeänderte Verfassung im November 2019 in Kraft tritt und mit ihr die Position eines starken, kaum zu kontrollierenden Präsidenten geschaffen wird.

Das Rechtsstaatsprinzip wird eingetauscht gegen ein hohes Maß an Instabilität und Willkür, und das gilt nicht erst ab Herbst 2019, sondern ist im Prinzip jetzt schon der Fall durch den Ausnahmezustand, der seit dem versuchten Putsch im Juli 2016 gilt und erneut verlängert wurde. Unsicherheit wird erstmal das einzige sein, auf das dort aktive Unternehmen sich künftig verlassen können. Allerdings sind Einzelhändler stärker betroffen als Hersteller. Erstere treffen langfristig orientierte Investmententscheidungen, wenn sie Immobilien mieten oder kaufen. Die Ausgangslage muss über Jahre und Jahrzehnte erfolgversprechend aussehen. Hersteller hingegen können deutlich flexibler auf politische Umbrüche reagieren und ein Land schnell und ohne große Altlasten verlassen, wenn es (zu) schwierig wird.

Die Autorin

Franziska Schmidtist Analystin bei Planet Retail. Sie berichtet im Wechsel mit Boris Planer und Tatjana Wolff über Entwicklungen im internationalen Handel.

Türkische Konsumenten bemerken bereits seit geraumer Zeit die Auswirkungen der politischen Verwerfungen auf ihre Portemonnaies, besonders nach dem Putschversuch. Seitdem hat die Türkische Lira circa ein Fünftel ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren. Die Preise für importierte Waren sind entsprechend gestiegen und fressen sich in die reale Kaufkraft.

Erdogans Popularität ist darauf begründet, dass er der Türkei zu inklusivem wirtschaftlichen Wachstum verholfen hat, den Menschen geht es heute besser als vor seiner Zeit im Amt. Sollten die politischen Turbulenzen den eben erst erworbenen Wohlstand langfristig gefährden, könnte das die Unterstützung für einen starken Präsidenten Erdogan (denn natürlich ist der Wahlausgang eng mit seiner Person verzahnt) aushöhlen.

Doch nicht nur Verbraucher haben es schwerer. Verbindlichkeiten vieler Unternehmen sind in Fremdwährungen wie dem US-Dollar beziffert. Bei einer schwachen lokalen Währung wird es zunehmend schwieriger, diesen nachzukommen, wenn etwa zu Beginn des nächsten Monats die real wieder gestiegene (Laden-)Miete zu zahlen ist.

Handelsbarrieren umgehen
Unterm Strich sind Vetternwirtschaft, Korruption und Instabilität in der Türkei nicht erst seit gestern auf dem Radar der dort tätigen Wirtschaftsakteure, die neue Lage stellt keinen Wechsel von perfekt auf Albtraum dar. Die Zeit wird zeigen, wie sehr die neue Verfassung Unternehmen einschränkt und behindert. Nichtsdestotrotz werden die Spannungen zwischen der Türkei und ihrem größten Handelspartner, der EU, intensiver, und Händler wie Hersteller sollten sich überlegen, was zu tun ist, wenn etablierte Lieferketten von politischen Zerwürfnissen bedroht werden.

Das Beziehen von Waren, die direkt in der Türkei hergestellt werden, um Wechselkursvolatilitäten und potenzielle Handelsbarrieren zu umgehen, wäre eine Möglichkeit – denn es wäre zu früh und schade, den türkischen Markt jetzt ganz aufzugeben. In der Region Zentral- und Osteuropa ist er der zweitgrößte nach Bevölkerung und entsprechend nach Konsumausgaben. Der Umstand, dass die drei größten Händler allesamt Discounter sind (BIM, Sok Market und A101), die ja nur dort erfolgreich operieren können, wo moderne Strukturen effizientes Wirtschaften zulassen, zeigt, wie gut entwickelt die Infrastruktur ist und dass es eine breite Basis für modernen Handel gibt. Die Bevölkerung ist jung und die Nachfrage nach Produkten, die global ähnlichen Lifestyle-Vorstellungen entsprechen (zumindest bei den jüngeren und urbanen Generationen), vorhanden.

Letztlich hat sich fast die Hälfte der türkischen Wahlberechtigten gegen die Verfassungsänderungen ausgesprochen. Sollte die Regierung jetzt einen Hardliner-Kurs wählen, könnte das ernsthaften sozialen Unfrieden stiften und/oder dazu führen, dass junge, gut ausgebildete Menschen das Land verlassen und sich zu liberaleren Ufern aufmachen. Vielleicht wird dieser Langzeit-Effekt auch von der Regierung gesehen und führt zu einem außen- wie innenpolitisch weniger scharfen Kurs, als momentan erwartet wird. Im schlimmsten Fall, wenn es bei der harten Linie bleibt, könnte ein Bürgerkrieg drohen, und der würde das Land um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückwerfen.

Bilder zum Artikel

Bild öffnen Türkische Wähler, die gegen die Verfassungsänderungen gestimmt haben, protestieren gegen angeblichen Wahlbetrug. Die Mehrheit von 51,4 Prozent, die für die Änderungen gestimmt haben, ist nur dünn.
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