Planet-Retail Sorgenkind Mittelschicht

Der Bevölkerungsanteil mit mittlerem Einkommen wird kleiner. Wie sich die real sinkenden Einkommen auf das Konsumverhalten auswirken und was es für die Ernährungsindustrie bedeutet, erläutert Planet-Retail-Analystin Tatjana Wolff.

Donnerstag, 30. März 2017 - Management
Nicole Ritter
Artikelbild Sorgenkind Mittelschicht
Bildquelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

Schrumpfen, abkassiert werden oder verlieren sind die Begriffe, die bei Google am häufigsten mit dem Wort Mittelschicht assoziiert werden. Und tatsächlich, wenn man sich die langfristigen Trends der sogenannten Mittelschicht in Deutschland oder aber auch in den USA beispielhaft anschaut, sieht man, dass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung stetig abnimmt. Dies einerseits, weil der Anteil am oberen Ende wächst, aber andererseits auch weil der untere, unvermögende Teil sich vergrößert und ohnehin deutlich größer ist als der obere.

Gründe für die Verkleinerung der Mittelschicht und dementsprechend der Kaufkraft im Massenmarkt gibt es viele. Sie sind meist strukturell und somit schwer zu beheben. So ist das Argument der alternden Bevölkerung für manch einen vielleicht schon zu oft bemüht worden – es verliert aber nicht an seiner Schlagkraft. Wenn ein kleiner werdender Bevölkerungsanteil für Renten einer länger lebenden älteren Bevölkerung aufkommen muss, dann bleibt dieser jüngeren Bevölkerungsschicht immer weniger, um es für sich selbst auszugeben. Zugleich entsteht ein erheblicher Abwärtsdruck auf Renten und umverteilte Einkommen, etwa in Form von Arbeitslosenunterstützung. Auch die Tatsache, dass sich durch sinkende Produktivitätszuwächse Einkommen schwächer entwickeln als noch in früheren Generationen, wirkt sich negativ auf das heutige beziehungsweise morgige Konsumentenverhalten aus.

Auf der anderen Seite kommen kurz- und mittelfristige Belastungsfaktoren hinzu, die die Kaufkraft untergraben. Einerseits zieht seit Ende 2016 in den meisten westlichen Märkten die Inflation wieder an. Die Kaufkraft wird aber auch indirekt durch steigende Zinssätze bedroht, da viele Haushalte nun mehr Geld auf die Tilgung von Hauskrediten aufbringen müssen. Dies hat vielleicht in Deutschland – wo das Mieten nach wie vor sehr populär ist – einen nicht ganz so großen Einfluss; in anderen Ländern, wie beispielsweise in den USA oder England. Hier nimmt dies allerdings weit aus größere Dimensionen an. Auf der Inflationsseite gibt es zusätzliche Risiken durch ineffizientere Lieferketten in einer sich fragementierenden politischen Landschaft. Der Brexit, die Infragestellung der NAFTA sowie die faktische Beerdigung von TTIP und TPP sind dafür nur die prominentesten Beispiele.

Steigenden Einkommen in den Schwellenländern
Tritt man allerdings einen Schritt zurück, ist zu erkennen, dass dieser Trend nicht in allen Ländern der Welt vonstatten geht. In den meisten sogenannten Schwellenländern steigen die Einkommen auch real. Die Zuwächse sind hier allerdings deutlich fragiler und die Entwicklungen variieren stark von Markt zu Markt. Während die Einkommen in Asien im Großen und Ganzen stets gestiegen sind – und damit eine gewisse Immunität gegenüber globalen Wirtschaftskrisen demonstrieren – sieht das Bild in Lateinamerika oder Osteuropa schon instabiler aus. Im Osten Europas bewirkten beispielsweise die Wirtschaftskrisen von 2009 und 2014, dass der Anteil der Bevölkerung, der weniger als 5.000 US-Dollar im Jahr zur Verfügung hat, wieder auf 50 Prozent anstieg (nachdem er 2013 bereits auf 30 Prozent gesunken war). Die Ursachen lassen sich nicht auf Wechselkurse reduzieren. Dennoch steigt aber auch hier langfristig die Kaufkraft der Bevölkerung.

Aber was bedeutet „Mittelschicht“ oder „Mittelklasse“ eigentlich aus der Sicht der Lebensmittelindustrie? Stellt es für sie ein Problem dar, wenn die Einkommen aus der Mitte unter Beschuss stehen? Für Einzelhändler oder Hersteller von Konsumgütern klingt es zunächst einmal nach düsteren Zukunftsaussichten, wenn von sinkender Kaufkraft die Rede ist. Und ja, die Konsumgüterindustrie muss sich darum kümmern, durch effiziente Lieferketten die Kosten zu senken. Sie muss sich aber auch darum bemühen, Verbraucher davon zu überzeugen, das weniger locker sitzende Geld dennoch auszugeben. Und dies in einer Umwelt, in der erlebnisgetriebene Freizeitgestaltung – also Konsum außerhalb des Konsumgüteruniversums – immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Zusatznutzen von Produkten gewinnt an Bedeutung
Der Preis wird also nicht das einzige Kriterium sein, welches Verbraucher beachten. Sie werden zunehmend nach dem Zusatznutzen fragen. Sei es durch ein Erlebnis beim Einkauf direkt, etwa durch eine Verköstigung oder andere sinnliche Ansprachen im Laden, oder auch durch innovative Produkte. Dennoch gibt es auch in der westlichen Hemisphäre nach wie vor einen gut funktionierenden Markt für Massenprodukte. Auch wenn dieser unter Umständen nicht weiter wachsen wird und sich dies als herausfordernde Perspektive für wachstumsgetriebene Unternehmen darstellt, so wird sich der durchschnittliche Westeuropäer oder US-Amerikaner auch morgen noch eine tägliche Flasche Coca-Cola leisten können. Nur dann eben ohne Kalorien, mit Einhornglitzer und extra viel Koffein aus schnell nachwachsenden Rohstoffen.

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Bild öffnen Coca-Cola: Ein Symbol für den Massenmarkt, hier in einem iranischen Kiosk. Auch wenn die koffeinhaltige Brause nicht im Land produziert wird, so kann es sich die Bevölkerung doch finanziell leisten, aus Saudi Arabien importierte Dosen Drinks zu genießen.
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