Interview mit Dr. Hein-Rusinek Ein offenes Ohr für Kollegen haben! - Interview Teil 2

Mitarbeiter im Handel sind keine Therapeuten. Aber oftmals reicht es schon, gezielt auf Kollegen zuzugehen und sich ihre Sorgen anzuhören. Ein Pilotprojekt bringt diese Idee in die richtigen Bahnen. Ein Gespräch mit Dr. Ulrike Hein-Rusinek, Leitende Betriebsärztin bei der Rewe Group.

Dienstag, 19. Mai 2015 - Management
Heidrun Mittler
Artikelbild Ein offenes Ohr für Kollegen haben! - Interview Teil 2
Bildquelle: Peter Ellers

Je nach Sachverhalt kann es ihm sogar gelingen, ein konkretes Hilfsangebot vorzuschlagen. Drei Beispiele: Viele Beschäftige geraten durch eine Scheidung in eine finanzielle Schieflage. Dann wäre ein möglicher Ansatz, den Betroffenen an eine Schuldnerberatung zu verweisen und ihn gegebenenfalls dorthin zu begleiten. Menschen mit einem Suchtproblem kann in einer Suchtberatung geholfen werden (bei der Rewe Group stehen dafür ausgebildete Suchtberater zur Verfügung). Frauen, die zuhause schwer kranke Angehörige pflegen und damit überfordert sind, können befreiter arbeiten, wenn sie von einem ambulanten Pflegedienst unterstützt werden – manchmal braucht es dazu einen Impuls von außen.

In anderen Fällen aber ist professionelle Hilfe durch Psychologen bzw. Psychiater notwendig. Dann sollte der Lotse unmittelbar den Betriebsärztlichen Dienst einschalten. Die Lotsen müssen also wissen, wann sie die Verantwortung abgeben müssen. Auch die Los-Multiplikatoren selbst benötigen Unterstützung, um nicht selbst aus der Balance zu geraten. Diese erfahren sie unter anderem in regelmäßigen Treffen, bei denen sie sich innerbetrieblich mit anderen Helfern austauschen können.

Das Lotsen-Konzept ist sinnvoll und ausbaufähig. Hein-Rusinek spricht allerdings vorsichtig noch vom „Tropfen auf dem heißen Stein“ und fordert: „Wir brauchen noch viel mehr Menschen, die sich schulen zu lassen!“ Zusätzlich zu den Los-Multiplikatoren ist ihr langfristiges Ziel, überall in den Rewe-Märkten Gesundheits-Multiplikatoren als Kümmerer vor Ort zu haben. Dazu, so weiß sie, „müssen wir die Vorgesetzten gewinnen“. Schließlich müssen diese die angehenden Lotsen zur Schulung freistellen, hinzu kommen die regelmäßigen Treffen – und natürlich die Beratungsgespräche mit Hilfesuchenden.

Die Führungskräfte sind im Gesundheitsmanagement ohnehin eine extrem wichtige Zielgruppe für die Betriebsärztin, speziell aber bei der Problematik Burn-out. Sie hat durchaus Verständnis dafür, dass ein Marktleiter nicht begeistert ist, wenn sein Abteilungsleiter Frische ein halbes Jahr lang ausfällt. Doch sie weiß: „Wir müssen psychische Störungen eher wahrnehmen. Je früher man eingreift, desto besser kann man vorbeugen oder therapieren – das ist unsere Chance.“

Erfahrungsgemäß dauert es lange, bis psychische Erkrankungen heilen. „Wenn sich jemand ein Bein gebrochen hat, dann weiß man, dass er in einem halben Jahr wieder auf Bäume klettern kann. Aber jemand mit einer Depression muss sich selbst, also sein Verhalten, ändern. Wenn er unter der Arbeit zusammengebrochen ist, muss er Acht geben, dass er nicht wieder in die Falle der permanenten Arbeitsüberforderung tritt.“ Eine Änderung im Arbeitsalltag gelingt nur, wenn man die Führungskräfte auf seiner Seite hat. Die Vorgesetzten sollten selbst als Vorbild dienen in Bezug auf die Balance zwischen Anspannung und Erholung. In ihren Präsentationen zeigt Hein-Rusinek den Managern gern ein Urlaubsbild, mit dem Appell: „Legen Sie sich selbst auch einmal in den Liegestuhl!“

Entscheidend ist, wie der Vorgesetzte reagiert, wenn ein Mitarbeiter nach Burn-out wieder ins Arbeitsleben zurückkehrt. Kann und sollte der Betroffene die ehemalige Funktion wieder einnehmen, oder gibt es einen anderen, geeigneteren Arbeitsplatz? Die Betriebsärzte unterstützen bei Fragen der Wiedereingliederung.

Therapieplätze für psychologische Betreuung sind in Deutschland leider Mangelware. Oftmals dauert es Monate, bis ein Ratsuchender überhaupt einen Termin für ein Erstgespräch bekommt. Vor diesem Hintergrund hat die bayerische Rewe Markt GmbH „Stress-Sprechstunden“ initiiert. Das Pilotprojekt läuft zurzeit in einem Logistiklager, dort bietet ein Psychologe des Betriebsärztlichen Diensts Sprechstunden für Mitarbeiter an. In vielen Fällen reicht schon eine Erstberatung aus, um dem Betroffenen zu helfen, ansonsten sind bis zu sechs Folgegespräche möglich.

Ein Psychologe bei den Logistikern, wo doch überwiegend „starke Männer“ arbeiten? Wer meint, Depression sei nur ein Frauenthema, der irrt. „Die Belastungsstörungen äußern sich nur anders“, erklärt die Spezialistin. Die Sprechstunde wurde und wird so intensiv genutzt, dass sie jetzt als fester Bestandteil etabliert ist, und zwar zweimal im Monat. Übrigens muss man sich nicht zwangsläufig im Büro treffen, die Mitarbeiter verabreden sich mit dem Berater auch zu einem Treffen an einem neutralen Ort. Das Projekt wird ausgebaut und in einem zweiten Logistiklager starten. Zudem trägt die Rewe diese Information über Multiplikatoren in die Märkte, damit auch dort Betroffene die Möglichkeit haben, sich mit einem Psychologen zu verabreden. Wie so oft, weiß die Ärztin, bringt „die Mund-zu-Mund-Propaganda den Stein ins Rollen“