Interview mit Dr. Hein-Rusinek Ein offenes Ohr für Kollegen haben!

Mitarbeiter im Handel sind keine Therapeuten. Aber oftmals reicht es schon, gezielt auf Kollegen zuzugehen und sich ihre Sorgen anzuhören. Ein Pilotprojekt bringt diese Idee in die richtigen Bahnen. Ein Gespräch mit Dr. Ulrike Hein-Rusinek, Leitende Betriebsärztin bei der Rewe Group.

Dienstag, 19. Mai 2015 - Management
Heidrun Mittler
Artikelbild Ein offenes Ohr für Kollegen haben!
Bildquelle: Peter Ellers

Sie ist Expertin für Stress: Dr. Ulrike Hein-Rusinek kann mit Fug und Recht von sich behaupten, dass sie sich mit Anspannung (nicht anderes bedeutet Stress) auskennt. Schließlich ist sie als Notärztin 25 Jahre lang Rettungseinsätze gefahren. Sie weiß, dass Adrenalin, das Stresshormon, den Körper hochpeitscht und ihn antreibt, damit er Höchstleistungen erbringen kann. Allerdings darf dieser Zustand kein Dauerzustand werden, der Mensch braucht danach unbedingt Phasen der Entspannung. Gelingt das nicht, arbeitet eine Person also ununterbrochen für längere Zeit unter Hochdruck, kann sie krank werden und buchstäblich ausbrennen. Auch mit diesem Erscheinungsbild kennt sich Ulrike Hein-Rusinek aus: Seit drei Jahren arbeitet sie bei der Rewe Group als leitende Ärztin im Gesundheitsmanagement.

In der Kölner Zentrale hat sie (über die Reports aller Krankenkassen, zusammengestellt von der DAK-Gesundheit) einen guten Überblick, warum Rewe-Mitarbeiter im Verlauf eines Jahres krankgeschrieben werden. Betrachtet man den Extremfall, also die Erwerbsunfähigkeit, kann man aus den Statistiken in Deutschland herauslesen, dass psychische Erkrankungen mit großem Abstand die häufigste Ursache für vorzeitige Berentung sind und in den vergangenen 30 Jahren dramatisch zugenommen haben. Gleichzeitig gehen andere Diagnosen als Ursache für Frühberentung, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, erfreulicherweise zurück. Burn-out ist deswegen ein zentrales Thema im Rahmen ihrer betriebsärztlichen Tätigkeit – auch wenn die Fachärztin für Innere Medizin das Wort nicht gern in den Mund nimmt, weil der Begriff medizinisch nicht korrekt ist. Burn-out ist keine eigene Krankheit, wohl aber der Wegbereiter für eine Depression oder Angststörung (siehe auch Interview auf S. 41). Zudem, so räumt sie ein, hat der Begriff dem Thema in der Bevölkerung ein Gesicht gegeben und für Aufmerksamkeit gesorgt. Und vielen Betroffenen fällt es leichter zu sagen: „Ich habe ein Burn-out“ als: „Ich bin depressiv.“

Wer ist im Handel besonders gefährdet, einen solchen Erschöpfungszustand zu erleiden? Es sind, so Hein-Rusinek, entgegen der landläufigen Meinung nicht in erster Linie die Manager in der ersten Reihe. Sondern vielmehr diejenigen, die in einer Sandwich-Position arbeiten: Markt- oder Filialleiter beispielsweise, die von allen Seiten Druck bekommen und keinen Ausgleich finden. Hinzu kommt, ob man Gestaltungsspielraum beim Arbeiten hat (positiv) oder stur Anweisungen befolgen muss (negativ). Frauen registrieren tendenziell eher einen Burn-out-Zustand, weil sie meist ein ausgeprägteres Körpergefühl haben als Männer. Zudem meistern Frauen im Bedarfsfall neben Beruf und Familie oft noch die häusliche Pflege von Angehörigen – kein Wunder, wenn sie unter dieser Last irgendwann zusammenbrechen. Neben den äußeren spielen auch individuelle Faktoren eine Rolle: Leistungsbereite Menschen, die immer alles perfekt machen wollen und nach Lob des Vorgesetzten streben, geraten häufiger in einen Erschöpfungszustand als solche, die bei der Arbeit auch einmal unerledigte Aufgaben liegen lassen können.

Für die Notwendigkeit, helfen zu müssen, spielt es zunächst keine Rolle, worunter der Mitarbeiter leidet. Hein-Rusinek beschreibt das folgendermaßen: „Da gibt es einen Menschen, der Sorgen hat. Je schneller wir ihm Hilfen anbieten, desto eher erholt er sich und behält seine Arbeitsfähigkeit und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er darüber dauerhaft krank wird.“

Das Gesundheitsmanagement der Rewe Group bietet den Mitarbeitern eine Reihe von Angeboten an, die zum einen vorbeugend wirken, zum anderen konkrete Ansätze zur Therapie darstellen. Im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen hat die Rewe unter anderem ein Konzept mit dem Namen „Los!“ entwickelt. Im Grunde genommen geht es dabei ums Zuhören im betrieblichen Umfeld, um Kollegen, denen man sein Herz ausschütten kann und die anschließend als Lotsen dienen und den Weg zu konkreten Hilfsangeboten weisen. In zweitägigen Seminaren wurden bislang 100 Los-Multiplikatoren ausgebildet, oftmals Betriebsräte oder Mitarbeiter aus der Personalabteilung, aber auch aus anderen Abteilungen.

„Hauptsache, der Lotse hat eine Akzeptanz bei den Kollegen, kann zuhören und Diskretion wahren“, beschreibt Hein-Rusinek die Anforderungen, die ein solcher Helfer erfüllen sollte. Diese Kollegen stehen im Betrieb als Ansprechpartner bei Problemen zur Verfügung, fragen zugleich aktiv nach, wenn sie spüren, dass ein Mitarbeiter von Sorgen geplagt wird. „Es handelt sich nicht um ausgebildete Ärzte oder Psychologen“, stellt die Betriebsärztin klar, dementsprechend können die Multiplikatoren nichts therapieren. Aber manchmal nutzt es schon, wenn man einem „neutralen“ Menschen sein Leid klagen kann. Ziel ist es, dass der Lotse die Betroffenen an die passenden Strukturen im Gesundheitsmanagement vermittelt.

Dr. Ulrike Hein-Rusinek
Die ausgebildete Internistin hat 25 Jahre lang im Krankenhaus gearbeitet und dabei als Notärztin Rettungseinsätze gemanagt. Vor drei Jahren ist sie zur Rewe Group in die Kölner Domstraßegewechselt, dort kümmert sie sich als Leitende Ärztin um das Gesundheitsmanagement des Unternehmens. Sie betreut vier große Aufgabenfelder: Gesundheit am Arbeitsplatz; Ergonomie
und Arbeitsorganisation; Beratung für Führungskräfte und Mitarbeiter; Wiedereingliederung von krankenMitarbeitern.