Lieferdienste Marktkonsolidierung

Nach dem Aus von Getir und Gorillas bleibt im Quick 
Commerce nur Flink übrig. Bei den großen Warenkörben sind Picnic, Rewe und Knuspr auf einem Pfad, der Erfolg 
verspricht.

Montag, 10. Juni 2024 - Strategie
Heidrun Mittler, Thomas Klaus und Matthias Mahr
Artikelbild Marktkonsolidierung
Bildquelle: Getty Images

Die Meldung kam Ende April plötzlich, aber nicht völlig unerwartet. Der Expresslieferdienst Getir von Gründer Nazim Salur mit seinen beiden Marken Getir und Gorillas verlässt den deutschen Markt. Im Pandemie-Sommer 2021 stieg der türkische Unternehmer mit dem Versprechen, innerhalb von zehn Minuten liefern zu können, mit seinem Service auf den schnellen Velos in deutschen Großstädten ein. Den Europameisterschaftssommer erleben Getir und Gorillas nicht mehr. „Quick Commerce scheitert in unseren Breitengraden durch eine Kombination mehrerer Faktoren. Diese machen die magische ‚Quadratur des Kreises‘ im Liefergeschäft quasi zur Herausforderung“, sagt Prof. Dr. Matthias Schu. Getrennt davon müsse das Lieferdienst-Geschäftsmodell mit Fokus auf Supermarkteinkauf und große Warenkörbe betrachtet werden. Schu ist einer der führenden E-Food Experten im DACH-Raum und leitet als Hochschullehrer das CAS E-Commerce Management der Hochschule Luzern.

Fixkostendegression wurde nicht erreicht

Für die LP skizziert Schu die Gründe, warum nicht nur die Geschäftsmodelle von Getir und Gorillas leiden: „ Einerseits schafften es die Anbieter nicht, die kritische Masse an Bestellungen pro Lager zu erreichen und damit in den Unit Economics in die sogenannte Fixkostendegression zu kommen. Die fixen Kosten, die auf die einzelne Bestellung umgelegt werden müssen, fressen also die Marge auf“, betont er. Aber auch die Kosten für die Rider, also die „Arbeitskraft“, sei gemessen an der Ausbringungsmenge zu hoch. Nach seinen Aussagen funktioniert Quick Commerce im klassischen Modell mit Lieferung innerhalb von 10 bis 20 Minuten nur in den Ländern profitabel, wo die Arbeitskraft günstig und in ausreichendem Maße vorhanden sei – und eben nicht in Märkten mit entsprechendem sozialen Netz wie dem DACH-Raum. Die Kosten im Quick Commerce bleiben unbeherrschbar. Die Mieten für zentrale Standorte seien ebenfalls zu hoch und die „Drop-Dichte“ pro Stunde auf der letzten Meile könne meist mit Einzelfahrten nicht effizient abgebildet werden. „Schon alleine mit den bestehenden Lohnkosten nicht“, moniert der E-Food-Experte. Die Liefergebühr habe dies nur zu einem kleinen Teil kompensiert.

2,7

Prozent betrug der E-Food-Marktanteil 2022 annähernd.

4

Milliarden Euro wurden 2022 im deutschen Onlinehandel mit Lebensmitteln umgesetzt.

Giftcocktail macht es Quick Commerce schwer

Doch damit nicht genug: Auch die Einkaufskonditionen über Großhändler zehren einen weiteren Teil der Marge auf, die jeder Quick-Commerce-Anbieter eigentlich dringend benötigt. Die hohen Marketingausgaben durch Rabattschlachten und das damit verknüpfte Zupflastern ganzer Städte mit Werbeaussagen waren einfach zu teuer. Nach Corona und daran anschließender Krisenpermanenz mit Ukraine-Krieg sowie der damit verbundenen Inflation ist zudem die Anzahl der Bestellungen massiv eingebrochen. Dieser Krisenmix war ein weiterer Giftcocktail für diese junge Branche. Die Preisexplosion habe generell die Verbraucher wieder stärker in Richtung Preiseinstiegssortimente getrieben, die bei Quick-Commerce-Anbietern kaum im Lager anzutreffen seien, weiß Schu. Managementfehler kamen hinzu. Diese wurden vor allem in der Expansionsstrategie gemacht, unterstreichen unterschiedliche Branchenkenner. Statt einer reinen Fokussierung auf eine schnelle Expansion mit dem Credo „Koste es, was es wolle“, wäre es sinnvoller gewesen, sich auf einzelne Städte oder Länder zu konzentrieren und dies sukzessive konzertiert aufzubauen sowie in die annähernde Profitabilität zu führen. Insbesondere die internationale Expansion mit Dopplung aller Verwaltungsstrukturen basiere eher auf Ego-Wünschen statt auf einer dezidierten Absatzmarktstrategie, heißt es aus der Branche.

Flink ist der letzte Schnell-Lieferdienst im Markt

Beim einzig verbleibenden Schnell-Lieferdienst ist die Rewe Group beteiligt. Seit Sommer 2021 sind die Kölner mit einer Minderheitsbeteiligung bei Flink engagiert. Beim Einstieg erklärte Lionel Souque, Vorstandsvorsitzender der Rewe Group, seine Strategie, die eigenen Aktivitäten ins Zentrum zu stellen: „Der Rewe-Liefer- und Abholservice ist die Speerspitze unseres E-Commerce-Geschäfts, das wir ausbauen und mit dem wir auch in Zukunft dynamisch weiterwachsen werden.“ An dieser Aussage hält der Rewe-Chef weiterhin fest, wie er im April 2024 äußerte.

Der Flink-Umsatz geht laut Souque zwar in die richtige Richtung, aber das Ergebnis sei noch defizitär. Stattdessen betont Souque die Erfolge des eigenen Abholservices, der mittlerweile in jedem zweiten Rewe-Markt installiert ist. In über 1.800 Märkten hat der Kunde inzwischen die Möglichkeit, seinen Einkauf zusammenstellen zu lassen. Er muss ihn nur noch abholen und ins Auto packen. 

65

Prozent der Deutschen kaufen Lebensmittel ausschließlich stationär

5

Prozent könnte der Marktanteil der Online-Lebensmittel­lieferdienste 2025 betragen.

Ein Hauen und Stechen im Markt

Nicht viele Branchenexperten wollen sich bei der Frage festlegen, welcher der Lieferdienste das „Hauen und Stechen“ am Markt wohl überleben wird. Doch Jens von Wedel, Partner und Digital-Commerce-Experte der international tätigen Strategieberatung Oliver Wyman, macht im LP-Gespräch eine Ausnahme. Der Diplom-Volkswirt sieht „gute Zukunftschancen“ bei Picnic und Knuspr/Rohlik. Denn deren Geschäftsmodell sei bereits „ganzheitlich auf nachhaltige Profitabilität ausgelegt“ und in den jeweiligen Heimatmärkten etabliert. Eigens entwickelte Logistikmodelle ermöglichten eine hohe Effizienz und die stärkere Zielgruppen-Fokussierung wiederum „gesunde Margen“, so von Wedel.

In Sachen „Picnic“ kann sich Jens von Wedel durch den Consumer Panel Services der GfK/Yougov bestätigt fühlen. Den Marktforschern zufolge pirscht sich Picnic immer stärker an den Rewe-Lieferservice heran. Hatte der Rewe-Dienst 2020 noch einen Marktanteil von 11 und Picnic einen von 4,5 Prozent, sah die Welt 2023 schon anders aus: Picnic erreichte bereits eine Marktausschöpfung von 10,1 Prozent; der Rewe-Lieferservice lag mit 12,5 Prozent nur noch um eine kleine Nase vorn. Dass sich Picnic und auch Flink aktuell eine weitere Investitionsrunde sichern konnten, ist für von Wedel ein Statement. Bei Picnic waren es im Januar satte 355 Millionen Euro, die unter anderem von der Bill & Melinda Gates Foundation zuflossen. Flink hatte im April immerhin weitere 100 Millionen Euro eingesammelt. Auch so zeige sich die anhaltende Investitionsbereitschaft in den Lebensmittel-Liefermarkt, meint der Strategieexperte. Die Investoren seien zwar „spürbar vorsichtiger als zur Hochzeit der Quick-Commerce-Blase“, aber nach wie vor prinzipiell gewillt. Oliver Wyman beobachtet derzeit ein „wieder steigendes Interesse am Onlinehandel“.

Matthias Schu pflichtet bei: „Durch höhere Opportunitätskosten aufgrund gestiegener Zinsen wurden investorenseitig auch Investitionen in Lieferdienste generell neu bewertet. Spannend jedoch: Die Konzepte, die eine gute Story und eine glaubhafte Erfolgschance präsentieren und nicht auf einer puren Wette wie ‚the Winner takes it all‘ fußen, erhielten und erhalten auch weiterhin frisches Kapital.“ Picnic und die Rohlik-Gruppe sind für den Insider aus Luzern mit den besten Erfolgsaussichten belegt, das zeigten die jüngsten Mittelzuflüsse.

Rund um den Kirchturm

Ein Lieferservice kann Spaß machen. Das stellt Kaufmann Rocco Capurso unter Beweis. In seinem Remstal-Markt Mack in Weinstadt bietet der preisgekrönte Kaufmann (Gewinner beim Supermarkt des Jahres 2022) einen eigenen Liefer­service an: Im Umkreis von bis zu 20 Kilometern bringen Mitarbeiter den Einkauf bis an die Haustür des Kunden. Für das Zusammenstellen des Einkaufskorbs berechnet Capurso grundsätzlich 
5 Euro, auch bei Abholung im Markt. Hinzu kommt eine Liefergebühr von 5 Euro in Weinstadt, im Umkreis von 20 Kilometern berechnet er 20 Euro Liefergebühr. Dass der Service gut funktioniert, liege an einer klasse Mitarbeiterin, die „ihre Kunden auch am Telefon so betreut, als stünden sie vor ihr“. Aktueller Jahresumsatz des Lieferdienstes: über eine Million Euro.

Edeka-Kaufleute fordern neuen „Netto-Bonus“

Natürlich beobachten auch die Edeka-Kaufleute die Picnic-Aktivität ihrer Zentrale ganz genau, schließlich entsteht Konkurrenz im eigenen Unternehmensumfeld. Mark Rosenkranz, Vorstandssprecher der Edeka Minden-Hannover, sieht darin kein Problem: „Warum soll bei diesem Thema nicht die eigene Genossenschaft mitmischen?“, fragt er. Manche gelb-blauen Kaufleute sehen das aber anders. Sie fordern einen zusätzlichen Bonus aus dem Picnic-Geschäft der Zentrale, vergleichbar mit dem „Netto-Bonus“, den der Edeka-Konzern einst zahlte, als der Marken-Discounter in den Genossenverbund eingegliedert wurde. Schließlich gingen den Selbstständigen Umsätze verloren.

Derweil sieht Mike Schwanke den Rewe-Lieferservice auf der Siegerstraße. Schwanke ist Direktor bei der Unternehmensberatung Atreus im Bereich Konsumgüter & Handel. Der Experte für E- und Quick Commerce begründet seine Einschätzung aus der Perspektive der Wertschöpfungskette: „Da erscheint mir Rewe als der Player, der zum einen über die nötige Einkaufsmacht verfügt und zum anderen viel Geld in die Logistik investiert hat. Sollte eine Verzahnung im Omnichannel flächendeckend gelingen, wie wir das aus dem Fashion-Einzelhandel kennen, wäre hier über die lokalen Geschäfte ein strategischer Vorteil gegenüber allen anderen Anbietern vorhanden.“

Ein weiterer Aspekt, der nach Auffassung des Beraters nicht unterschätzt werden sollte: Die Personalkosten dürften bei den Lieferdiensten kurzfristig wachsen. Das liegt Schwanke zufolge vor allem am steigenden Mindestlohn und den Auswirkungen der EU-Richtlinie zur Plattformarbeit. Deshalb legt Schwanke den verbleibenden Lieferdiensten unter anderem nahe, sie könnten Chancen im KMU-Bereich nutzen. Diese lägen etwa in kleineren Büros wie Architekturbüros, Steuerberaterkanzleien oder Marketingagenturen, die in regelmäßigen Abständen Artikel aus den Segmenten Lebensmittel und Drogerie beziehen könnten. „Richtig zukunftsfähig“ sieht Mike Schwanke das Geschäftsmodell der Lieferdienste vor allem bei schweren Produkten wie Getränken oder Tierbedarf.

Herausforderungen im Quick Commerce bleiben

Gorillas und Getir sind Geschichte. Die Herausforderungen hinsichtlich eines profitablen Geschäftsmodells bleiben bestehen. Ob die Mengen von Gorillas und Getir nun zu Flink wandern, bleibt fragwürdig. „Die ‚the Winner takes it all‘-Stellung im Quick Commerce wird bei Flink nur temporär anzutreffen sein“, sagt der langjährige Marktbeobachter Schu. Die Essenslieferdienste aus dem Restaurant-Sektor wie Wolt, Lieferando und auch Uber Eats werden nach seinen Erwartungen weiter stetig in dieses Marktsegment vordringen und sich ihr Stück vom Kuchen sichern.

Und welche potenziellen Fusionspartner wären für Flink sinnvoll, um langfristig auf dem Quick-Commerce-Markt bestehen zu können? Die Antwort aus der Schweiz kommt prompt: „Eine Vollintegration als Premium-Lieferservice mit Premium-Preisen unter den Fittichen der Rewe“, betont Schu. Und dies als weiteren Touchpoint, den es allerdings nur in den Metropolen gebe. Ohnehin sei der Rewe-Lieferdienst derzeit im deutschen Markt in der dominanten Rolle. Vor allem im Ruhrgebiet habe die Rewe stark in die Infrastruktur investiert und weiße Flecken getilgt.

Ganz anders die Edeka. Die Hamburger setzten voll auf Picnic als Beteiligung; eigene Aktivitäten von diversen Regionalgenossenschaften oder einzelnen Kaufleuten dümpelten eher ohne klare Strategie und Ziel vor sich hin, lautet das Fazit eines der führenden E-Food-Experten.

In Kooperationen 
liegt die Zukunft

Quick Commerce boomte während der Corona-Pandemie in den großen Städten der Republik. Allerdings: Ausnahmslos alle Anbieter blieben stets hochdefizitär. Die Zinsen waren niedrig und das Geld billig. Die Geldgeber investierten in die kostspieligen Rabattschlachten sowie Expansionspläne ihrer Start-ups und finanzierten damit den Verdrängungswettbewerb bei den Schnelllieferdiensten für Lebensmittel. Dann endete die Niedrigzinsphase jäh mit dem Krieg Russlands in der Ukraine. Plötzlich rückten die Kosten massiv in den Vordergrund. Die Zeit des Geldverbrennens war vorbei.

„Den Einkaufspreisen kann man dadurch ein Stück weit entgehen, indem man wie Flink oder auch Picnic unter das Dach eines großen stationären LEHlers schlüpft, der seine besseren Konditionen auch dem Online-Arm zur Verfügung stellt“, sagt E-Food-Experte Matthias Schu. Als Maßnahmen zur Rentabilitätssteigerung schlägt der Dozent für E-Commerce und Handel der Hochschule Luzern vor, keine eigenen Lager zu betreiben. Er empfiehlt Kooperationen mit stationären Händlern, da diese die Warenabschreibung reduzierten. Und der Aufbau einer eigenen Sourcing-Organisation wie zum Beispiel bei Coop UK mit Deliveroo sorge ebenfalls für eine verbesserte Rentabilität. In der Optimierung der letzten Meile, der Erhöhung der Stopp-Dichte pro Tour (unter anderem mit längeren Lieferzeiten nach Bestellabschluss) sieht er weitere Erfolg bringende Stellschrauben. Zudem müssten neue Monetarisierungsquellen erschlossen werden. Im Einstieg in Retail Media sieht er eine Möglichkeit, zusätzliche Erlöse zu sichern.