Seit beinahe zehn Jahren sind Instabilität und Volatilität feste Bestandteile der Weltwirtschaft, und sie sind schwer aus den Finanzmärkten, den Wechselkursen und vor allem aus der Realwirtschaft herauszuexorzieren. Der Punkt ist hier nicht etwa, dass Politik und Zentralbanken dabei über weite Strecken derart hilflos wirkten, dass selbst etablierte Wirtschaftstheorien (nicht zuletzt die Basis für finanzpolitische Entscheidungen) ins Wanken geraten sind. Der Punkt hier ist vielmehr, dass wirtschaftliche Unsicherheit uns noch über Jahre hinweg begleiten wird. Und das bedeutet, dass der Verbraucher, den sich Handel und Hersteller solide und berechenbar wünschen, im realen Leben launisch bleiben dürfte.
Grundsätzlich sollte man also meinen, dies sei eine gute Zeit für Discounter, um sich in neuen Märkten zu etablieren. Das Muster, wonach Discounter langsam in einen Markt eintreten, während einer Wirtschaftskrise den Durchbruch schaffen und fortan das Vertrauen einer breiten Mittelschicht genießen, ist bewährt – unter anderem in Großbritannien, wo Aldi und Lidl während der Finanzkrise ab 2008 ihr Mittelschicht-Stigma abschütteln konnten. Die jüngsten Schritte hin zu einem höherwertigeren Sortiment, mehr Service und verbessertem Ambiente scheinen das Potential zu haben, die Etablierung von Discountern in neuen Märkten zu beschleunigen. Offensichtlich wird sich Lidl gerade auch in den USA auf diesen Effekt verlassen.
Der Autor
Boris Planer ist Chef-Ökonom bei Planet Retail in Frankfurt. Er berichtet im Wechsel mit seinen Kollegen an dieser Stelle über Entwicklungen im internationalen Handel.
Die Basis muss stimmen
In der Praxis jedoch bleiben Discounter ein symbiotisches Format, das sehr von einer soliden öffentlichen und privaten Infrastruktur abhängig ist. Es braucht eine leistungsstarke Lieferantenbasis (idealerweise mit unabhängigen Eigenmarkenherstellern, was zum Beispiel bei den Discountern in Afrika der große Knackpunkt ist); außerdem braucht es Verbraucher, die vereinfacht gesagt daheim über ein wenig Stauraum und einen funktionierenden Kühlschrank verfügen. Am besten auch über ein Auto, damit sie nur einmal pro Woche kommen, dann aber große Mengen in den Kofferraum packen. Ebenso hilfreich wären gute Straßen und eine moderne Telekommunikationsinfrastruktur, damit Hersteller, Distributionszentren, Filialen und Verbraucher physisch und irgendwann auch einmal digital reibungslos miteinander verbunden werden können.
Diese Voraussetzungen sind vor allem in hoch entwickelten Märkten und fortgeschrittenen Schwellenländern gegeben. Paradoxerweise bedeutet das, dass Discounter dort am schlechtesten funktionieren, wo sie am meisten gebraucht werden – etwa in Indien oder im Südlichen Afrika. Ganz besonders gut hingegen funktionieren sie in hoch entwickelten Märkten, in denen die Krise spukt und eine Mittelschicht Angst vor dem sozialen Abstieg hat.
Die spannendsten Discount-Märkte der Welt zwischen heute und 2022 sind unserer Meinung nach also:
Türkei
Nicht nur der Marktführer, sondern gleich die drei größten Lebensmittelhändler des Landes sind allesamt Discounter (BIM, A101 und Sok). Gemeinsam dürften die türkischen Discounter in den nächsten fünf Jahren mehr als 6.500 Filialen neu eröffnen. Ihr Marktanteil sollte dadurch von 14,2 Prozent auf 19 Prozent steigen.
Mexico
Nicht wirklich weltberühmt als Discount-Hotspot; allerdings hat Walmart das Format in Mexiko erheblich vorangebracht. Oxxo und Soriana haben inzwischen ebenfalls Discount-Formate an den Start geschickt, und so rechnen wir für die nächsten fünf Jahre mit knapp 1.200 Neueröffnungen. Der Marktanteil der Discounter wird von heute 2,7 Prozent auf 5,4 Prozent steigen.
USA
Dominiert von Aldi, Big Lots und Save-A-Lot (Supervalu), befindet sich der Discount hier noch in einer sehr frühen Entwicklungsphase. Beschleunigt durch den Markteintritt von Lidl rechnen wir bis 2022 allerdings mit 900 Neueröffnungen. Der Marktanteil der Discounter wird dennoch nicht über 2,2 Prozent hinausgehen.
Polen
Biedronka hat den mitteleuropäischen Handel nachhaltig geprägt, indem es im ländlich geprägten Polen früh in Kleinstädte expandierte, die für westliche Großflächen unerreichbar sein würden. Da abseits der Metropolen noch mindestens der halbe polnische Einzelhandel von unabhängigen Strukturen geprägt ist, bleibt das Wachstumspotenzial enorm. Wir rechnen bei Biedronka, Lidl, Netto und Aldi bis 2022 mit insgesamt 570 Neueröffnungen, was ihren Marktanteil von 27 Prozent auf 28,4 Prozent anheben sollte.
Großbritannien
Der Brexit, die wachsende Verbraucherunsicherheit und die jetzt scharf anziehende Inflation bieten, in Kombination mit dem schwachen Pfund, den deutschen Discountern Aldi und Lidl eine historische Chance, sich noch stärker bei der gestressten Mittelschicht des Landes zu etablieren. Wir rechnen in den nächsten fünf Jahren mit rund 500 neuen Standorten. Dadurch sollte der Marktanteil der Discounter von 9,6 Prozent auf 12,8 Prozent steigen.
Brasilien
Ähnlich wie in den USA, stehen die Discounter in Brasilien noch am Anfang einer potenziell großen Erfolgsgeschichte. Dennoch bietet das Land einen enorm effizienten Zugang zu Verbrauchern – rund 90 Prozent der 208 Mio. Einwohner wohnen im urbanen Streifen entlang der Atlantikküste. So einen Zugriff bietet kein anderes Schwellenland auf der Welt. Zudem ist der Optimismus der brasilianischen Verbraucher nach drei Jahren Rezession am Boden. Wir rechnen in den nächsten fünf Jahren mit 400 neuen Discountern. Ihr Marktanteil sollte damit bei etwa 1,4 Prozent stagnieren, aber das langfristige Potenzial ist enorm.
Lieferanten haben die Chance, Teil solcher Erfolgsgeschichten zu werden, indem sie die Discounter mit formatspezifischen Produkten, Rezepturen, Verpackungsgrößen und Preispunkten unterstützen, die bei der Zielgruppenfokussierung und Differenzierung der Händler helfen.