Ungarn Preisobergrenzen, Sondersteuern – Orbán geht immer heftiger gegen ausländische Händler vor

Hintergrund

Die Regierung in Budapest will den Einzelhandel „ungarisieren“ und drangsaliert ausländische Konzerne wie Lidl oder Aldi. Obwohl die EU mit Ärger droht, folgen neue Schikanen.

Donnerstag, 20. März 2025, 06:40 Uhr
Bettina Röttig und Susanne Klopsch
Viktor Orbán ist seit 2010 Ministerpräsident Ungarns. Er steht für die starke Regulierung des Einzelhandels zulasten der ausländischen 
Marktteilnehmer. Bildquelle: Picture Alliance

Sondersteuern, verordnete Preisobergrenzen, komplizierte Genehmigungsverfahren für Um- oder Neubauten, Preisüberwachung: Mangelnde Kreativität kann man Ungarns Regierung in ihrer Wirtschaftspolitik sicherlich nicht vorwerfen. Immer wieder überraschte Staatschef Viktor Orbán in den vergangenen Jahren mit neuen Gesetzen und Regulierungen, um große ausländische Unternehmen zur Kasse zu bitten und im Wettbewerb zu benachteiligen. Im Visier stehen auch deutsche Unternehmen wie Lidl, Aldi oder dm-Drogeriemarkt.

Die protektionistischen Maßnahmen gehen mitunter nach hinten los, treffen ungarische Produzenten oder nutzen ausgerechnet den Unternehmen, die unterdrückt werden sollen, erfährt die Lebensmittel Praxis von einem Ungarn-Experten, der anonym bleiben will. Auch droht Ungarn aufgrund der Diskriminierung der Händler Ärger mit der EU-Kommission. Doch wer gehofft hat, die Regierung gebe ihre Bestrebungen auf, der wurde Anfang 2025 mit neuen Schikanen überrascht. Die Frage ist, wie lange die deutschen Super- und Drogeriemarktketten dieses Spiel noch mitspielen wollen und können.

Mit Auchan ist Ende 2024 der erste ausländische Lebensmittelhändler eingeknickt. Der französische Konzern hat 47 Prozent seines Geschäfts in der Donaurepublik an die ungarische Indotek Group unter der Leitung des Geschäftsführers und Mehrheitseigentümers Dániel Jellinek verkauft. Aus Sicht Orbáns ein Schritt in die richtige Richtung: „Die ungarische Regierung hat öffentlich erklärt, in den ,strategischen Branchen‘ den Anteil ausländischer Unternehmen zu reduzieren und nationale Champions zu schaffen“, erklärt der Ost-Ausschuss gegenüber der Lebensmittel Praxis. Dazu gehören Banken, Telekommunikation, Energie, Infrastruktur, die Baustoffindustrie und der Lebensmitteleinzelhandel – allesamt verbrauchernahe Branchen. Damit ist ein Motiv klar: Orbán will Wahlen gewinnen und sich als „Kämpfer für den Verbraucher“ präsentieren. Das böse Wort „Kleptokratie“ machte schon die Runde durch deutsche Nachrichtenmedien: Denn diejenigen, die da so großzügig als Helfer in der Not Teile der ausländischen Handelsunternehmen übernehmen, seien oft Orbán-Vertraute.

Seit Beginn der Covid-Pandemie stehe im Einzelhandelssektor statt einer Marktverdrängung die Abwälzung von Inflationsauswirkungen auf ausländische Konzerne im Vordergrund, heißt es in der Studie „Aushalten, anpassen oder aktiv werden? Deutsche Unternehmen in Ungarn“ des Instituts für Europäische Politik (IEP) aus dem August 2024. Von vielen Regulierungen betroffen sind Konzerne ab einer bestimmten Umsatzschwelle. „Eine juristische Finte, die im Lebensmittelhandel in der Regel die acht größten ausländischen Konzerne betrifft“, sagt ein Insider. Eine Diskriminierung ausländischer Firmen finde jedoch häufig nicht durch die Ausgestaltung der Gesetze selbst, sondern durch deren einseitige Anwendung und Kontrolle statt, die für Unternehmen schwer nachzuweisen sei, heißt es in der IEP-Studie.

Die meisten der Konzerne wollen sich zu dem heiklen Thema nicht äußern. Öffentlich aus der Deckung wagte sich bisher einzig Spar, das sich in zwei Fällen gegen Eingriffe der ungarischen Regierung wehrt. Zum einen hat Spar Österreich gegen eine Sondersteuer Beschwerde wegen Diskriminierungen am ungarischen Markt bei der Europäischen Kommission eingereicht, „was schließlich am 3. Oktober 2024 zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Ungarn führte“, sagt Sprecherin Nicole Berkmann der LP.

Die Erfolgreichsten zahlen am meisten

Spar kämpft auf EU-Ebene gegen Repressalien

Diese Beschwerde (Aktenzeichen INFR(2024)4022) bezieht sich auf hohe progressive Steuersätze für Einzelhändler ab einem Umsatz von 100 Milliarden Forint (ca. 250 Millionen Euro). Diese wurden 2020 eingeführt und 2022 erhöht. Derzeit liegt der höchste Satz bei 4,5 Prozent des Nettoumsatzes. Unternehmen, die unter der Umsatzgrenze liegen, zahlen maximal 1 Prozent Steuer. „Inländische Einzelhandelsunternehmen vergleichbarer Größe, die unter ihrer jeweiligen Marke oder ihrem jeweiligen Logo über Franchise-Systeme im ungarischen Markt tätig sind, zahlen nicht die höchsten Steuersätze, weil ihr Umsatz nicht für Steuerzwecke zusammengerechnet wird“, schrieb die EU-Kommission. Daher schränke die Einzelhandelssteuerregelung die Niederlassungsfreiheit ein. Umgerechnet 73 Millionen musste Spar 2023 an Sondersteuern zahlen, Lidl sogar 111 Millionen Euro (nach aktuellen Umrechnungskursen; siehe Grafik oben). Unterm Strich fuhr Spar Ungarn nach Angaben von Spar-Chef Hans K. Reisch 2022 Verluste von 32,8 Millionen Euro, 2023 von 47,8 Millionen Euro ein, berichtete „Die Presse“.

Zum anderen wehrt sich Spar gegen staatlich festgelegte Preisobergrenzen. Solche galten zwischen Februar 2022 und August 2023 für Grundnahrungsmittel wie Zucker, Weizenmehl, Kartoffeln, Eier. Händler wurden zudem verpflichtet, bestimmte Mengen der Produkte vorzuhalten. Spar Ungarn erhielt wegen Nichteinhaltung der Vorschriften eine Geldstrafe. Die Österreicher klagten, der Europäische Gerichtshof entschied im September 2024, diese Maßnahmen verstießen gegen EU-Recht, da sie den freien Wettbewerb beeinträchtigen (Rechtssache C-557/23 – Spar Magyarország). „Mit diesen Beschwerden haben wir als Unternehmen klargemacht, dass aus unserer Sicht Ungarn fundamentale Prinzipien des EU-Binnenmarktes und des Wettbewerbsrechts verletzt“, sagt Spar-Sprecherin Berkmann. Der Ball liege jetzt bei der EU-Kommission. Spar erwarte eine rasche Verfahrensfortführung, nur so könne ein faires Marktumfeld geschaffen werden, „in dem alle Unternehmen im Sinne der ungarischen Konsumenten in einem gesunden Wettbewerb miteinander konkurrieren können“. Spar ist seit mehr als 30 Jahren in Ungarn tätig, „und das sehr gerne“, so Berkmann.

Eine Aussage, die verwundert, blickt man auf die Vielzahl an Hürden. Seit 2012 erschwert das „Plaza-Stop-Gesetz“ die Neueröffnung und Erweiterung von Einzelhandelsflächen über 400 Quadratmeter. Die Genehmigungen erhalten hauptsächlich ungarische Unternehmen, so die IEP-Studie. Ein Gesetz von 2021 verpflichtet Märkte der umsatzstarken Ketten dazu, Lebensmittel 48 Stunden vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums unentgeltlich an staatliche Wohltätigkeitsorganisationen abzugeben. „Wenn quasi jeder Joghurt einzeln gemeldet werden muss, ist dies ein hoher Aufwand“, weiß der Insider. Seit 1. Juli 2023 gilt ein Preisüberwachungssystem. Die tagesaktuelle Meldung der Verkaufspreise für das Online-Portal, das Verbraucher den Preisvergleich ermöglichen soll, bedeutet noch mehr Bürokratie für die großen Player. Trotz all der Hemmnisse für die ausländische Konkurrenz schafften es die heimischen Anbieter nicht, so effizient und wettbewerbsfähig zu sein wie Lidl, Aldi und Co. Qualität und Preise seien für die Kunden oft besser als in ungarischen Supermarktketten. Daher sei das Preisüberwachungssystem eher eine ungewollte Werbemaßnahme für die unliebsame Konkurrenz, so die Beobachtungen des Experten.

Heben die Verbraucherpreise wieder ab?

Gewinnmargen werden begrenzt

Obwohl die Maßnahmen bisher kaum zur gewünschten „Ungarisierung“ des Handels führten und trotz des Ärgers mit Brüssel: Antje Gerstein, HDE-Geschäftsführerin für Europapolitik, erwartet zusätzliche Hürden durch die Bau- und Gebäudeverordnung, die am 1. Juli 2025 in Kraft tritt. „Diese beinhaltet für bestimmte Bezirke ein Verbot von Gewerbebauten, die größer als 800 Quadratmeter sind. Es gibt Ausnahmeregelungen, aber so etwas erschwert die Eröffnung großer Läden spürbar.“

Infolge der wieder ansteigenden Inflation wurden Ende Januar erneute Preisstopps ins Spiel gebracht. Auch seien verschiedene Arten gewinnbegrenzender Maßnahmen möglich, „es gibt sowohl offizielle als auch freiwillige Wege“, wird Kanzleramtsminister Gergely Gulyás vom ungarischen Nachrichtenportal Telex.hu zitiert. Seine Drohung: Ohne Freiwilligkeit könnte eine staatliche Gewinnbegrenzung oder die Wiedereinführung der Preisobergrenze zum Tragen kommen [Anm. der Redaktion: Nach Erscheinen des Artikels wurden Margenbegrenzungen auf rund 30 Grundnahrungsmittel vorordnet, die vom 17. März bis Ende Mai 2025 gelten sollen. Die Margen dürfen 10 Prozent des Großhandelspreises nicht übersteigen. Betroffen sind diesmal auch kleine Händler ab einem Umsatz von 2,5 Millionen Euro.] Erneute Preisobergrenzen könnten auch zulasten der heimischen Lebensmittelproduzenten gehen. „Bisher beziehen ausländische Ketten schon viele Waren von ungarischen Lieferanten. Preisobergrenzen haben auch Auswirkungen auf diese Produzenten“, so der Insider. Höchstpreise für Milch und andere Produkte würden durchgesetzt, selbst wenn dies nur über Billigimporte aus dem Ausland möglich sei.

Zunächst wurde das Preisüberwachungssystem auf nun rund 100 Produkte ausgeweitet. Ein Schritt, den dm-Drogeriemarkt nach eigenen Angaben „entspannt“ sieht. dm verfolge auch in Ungarn das Konzept von Dauerpreisen, die gegenüber dem Wettbewerb hochattraktiv seien. „Es gelingt uns, unsere Preisentwicklung im dm-Warenkorb deutlich unter der Inflation im Land zu halten. Zusätzlich profitieren unsere Stammkunden im Rahmen des Active-Beauty-Loyalitätsprogramms“, heißt es aus der Zentrale in Salzburg. Im laufenden Geschäftsjahr sehe dm eine Umsatzentwicklung im zweistelligen Bereich und ein erfreuliches Wachstum der Marktanteile.

BVE sieht Fehlanreize

Stefanie Sabet, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie: „Deutsche Lebensmittelproduzenten exportieren jährlich Waren im Wert von 1,4 Milliarden Euro nach Ungarn. Zu den Rennern gehören Milch- und Fleischerzeugnisse, aber auch Süßwaren.

Es gibt innerhalb der EU keine Zölle oder offizielle regulatorische Hürden. Dennoch gibt es an verschiedenen Stellen Friktionen im Binnenmarkt. Ungarn ist für den ein oder anderen Alleingang bekannt, bisher haben wir jedoch keine großen Beschwerden von deutschen Produzenten vernommen. Dennoch beobachten wir die Entwicklungen. Preisstopps und andere Maßnahmen sind Eingriffe in den Markt, die Fehlanreize setzen.

Die Lebensmittelproduktion wird eher teurer. Wenn die Produktionskosten über den vorgegebenen Verkaufspreisen liegen, dann ist fraglich, wie lange auch aus den Partnerländern wichtige Produkte geliefert werden. Die Frage ist, ob sich der ungarische Markt damit selbst einen Gefallen tut. Grundsätzlich gilt: Je herausfordernder es auf internationalen Märkten wird, desto wichtiger ist der europäische Binnenmarkt für die Lebensmittelversorgung und Leistungsfähigkeit der EU.“

Also alles halb so wild? Die Schäden seien schwer abzuschätzen und in Zahlen auszudrücken, da die Händler auf verschiedensten Ebenen getroffen würden, so Gerstein. Nach Informationen des ungarischen Nachrichtenportals Telex.hu hat Lidl 2023 einen „bescheidenen Gewinn“ von 2,3 Prozent des Umsatzes verzeichnet, Penny 1 Prozent, Auchan kam auf knapp über 0, während die anderen großen ausländischen Ketten (Spar, Tesco, Aldi) nach ihren Angaben wegen der Sondersteuer für den Einzelhandel Verluste gemacht hätten. Auch 2024 sei kein gutes Jahr gewesen, zu rechnen sei mit Gewinnen von „vielleicht“ 1 Prozent, schreibt das Portal.

Lidl unter Druck

Der Discounter Lidl steht als größter Lebensmittelhändler und damit als Konzern mit dem höchsten Risiko spürbar unter Druck. Auf der ungarischen Website wurden in den vergangenen Wochen mehrere Mitteilungen zu Preissenkungen veröffentlicht. „In seiner Preispolitik ist Lidl Ungarn stets bestrebt, den ungarischen Verbrauchern die bestmöglichen Preise zu bieten und die Familien so gut wie möglich zu unterstützen“, schreibt Lidl Mitte Februar zur Senkung der Preise auf Milchprodukte. Auch betont der Händler seine Bedeutung für die Wirtschaft: Mit fast 10.000 Beschäftigten sei Lidl der neuntgrößte Arbeitgeber in Ungarn. „Als wichtiger Akteur hat das Unternehmen auch fast 1.000 Milliarden Forint zum Haushalt des Landes beigetragen“, heißt es. Die Signale dürften nicht nur an die Kunden, sondern vor allem an die Regierung gerichtet sein. Auf die Frage der Perspektive in Ungarn teilt der Händler mit: „Wir halten uns selbstverständlich an gesetzliche Vorgaben und stellen uns dem Wettbewerb in Ungarn. Dabei plädieren wir für einen fairen Wettbewerb und Voraussetzungen, die für alle nationalen und internationalen Marktteilnehmer gleich sind.“

Daraus lässt sich auch Unsicherheit herauslesen. „Die Firmen nehmen klare Folgenabschätzungen vor, ob sich lange und kostspielige gerichtliche Auseinandersetzungen lohnen oder eher eine Anpassung an die neue Gesetzgebung für sie effektiver ist“, so ein Fazit der IEP-Studie. Unternehmen sollten eng mit der EU-Kommission zusammenarbeiten, um rechtliche Schritte gegen unfaire Marktpraktiken einzuleiten, so eine Handlungsempfehlung. Damit blickt die Branche weiter auf die Verfahren von Spar. 

Steckbrief 
Ungarn

  • Hauptstadt: Budapest

  • Bevölkerung: 9,7 Mio.

  • Fläche: 93.030 km²
  • Nominales BIP: 211 Mrd. Euro

  • BIP pro Kopf: 22.112 Euro
  • BIP-Wachstum 2023: –0,9 %
  • Staatspräsident: Tamás Sulyok 

  • Ministerpräsident: Viktor Orbán
  • In der Rangliste der größten deutschen Außenhandelspartner lag Ungarn 2024 sowohl bei den Ausfuhren als auch bei den Einfuhren auf Platz 13. Für Ungarn ist Deutschland auf Platz 1 der Hauptliefer- und Hauptabnehmerländer.
  • In Ungarn sind rund 2.500 deutsche Unternehmen tätig mit rund 250.000 Beschäftigten (2023). Wichtigstes Herkunftsland ausländischer Direktinvestitionen in Ungarn ist Deutschland (2022: 19,5 Prozent).
  • Der Anteil von Agrarexporten an den ungarischen Gesamtexporten lag 2023 bei 4,7 Prozent (Nahrungsmittel 3,4 Prozent). Rund 15 Prozent seines landwirtschaftlichen Ertrags verkaufte Ungarn 2023 nach Deutschland, dem wichtigsten Exportmarkt für Agrarprodukte. Italien und Rumänien folgten auf Platz 2 und 3.
  • Der Export der deutschen Ernährungsindustrie nach Ungarn umfasst ein Volumen von 1,4 Milliarden Euro jährlich, dies entspricht 2,3 Prozent des Exportvolumens der Branche innerhalb der EU.
  • Knapp 26 Prozent der importierten Tiere und Tierprodukte und rund 19 Prozent der Nahrungsmittel waren 2023 deutschen Ursprungs.

Quellen: GTAI, AHK, BVE, Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft