Supermarkt des Jahres 2021 Innenstadt neu denken

Einigkeit herrschte auf dem Podium der Veranstaltung „Supermarkt des Jahres“ am 8. September in Essen: Die Aufenthaltsqualität in den Innenstädten muss wieder zunehmen, damit die Menschen dort einkaufen.

Freitag, 08. Oktober 2021 - Management
Lebensmittel Praxis
Artikelbild Innenstadt neu denken
Bildquelle: Ingo Hilger

Verwaiste Innenstädte, Leerstand bei kleinen Gewerbeimmobilien und großen Kaufhäusern und horrende Mieten auf der einen Seite; Home-office ohne den Mittagssnack in der Stadt oder auf dem Markt und Onlineshopping statt Stadtbummel auf der anderen Seite. Was muss passieren, damit die Menschen wieder Lust bekommen, in die Innenstadt zu fahren, um einzukaufen? Welche Rolle kann der Lebensmitteleinzelhandel dabei spielen? Darüber diskutierte Moderatorin Doro Gelmar mit Frank Ebrecht, Geschäftsführer Edeka Niemerszein, Jürgen Scheider, Vorsitzender der Geschäftsleitung Rewe Mitte, Thomas Gutberlet, Geschäftsführer Tegut, und dem Oberbürgermeister der Stadt Essen, Thomas Kufen, vor rund 350 Teilnehmern auf dem Kongress der Veranstaltung „Supermarkt des Jahres“.

Die Ausgangslage
Einig waren sich alle: Die Kundenfrequenz hat sich verändert. Kunden kaufen seltener ein. „Viele Händler stellten fest, dass sich die Kunden, die sich während des Lockdowns bei Onlinehändlern angemeldet haben, jetzt nicht wieder abmelden“, erklärte Kufen zu Beginn der Diskussion. Große Konkurrenz, die vom Onlinehandel ausgehe, sieht auch Jürgen Scheider. Aber auch dadurch, dass die Pandemie so lange anhält, würden einige Händler zur Geschäftsaufgabe gezwungen, was zu mehr Leerständen führe.

Provokativ äußerte sich Thomas Gutberlet: „Das haben wir eigentlich vorher schon alles gewusst. Wir waren vor Corona auf Kongressen, auf denen Leerstände in Einkaufszentren in den USA gezeigt wurden. Eine Krise der Kaufhäuser gab es schon vor Corona. Der Zustand war schon vorher desolat. Man hätte die Innenstädte schon vorher überdenken müssen. Corona war nur ein Beschleuniger. Ich glaube, das ist ein Versäumnis. Dem müssen wir uns stellen.“

Zustimmung dazu gab es von Kufen. Allerdings seien die Probleme in der Radikalität neu. Es gehe darum, die Städte umzugestalten. Städte und Einkaufsstraßen hätten einen transitorischen Charakter. Es ginge darum, möglichst viele Menschen durch die Innenstadt zu schleusen, um kurz einzukaufen und von A nach B zu kommen. Das werde in Zukunft so nicht funktionieren.

Die Herausforderung
Ob die Innenstädte wieder neu belebt werden können, hängt stark von der Aufenthaltsqualität ab. „Es ist ein Dreiklang: Wir haben den Handel, den Vermieter und die Stadt. Die drei müssen zusammenkommen“, sagte Scheider. Die Mieten für Gewerbeimmobilien seien aber derzeit nicht zu bezahlen, und Mietverträge würden für fünf Jahre abgeschlossen. Das sei für Start-up-Unternehmen unmöglich, weil sie nicht wissen, ob sie das überleben.

Lösungen bieten Projekte für Mietsubventionen von Gründern. Ein Programm dazu startet gerade in Hessen: Land und Stadt subventionieren Mieten für junge Unternehmen, wenn die Vermieter von leer stehenden Gewerbeimmobilien im Gegenzug ihre Miete um die Hälfte kürzen. Die Stadt mietet die Immobilie an und gibt Start-ups die Möglichkeit, ihr Geschäft auf den Weg zu bringen und nach sechs bis neun Monaten den Mietvertrag zu übernehmen. Ein ähnliches Programm gebe es in NRW, ergänzte Kufen.

Die Lösungen
Es ist nicht nur die Aufgabe des Handels, die Innenstädte aus ihrem Tiefschlaf zu holen. Gastronomie, Co-Working- und Wohnflächen würden einen großen Teil dazu beitragen, dass Menschen wieder in der Stadt leben. Gutberlet dazu: „Wir müssen über viel mehr Alternativen nachdenken. Warum nicht Schulen? Warum nicht Universitäten? Oder Bildungseinrichtungen? Wir brauchen wieder Leute in den Städten. Und wir brauchen nicht noch mehr Fast Fashion. Wir brauchen neue Ideen. Langfristige Konzepte müssen her.“

Aber der Handel hat durchaus eine wichtige Funktion. Ebrecht berichtete von der Eröffnung eines neuen Kiez in Hamburg. Der Handel sei dort ein Ankermieter, der für einen Kundenstrom in den Stadtteil sorge. Ein anderes Beispiel, das brandneue Green Building 2.0 der Rewe in Wiesbaden, erwähnte Scheider. Mit einem Gewächshaus auf dem Dach und eigener Fischzucht ziehe es Schulklassen und einzelne Besucher an. Ein Supermarkt mit alternativen Ideen, der auch in der Stadt als Anziehungsmagnet funktionieren würde.

Ein lebendiges Stadtzentrum braucht ein Angebot an Dienstleistungen. Nach Meinung der Diskutanten sollten die Elemente Arbeiten, Wohnen und Einkaufen, Post, Frisöre, Kindergärten und Vereinsleben wieder zusammengelegt werden. Für die Vielfalt und das Einkaufserlebnis seien verschiedene Handelskonzepte denkbar. Wichtig dabei: keine stereotypen Innenstädte. „Und wir müssen lernen, auch wieder mit kleineren Flächen auszukommen“, betont Gutberlet. „Das sehe ich als Herausforderung an Händler. Der Flächenverbrauch, den wir haben, die landwirtschaftliche Fläche, die verloren geht für Verkehrsfläche, Wohnbau, für Gewerbe und auch für Handel, kostet uns wahnsinnig viel Fläche.“ Das liege daran, dass Großflächen in der Vergangenheit gut gelaufen sind. Und der Handel habe sich dran gewöhnt. Aber ob das der Verkaufsort der nächsten 20 Jahre ist, dieser Frage müsse man sich stellen. „Antworten haben wir noch nicht, aber es ist wichtig, dass wir uns auf den Weg machen. Und das geht nur gemeinsam“, so Gutberlet.

Die Vision
Abschließend stellte Moderatorin Doro Gelmar die Frage, wie die Innenstadt in zehn Jahren aussehen sollte. Gutberlet hofft, dass sie alle unterschiedlich aussehen: „Das Schlimmste wäre aus meiner Sicht, wenn es einen Prototyp der deutschen Innenstadt geben würde.“

Dass der Wert von Lebensmitteln in der öffentlichen Wahrnehmung steigt, wünscht sich der Oberbürgermeister der Stadt Essen. Corona habe gezeigt, dass es ein Bedürfnis nach guten Lebensmitteln gebe, die dann aber auch entsprechend bezahlt werden müssen. Scheider liegt der erwähnte Dreiklang am Herzen. Dass eine Belebung der Innenstädte gelingt, die alle abholt und sich auch die Autofahrer nicht ausgestoßen fühlen. Jeder solle sich wohlfühlen, wenn er in die Stadt fährt, und etwas erleben. Ein ausdrücklicher Wunsch von Ebrecht ist die Mobilitätswende: „Ich wünsche mir Mut. Ich wünsche mir, dass der ÖPNV weiter ausgebaut wird. Und Wettbewerb zwischen den Städten.“ Wenn Handel, Gastronomie, Büros und Wohnraum zusammentreffen, würden die Städte automatisch attraktiv. Es gebe tolle Beispiele in Südeuropa. Man könne die Innenstädte viel schöner gestalten. Weniger Stein, mehr Grün.
Passend zum Thema Stadtentwicklung fand der „Supermarkt des Jahres“ in der Zeche Zollverein in Essen statt.