Migration Integration: Zwischen Hilfsbereitschaft und ökonomischen Interesse

In Zeiten, in denen Ausbildungsplätze nicht besetzt sind, ist es wirtschaftlich sinnvoll, Flüchtlingen eine Perspektive geben. Doch derzeit steht bei einer Beschäftigung noch die konkrete Hilfe für die Asylsuchenden im Vordergrund. Ein Plädoyer für ein gemeinsames Miteinander, Erfahrungsberichte von Betroffenen und positive Beispiele zum Nachahmen.

Freitag, 25. September 2015 - Management
Heidrun Mittler
Artikelbild Integration: Zwischen Hilfsbereitschaft und ökonomischen Interesse
Bildquelle: Rewe Wintgens

Inhaltsübersicht

Damit hat niemand gerechnet: Im Sommer ist eine Flüchtlingswelle nach Deutschland geschwappt. Die Zahlen, die seit Jahresbeginn fein säuberlich erhoben wurden und auf Seite 32 aufgeführt sind, sind Makulatur. Sie spiegeln nur den Beginn der Entwicklung wieder. Wie viele Personen insgesamt bei uns Schutz suchen, weiß derzeit niemand. Die offizielle Schätzung geht von 800.000 Flüchtlingen fürs Gesamtjahr 2015 aus.

Kein Mensch flüchtet freiwillig. Lässt seine Familie, seine Wohnung, sein Leben zurück, um sich auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse zu begeben. Wer es nach qualvollen Strapazen endlich nach Deutschland geschafft hat, muss sich hier erst einmal mit der deutschen Bürokratie auseinandersetzen. Jeder, der arbeiten will, benötigt einen Aufenthaltstitel (s. Kasten). Erst dann kann er eine Beschäftigung aufnehmen und im besten Fall selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen . Die Behörden sind mit dem Ansturm überlastet, das führt dazu, dass ein Großteil der Flüchtlinge lange auf eine Entscheidung wartet, ob sie in Deutschland bleiben dürfen oder nicht.

Ungewissheit und Fragezeichen sind Dinge, mit denen große Arbeitgeber nicht gut umgehen können. Wer für die Personalplanung und -entwicklung von Mitarbeitern verantwortlich ist, braucht verlässliche Grundlagen. Die aktuelle politische Diskussion zeigt viele offene Fragen: Werden Länder auf dem Balkan zu sicheren Herkunftsländern erklärt? Dürfen Flüchtlinge nach einer Ausbildung garantiert noch zwei Jahre in Deutschland weiterarbeiten? Und welche schulischen oder beruflichen Abschlüsse werden bei uns anerkannt?

Der Lebensmittelhandel, der zu den ganz großen Arbeitgebern gehört, arbeitet intensiv an Lösungen, wie man Flüchtlinge beschäftigen kann. Die Handelszentralen tun das nicht aus purer Menschenliebe, sondern gepaart mit Egoismus. Denn schon heute ist es in vielen Regionen schwierig, gute Auszubildende zu rekrutieren, nicht alle Ausbildungsplätze werden besetzt. Im Pool der Flüchtlinge befinden sich viele mit hoher Leistungsbereitschaft und dem Willen zu arbeiten, sonst hätten sie die Flucht wohl kaum überstanden. Die Verantwortung gegenüber den Individuen trifft also auf ökonomisches Interesse. „Schon in naher Zukunft werden wir gezielte Angebote zur Beschäftigung von Flüchtlingen machen“, kündigt ein Unternehmenssprecher der Rewe Group an und appelliert an den Gesetzgeber, Hürden abzubauen.

Solange die Zentralen keine klaren Handlungsanweisungen geben, wie man mit arbeitssuchenden Flüchtlingen umgehen soll, ist Eigeninitiative gefragt . Und da Händler überwiegend praktisch denken, findet man erfreulich viele Beispiele, bei denen die Pragmatiker nicht lange überlegen, sondern handeln. Sedat Karavil, Edeka-Kaufmann im bayerischen Obing, ist so einer. Er hat schon mehreren jungen Flüchtlingen die Chance gegeben, ein Praktikum zu machen. Als Mentor im Edeka- Projekt „Geh Deinen Weg“, das talentierte Einwanderer beruflich fördert, kennt er zahlreiche Menschen, die eingewandert sind und in Deutschland eine Perspektive suchen. Er weiß: Anders als junge Migranten aus Spanien oder Portugal haben Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea oder Afghanistan zumindest ein Problem weniger. Sie haben weniger Heimweh. Schlichtweg, weil es keine Hoffnung auf Rückkehr in ihr Heimatland gibt.

Multi-kulturelles Arbeiten ist im Handel weit verbreitet, Menschen aus vielen unterschiedlichen Nationen arbeiten und lernen miteinander. In den vergangenen Jahrzehnten ist es gelungen, viele Ethnien zu integrieren. Ein Paradebeispiel ist der Rewe-Markt von Ursula Wintgens in Bergisch-Gladbach. Auf 800 qm Verkaufsfläche beschäftigt sie 38 Menschen aus zehn Nationen . Ihr Motto lautet „Bei uns ist jeder willkommen, egal aus welchem Land und mit welcher Vorbildung“. Sie geht noch weiter und setzte zu Jahresbeginn gut sichtbar ein Zeichen für Toleranz – als Antwort auf die ausländerfeindlichen Hetzattacken von Pegida und Co. Sie hat mit den Mitarbeitern Fotos erstellt und ihr Anliegen „Hand in Hand – egal aus welchem Land“ weithin sichtbar auf dem Parkplatz plakatiert. Übrigens setzt Ursula Wintgens das Thema Vielfalt auch gezielt im Markt um, als ungewöhnliche Länderwochen.

Wenn weitere Händler samt ihren Mitarbeitern unbeirrt ihren toleranten Weg gehen, gelingt es, auch den neu ankommenden Flüchtlingen eine Perspektive zu geben – ein Vorteil für beide Seiten.