Algorithmen, Roboter & Co. KI sichert die Zukunft

Schlagen selbstlernende Systeme bald erfahrene Kaufleute beim Wurstverkauf an der Theke und beim Managen der Warenströme? Gigantische Investments in KI zeigen, wie ernst der Handel die neuen Technologien nimmt.

Freitag, 16. Juni 2023 - Management
Tobias Dünnebacke und Matthias Mahr
Artikelbild KI sichert die Zukunft
KI-Aufgabe: die Altersverifikation im Self-Check-out
Bildquelle: Jörg Sarbach, Schwarz-Gruppe, Matthias Mahr

Künstliche Intelligenz (KI) und selbstlernende Maschinen sind bereits seit Jahren ein mediales Thema. Doch spätestens mit der Veröffentlichung des auf KI basierenden Chatbots ChatGPT im November 2022 hat sich ein regelrechter Hype um die Intelligenz aus dem Computer entwickelt, mit der jetzt sogar Otto Normalverbraucher ein anregendes Gespräch führen kann. Die Annahmen und Erwartungen zu den Auswirkungen dieser Technologie reichen von apokalyptischen Untergangsszenarien bis hin zu Träumereien über eine noch bequemere Zukunft, in der wirklich innovative Geschäftsfelder erschlossen werden können. Doch ist der Lebensmitteleinzelhandel, der noch immer meist stationär Lebensmittel präsentiert und verkauft, reif für diese neuen Technologien, die in vielen Fällen und auch sehr zeitnah disruptiv in Gesellschaft und Wirtschaft eingreifen werden?

Wir haben die Künstliche Intelligenz gefragt. Laut ChatGPT ergeben sich erstaunlich konkrete Anwendungsbereiche auch für Lebensmittelhändler. Der text- und sprachbasierte Chatbot promotet sich gegenüber der Lebensmittel Praxis als Ideengeber und Inspirationsquelle: „Ich kann dabei helfen, den Lagerbestand zu überwachen und auf Basis von Verkaufsdaten Prognosen über künftige Nachfrage zu erstellen.“ Oder: „Basierend auf den Zutaten, die Sie auf Lager haben oder verkaufen möchten, kann ich Ihnen Rezeptideen liefern.“ Zu guter Letzt: „Durch die Analyse von Kundendaten kann ich personalisierte Empfehlungen geben, welche Produkte für bestimmte Gruppen interessant sein können. Das verbessert das Einkaufserlebnis und baut eine stärkere Kundenbindung auf.“

Daten sind heute Gold

Es herrscht Goldgräberstimmung in der Datensammel-Industrie. Die künstliche Intelligenz breitet sich aus. Wer jetzt nicht an Bord des KI-Schiffes geht, droht mit seinem Geschäftsmodell zu scheitern. Besonders im Einzelhandel wächst der Druck. Wenn Mitarbeiter rar werden, braucht es neue und zukunftsfähige Lösungen. Neue Anwendungen machen es möglich, aufwendige Arbeiten wie das Erfassen von Warenbeständen an den Kollegen Roboter abzugeben. Durch täglich gesammelte Daten wie Käuferfrequenzen, Kassenbons und Warenfehlbestände (Diebstahl) können die Prozesse schneller und effizienter gesteuert werden. Von der Logistik bis zum Category-Management ergeben sich viele Möglichkeiten.

Überschätzt die Computerintelligenz ihre Fähigkeiten als Helfer für den Lebensmittelhändler möglicherweise? Die großen Handelskonzerne scheinen die Technologie zumindest sehr ernst zu nehmen. Da wäre beispielsweise der Großhändler Metro, der schon heute rund 60 Mitarbeiter in Vollzeit beschäftigt, um KI-Anwendungen zu entwickeln. Eine halbe Milliarde Euro sei laut Metro schon in diesen Bereich geflossen. Der große Vorteil des Großhändlers: Jeder Käufer muss sich als Gewerbetreibender bei Metro registrieren. So können Daten gesammelt und das Einkaufsverhalten studiert werden. Daten sind das neue Geld. Datenmengen sind das Lebenselixier künstlicher Intelligenz.

Das Beispiel der Schwarz-Gruppe mit dem Discounter Lidl und dem SB-Warenhaus Kaufland ist mehr als ein kühnes Projekt: Die Planung für einen „KI-Stadtteil“ in Heilbronn steht. Auf dem Forschungscampus sollen bald rund 5.000 IT-Experten zu KI und selbstlernenden Maschinen forschen. Das veröffentlichte Investitionsvolumen von 100 Millionen Euro teilen sich die Schwarz-Stiftung und das Land Baden-Württemberg. Ein Mini-Silicon-Valley am Neckar entwickelt sich.

„KI birgt großes Potenzial, weshalb wir sie weiter untersuchen und fördern werden“, erklärt ein Sprecher der Schwarz-Gruppe gegenüber diesem Magazin. Schon heute würde die Technologie beim Supply-Chain-Management, bei Warenwirtschaft und Logistik, aber auch bei der Interaktion mit den Kunden von Lidl und Kaufland eingesetzt. Die Loyality-Programme Lidl-Plus und K-Card sind dafür ein prominentes Beispiel. Neueste Entwicklungen im Bereich der sogenannten generativen KI, zu der auch ChatGPT gehört, hätten zudem das Potenzial, sich wiederholende Aufgaben zu übernehmen und die Arbeit vieler Beschäftigter zu bereichern. „Wir reden von Kundenservice, Rechnungswesen, Marketing und Kommunikation, aber auch vom Personalwesen sowie dem IT-Support“, so der Sprecher der Heilbronner.

23,5

Prozent der Händler geben bei einer HDE-Umfrage an, sich mit KI zu befassen.

25,2

Prozent geben bei der gleichen Umfrage an, dass KI für sie noch nicht in Betracht kommt.

Diffuses Bild zur KI-Anwendung im Handel
Trotz der Beispiele Metro und Schwarz-Gruppe ergibt sich bei der Frage, wie weit KI im Einzelhandel schon verbreitet ist, ein eher diffuses Bild. Das Handelsforschungsinstitut EHI will bei einer Umfrage unter 92 großen Handelsketten mit insgesamt 60.000 Filialen im deutschsprachigen Raum herausgefunden haben, dass bereits knapp 70 Prozent der Händler auf die schlagzeilenträchtige Technologie setzen. Vor allem bei der Vorhersage der Nachfrage sowie der Planung des Nachschubs, aber auch bei der Preisgestaltung spiele KI eine immer größere Rolle. Der Handelsverband Deutschland (HDE) indes berichtet, dass bei einer aktuellen Branchenumfrage 23,5 Prozent der Händler angaben, KI zu nutzen. Tendenz stark steigend. „In der Breite ist die Technologie noch nicht angekommen“, sagt der stellvertretende HDE-Hauptgeschäftsführer Stephan Tromp. Aus der Sicht vieler Händler mangele es nach wie vor noch an konkreten Anwendungsfällen im Alltagsgeschäft für künstliche Intelligenz im Handel.

Dabei gibt es konkrete Anwendungsbeispiele bereits zuhauf. Das Start-up Signatrix, zu dessen Kunden Globus und Edeka gehören, hat einen digitalen Assistenten entwickelt, der mittels Kamera am Kassentisch oder an der Decke automatisch überprüft, ob sich beim Bezahlvorgang noch Waren im Einkaufswagen oder Einkaufskorb befinden. Das Kassenpersonal muss nur im angezeigten Verdachtsfall kontrollieren. Oder das Beispiel Diebold-Nixdorf: Der Technologieanbieter strebt unter anderem an, den immer wichtiger werdenden Prozess beim Self-Checkout mittels KI zu vereinfachen. Mit einer kamerabasierten Gesichtserkennung kann die Verifizierung des Alters beim Kauf alkoholischer Getränke auf wenige Sekunden reduziert werden. Ganz ohne menschliche Mitarbeiter. Ein Test findet derzeit bei der Coop in Großbritannien statt.

Chatbots vereinfachen die Personalsuche

Weiter verbreitet sind Chatbots – vor allem im Personalmanagement. Die Not, gute Mitarbeiter zu finden, scheint bei den Händlern die Bereitschaft zu erhöhen, sich mit diesen Technologien auseinanderzusetzen. Das System „Kala“ von Kaufland ist über das Karriereportal des Händlers in den Filialen anzutreffen und bietet ein niedrigschwelliges Angebot für Interessierte, sich binnen weniger Minuten bewerben zu können. Noch einfacher macht es Rewe seinen künftigen Mitarbeitern: Die Software „Talk’n’Job“ kann ganz simpel über die Sprachfunktion des Mobiltelefons bedient werden und übernimmt eine erste Vorauswahl der interessanten Kandidaten für das HR-Management. Nach Aussagen von Experten werden solche Kommunikationsformen mit einem steigenden Bekanntheitsgrad von KI-Bots wie ChatGPT zunehmen. Dies könnte auch der digitalen Kundenberatung neuen Schwung verleihen. Aber auch Themen wie Warenverfügbarkeit und Category-Management benötigen einen innovativen Schub. Stephan Cunäus, Geschäftsführer im Edeka-Center im Warnow Park in Rostock, nutzt bereits Kameras, die ein Warenregal im Markt in festgelegten Zeitverläufen fotografisch erfassen und an eine Software übermitteln, die mittels KI strukturierte Daten erstellt und den Händler und seine Mitarbeiter schneller und effektiver auf Regallücken oder Fehlbestückung aufmerksam macht.

Die Drogeriemarktkette dm hat bereits vor einem Jahr mit einer Bremer Uni-Ausgründung einen vergleichbaren Test gestartet. Annähernd 60 Prozent der Warenbestände sind in den Filialen nicht korrekt erfasst. Das Start-up Ubica hat einen Scan-Roboter entwickelt, der nach Ladenschluss erwacht. Ausgestattet mit einem Kamerasystem und Software, sammelt die KI alle relevanten Daten in den Regalen und erstellt einen „digitalen Zwilling“. Tagesaktuell können auf diesem Weg die Warenbestände in den Filialen erfasst werden. Das kann der Roboter effizienter, als es die immer rarer werdenden Mitarbeiter je könnten. Die neue Technologie trägt zu einer Steigerung der Effizienz im Einzelhandel bei, da sich Lieferketten und interne Prozesse optimieren lassen. Auch das Category-Management profitiert künftig, da je nach Filiale das Angebot an die Zielgruppen genau ausgesteuert werden kann.

Bilder zum Artikel

Bild öffnen Chatbot „Kala“ soll Bewerbungen bei Kaufland erleichtern.
Bild öffnen KI-Aufgabe: die Altersverifikation im Self-Check-out