Fairtrade Deutschland „Die Zeit arbeitet für Fairtrade“

Rekord-Umsätze, ein Jubiläum und neu bescheinigte Positiv-Wirkung im globalen Süden: Fairtrade Deutschland hat in diesem Jahr viele Gründe zu feiern. Wäre da nicht der Abschied von „Mr. Fairtrade“. Dieter Overath geht nach 30 Jahren in den Ruhestand und sprach mit der LP über die Anfänge, die größten Herausforderungen und die Zukunft des fairen Handels.

Freitag, 15. Juli 2022 - Management
Bettina Röttig
Artikelbild „Die Zeit arbeitet für Fairtrade“
Bildquelle: Peter Eilers

Trauerstimmung will Dieter Overath in seinen letzten Wochen als geschäftsführender Vorstandsvorsitzender von Fairtrade Deutschland nicht aufkommen lassen. So sprengt er in seiner spitzbübischen Art gepaart mit kölschem Humor die eigene offizielle Verabschiedung kurzerhand mit einem angedeuteten Striptease. Zu den Klängen von Joe Cockers „You can leave your hat on“ lässt er die Hüften kreisen und knöpft langsam sein Hemd auf, um den Schriftzug „Danke Team Fairtrade“ zu entblößen. Mit seiner Performance im Rahmen der Jubiläums-Feier der Organisation, die er vor 30 Jahren als One-Man-Show gründete, wischt er den versammelten Mitstreitern, Kollegen und Wirtschaftspartnern – aber auch sich selbst, die Tränen der Rührung aus den Augen und lenkt nach hoch emotionalen Reden über ihn und sein Wirken den Fokus auf das, was er nie müde wird zu betonen: Der Faire Handel ist Team-Arbeit und jeder Einzelne, ob Verbraucher, Politiker oder Unternehmer, ist gefordert, für globale Gerechtigkeit zu kämpfen. „Wer meint, einer allein kann nichts ausrichten, der stelle sich eine Nacht mit einem nervigen Mosquito im Zimmer vor“, verdeutlicht Harriet Lamb, CEO der Wohltätigkeitsorganisation Ashden und ehemals für Fairtrade International tätig. „Dieter Overath ist ein Mosquito, der hartnäckig bleibt, bis er seine Ziele erreicht.“ Präsens statt Perfekt, wohl gemerkt.

Noch bis Ende Juni war Dieter Overath offiziell und mit Vollgas im Einsatz für Fairtrade-Deutschland, sein Terminkalender bis zur letzten Minute gefüllt. „Ich bin keine lahme Ente“ betont er in den vergangenen Wochen immer wieder, obwohl niemand, der ihn kennt, je auf diese abstruse Idee käme. Denn Dieter Overath ist berühmt für seinen Ehrgeiz, dafür, stets neue Pläne zu schmieden, wie Fairtrade weiter vorangebracht werden kann. Fairtrade Deutschland hat für diesen Spirit ein neues Wort kreiert: „Fairan“. Der von nun an dreiköpfige Vorstand und das gesamte Team wird Fairtrade mit Hochdruck weiter „fairan“ bringen. Über die Herausforderungen sprach Dieter Overath mit der LP.

Reißen wir das Pflaster schnell ab: Mit welchem Gefühl verlassen Sie Fairtrade?
Dieter Overath:
Mit einem „juten Jeföhl“, wie der Kölner sagt. Das Haus ist gut bestellt. Wir haben im Team alle wichtigen Themenstränge von Kampagnen, über Öffentlichkeitsarbeit und Marketing bis zum Sourcing extrem gut besetzt. Dass Fairtrade von einem dreiköpfigen, mehrheitlich weiblichen Vorstand geführt wird, ist eine Ansage. In der nächsten Phase ist es wichtig, dass wir in den einzelnen Strängen gut vorankommen. Wir haben uns in vielen Themenbereichen verstärkt, binden junge Menschen über unsere Kampagnen Fairtrade-Schools und Fairtrade-Universities ein, um Fairtrade in die Zukunft zu tragen. Gerade haben außerdem rund 100 junge Erwachsene, darunter unsere Fair Activists gemeinsam mit weiteren Engagierten und Entrepreneurs aus Deutschland und den Erzeugerländern im Rahmen unseres Jubiläums an neuen Konzepten und Ideen gearbeitet.

Blicken wir kurz zurück: Als Sie vor 30 Jahren Fairtrade Deutschland gegründet haben, was dachten Sie, könnte daraus irgendwann bestenfalls entstehen?
Zum Glück bin ich ein grundoptimistischer Mensch. Ich hatte gehofft, dass es einen Nährboden für einen solidarischen Grundgedanken gibt, der Fairtrade ja zugrunde liegt. Zum Start hatte ich einen Ein-Jahres-Vertrag in der Tasche und ein Budget der Hilfswerke von 100.000 DM, um ein Logo zu entwickeln, Kriterien und Lizenzverträge gemeinsam mit Schwesterorganisationen aus Holland und später der Schweiz zu erarbeiten. Dass im discountorientierten Deutschland eine Organisation entstehen würde, die für mehr als 2 Milliarden Euro Umsatz mit Fairtrade-gesiegelten Produkten steht, der Alltagseinkauf ob im Vollsortimenter oder im Discount Fairtrade mit einbezieht und der faire Handel weltweit zu einer solchen Bewegung heranwachsen würde, das war 1992 nicht abzusehen. Heute zählen wir 92 Mitarbeitende und Deutschland ist global der wichtigste Markt für Fairtrade.

Was waren die aus Ihrer Sicht bedeutendsten Schritte und Etappensiege, um Fairtrade zu etablieren?
Extrem bedeutend war 1996/97 der Schritt, uns mit den anderen Länderorganisationen auf ein globales Logo für Fairtrade zu einigen. Damals gab es acht verschiedene Logos. Ich freue ich immer noch darüber, wie prägnant das Signet ist. Mit Lidl die erste Handelsmarke mit Siegel auf den Markt zu bringen und die Entscheidung der Rewe, den 10-er Bund Rosen auf Fairtrade umzustellen, hat im Markt viel bewegt, um Fairtrade aus der Nische in den Mainstream zu holen. Heute haben wir bei Rosen einen Marktanteil von 36 Prozent im Lebensmittelhandel. Die Entwicklung eines Standards für Fairtrade-Textilien war ein weiterer sehr bedeutender Meilenstein. Der Textil-Standard von Fairtrade ist der einzige, der alle Stufen der Textilproduktion abdeckt, inklusive das Entkörnen, Weben und Färben der Baumwolle.

Was war entscheidend für den Erfolg von Fairtrade?
Die Besonderheit ist, dass wir nicht nur ein Marketinginstrument in Form einer Kennzeichnung auf Produkten sind, sondern, dass wir mobilisieren. Das war am Anfang wichtiger denn je, denn die Bereitschaft, ein teureres Fairtrade-Produkt in die Regale zu stellen war nachgewiesenermaßen nicht sehr groß. Der Diskurs und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft hat dazu geführt, dass wir heute so erfolgreich sind. Die Hälfte der Bundesbürger lebt mittlerweile in Fairtrade-Towns, über 800 Schulen sind ausgezeichnete Fairtrade-Schools und tragen unsere Botschaften weiter. Unsere Stärke ist, dass wir immer wieder neue und oft ungewöhnliche Ideen entwickeln, wie wir unsere Botschaften vermitteln, Aufmerksamkeit generieren und prominente Unterstützer gewinnen können. Zum Beispiel haben wir vor Jahren den Fußballstar Giovane Elber für uns gewonnen. Sein Vater war Orangen-Pflücker in Brasilien. Giovane Elber hatte dann für uns Geografie-Unterricht an einer Hauptschule in München gegeben und erklärt, wie hart der eigene Vater auf Orangen-Plantagen arbeiten musste. Mit solchen Aktionen haben wir ohne große Budgets oft ein enormes Medien-Echo erhalten.

Nicht immer war es ein Zuckerschlecken. Gab es Momente, in denen Sie gerne hingeschmissen hätten?
Ich bin hartnäckig und ehrgeizig. Ich will Punkte machen, egal ob in den Verhandlungen mit Handel und Industrie oder beim Tischtennis mit den Kollegen und Kolleginnen. Die ersten Jahre waren kein Heimspiel. Am Anfang von Fairtrade saß ich als Vertreter einer NGO gefühlt oft am Katzentisch des Interesses und fühlte mich wie ein Protagonist im Chanson „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ von Franz Josef Degenhardt. Jetzt sind wir mittendrin, Teil des zivilgesellschaftlichen Diskurses, sind sogar in fast allen Schulbüchern und Lehrplänen.

Welche waren die emotionalsten und prägendsten Momente und Erlebnisse für Sie in deiner Zeit bei Transfair?
Da gibt es unzählige. Als Wolfram Schmuck, damals Leiter der Unternehmenskommunikation der Rewe Group, im Februar 1993 die eigene Vorstandssitzung verließ, um ein Festnetztelefon zu suchen und mir zu sagen: „Overath, die bundesweite Listung für Fairtrade-Kaffee ist durch“ – da habe ich Luftsprünge gemacht. Ein tolles Gefühl war es auch, als Saarbrücken die erste Fairtrade-Town wurde und die komplette City-Lights Werbung zu Fairtrade gestaltet hatte – ein echtes Commitment! Ein weiteres Highlight war die Einführung der ersten Handelsmarke mit Fairtrade-Siegel, die Lidl Eigenmarken Fairglobe.

Die enge Bindung an den Discount musste sich Fairtrade jedoch auch vorwerfen lassen.
Dem Fairtrade-Bauern im Süden ist es egal, wo seine Produkte verkauft werden, Hauptsache, sie werden gekauft und der Mehraufwand wird entlohnt. Die überwiegende Mehrheit der Verbraucher hierzulande geht zum Discounter, der Vertriebskanal ist entsprechend ein sehr relevanter Mengenfaktor. Vor zehn Jahren waren wir noch bei einem Fairtrade-Marktanteil von 0,1 Prozent bei Kakao, der Großteil der Fairtrade-Ernte konnte nicht als solche vermarktet werden. Heute verkaufen die Kooperativen 30 bis 50 Prozent ihres Kakaos als Fairtrade-Ware. Damit können wir einen signifikanten Impact bei den Produzenten erreichen. Ohne den Discount geht dies nicht.

Welche Hausaufgaben geben Sie Handel und Herstellern auf?
Ehrlicher kommunizieren, um die Menschen zu einem anderen Konsum zu bewegen. Fairtrade ist dabei an ihrer Seite. Auch wir werden noch stärker in die Kommunikation gehen müssen, um für einen bewussteren Konsum zu werben. Heute früh habe ich einen Podcast zum Thema Konsumrausch gehört und dachte: Wie kommen wir von einem Konsumrausch zu einem „Sinn-Rausch“? Wir wollen keine Verzichtsdebatte anregen oder propagieren, auf Lebensmittel zu verzichten. Aber es sollte besser vermittelt werden, dass ein sinnhafter Konsum auch glücklich macht.

Was hat sich Fairtrade für die nächsten Jahre noch vorgenommen?
Wir haben in den vergangenen 30 Jahren viele Erfolge verzeichnet. Die nächsten 30 Jahre dürfen aber höchstens 8 Jahre in Anspruch nehmen, sprich: Wir brauchen schnellere Fortschritte, nicht nur im sozialen Bereich, auch bei der ökologischen Nachhaltigkeit. Unsere grüne Flanke muss noch stärker werden. Die Herausforderungen des Klimawandels sind gewaltig, wir haben unsere Kompetenz hier noch einmal erweitert, um unsere Produzenten gut zu beraten und für mehr Klimaresilienz in den Produzentenländern des Südens zu sorgen. Auch am Thema existenzsichernde Löhne arbeiten wir mit Hochdruck. Fairtrade ist hier der halbe Weg, wir müssen aber gemeinsam den ganzen Weg gehen.

Wie sehr ist Fairtrade durch die aktuelle Situation – Ukraine-Krieg, Inflation und sich verändernde Kaufverhalten – betroffen?
Dass der verdammte Krieg so viel Leid verursacht und nun die globalen Probleme, von der Klimakrise bis zu den Herausforderungen in den Produzentenländern des Südens, in den Hintergrund gedrängt werden, das ärgert mich kolossal. Schon die Corona-Pandemie zeigte: Im globalen Süden sind Krisen ungleich heftiger spürbar. Aktuell sind zum Beispiel Bananenkisten plötzlich doppelt so teuer, Container sind kaum zu bekommen. Weniger Sorgen mache ich mir aber im Hinblick auf den deutschen Markt für Fairtrade-Produkte – solange diese prominent im Regal zu finden sind. Der Handel wird seine Nachhaltigkeits-Konzepte nicht beerdigen und Fairtrade-Kunden sind treu. Überzeugungstäter sparen sicher nicht an jedem Cent. So sind unsere Absätze bisher auch nicht eingebrochen.

Sie hatten mir einmal gesagt, Sie könnten erst aufhören, wenn Bananen nicht mehr im Handel „verramscht“ werden. Wie weit entfernt ist dieses Ziel in Anbetracht der aktuellen Situation?
In diesen Wochen wurden Bananen zu einem Kilopreis von 66 Cent angeboten – ein Rekordtief. Im Grunde muss sich die Nation schämen, wenn Bananen unter 1 Euro pro Kilogramm gekauft werden. Regionale Äpfel kosten ein Vielfaches davon. Die Bananen-Problematik ist eine Hausaufgabe für alle Beteiligten. Wie können wir stolz darauf sein, 12 Euro Mindestlohn durchgesetzt zu haben, aber verlangen, dass viele Produzenten im Süden weiterhin für 1 Euro am Tag arbeiten? Diese Art der kolonialen Arbeitsteilung ist längst überholt. Heute hat jeder junge Mensch im globalen Süden Zugang zum Internet und weiß, dass das Leben in anderen Teilen der Welt besser ist. Die junge Generation wird für unseren Wohlstand nicht länger für einen Hungerlohn auf Plantagen arbeiten. Die Süßwaren-Industrie ist mittlerweile aus Eigeninteresse einen Schritt weiter und engagiert sich. Aber auch im Kaffeeanbau läuft der Countdown. Schon jetzt verändert der Klimawandel die Bedingungen in den Anbauregionen. Wenn die Branche jetzt nicht reagiert, bekommen wir in 10 bis 20 Jahren keinen Kaffee mehr. Zudem werden junge Konsumenten hierzulande Antworten und aktives Handeln einfordern. Die Zeit arbeitet also für Fairtrade. Wir benötigen jedoch mehr Verbindlichkeit.

Was fordern Sie von der Politik?
Schärfere Gesetze. Wir haben uns in den SDGs, den Nachhaltigkeitszielen der UN, vorgenommen, Armut bis 2030 zu besiegen. Im Moment steigt die Armut jedoch wieder. Mit Freiwilligkeiten erreichen wir zu wenig. Runde Tische führen dazu, dass sie sich irgendwann so schnell drehen, dass das Ziel aus Augen verloren wird und kein Handlungsdruck entsteht. Das deutsche Lieferkettengesetz hat leider nicht das Recht auf existenzsichernde Löhne verankert, das muss nachgebessert werden. Kinderarbeit wird erst beendet sein, wenn existenzsichernde Löhne gezahlt werden.

Wie viel müssten nachhaltige Bananen mindestens kosten, um auch existenzsichernde Löhne zu gewährleisten?
Wenn das Kartellamt jetzt mal weghört, dann sage ich: Bananen, die umwelt- und sozialgerecht angebaut werden, müssten im deutschen Handel zu einem Mindestpreis von 1,19 Euro angeboten werden.

Lidl hatte vor kurzem angekündigt, sein Bananen-Sortiment noch fairer zu machen, ohne die Verbraucherpreise zu erhöhen. Kommentieren Sie das bitte.
Nachhaltigkeit gibt es nicht umsonst. Die Preisfrage ist jedoch eine sehr schwierige. Man kann nicht sagen: Je höherpreisig, desto fairer ist ein Produkt, oder je günstiger, desto ausbeuterischer. Ein teures DFB-Fan-Trikot vollgepumpt mit PR ist beispielsweise kein konstruktiver Beitrag zu Sorgfaltspflicht, wenn die Näherin in Bangladesch nicht auch einen existenzsichernden Lohn erhält. Es muss immer auf die Details geschaut werden.

Neue EU-Regelungen sollen ermöglichen, dass Mehrwertsteuersätze als Lenkungsinstrument eingesetzt und nachhaltige Produkte günstiger werden können. Somit wären nicht Fairtrade-Produkte „Luxus“ sondern nicht nachhaltige Produkte – es sei denn, Unternehmen streichen lieber höhere Margen ein. Richtiger Hebel?
Der Staat sollte positive Lenkungsmöglichkeiten nutzen. Dabei gilt es zu klären: Wo sind Standards und Siegel, die so wirkungsvoll sind, dass sie steuerlich gefördert werden sollten? Ein weiterer Weg wäre für mich die Umkehrung der Erklärungspflicht. Dass wir uns ständig erklären müssen, warum wir nicht noch weiter sind, ist in Ordnung. Aber Ausbeutung darf kein Wettbewerbsvorteil sein. Die junge Generation fordert Transparenz, keine blumige Nachhaltigkeits-Werbung. Der Philosoph Richard David Precht hat einmal angeregt, es müsse eigentlich ein „Bad-Trade“-Zeichen geben. Auf jeder Zigarettenpackung stehen gesundheitsbezogene Warnhinweise. Es sollten auch alle Food- und Textil-Hersteller im ähnlichen Stil erklären müssen, warum sie ausbeuterisch agieren.

„Wir müssen künftig additive Dienstleitungen bieten und ein kompetenter Begleitservice sein für die Ansprüche, die Gesetze zu menschen- und umweltrechtlichen Sorgfaltspflichten an Unternehmen stellen.“

Dieter Overath, Fairtrade Deutschland

Das europäische Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz soll schärfer ausfallen als das deutsche. Welche Aufgabe und Rolle nimmt Fairtrade in diesem Kontext künftig ein?
Die Ansprüche an uns wachsen im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatten und neuen Gesetzgebungen. Wir müssen ein kompetenter Begleitservice sein für die Ansprüche, die Gesetze zu menschen- und umweltrechtlichen Sorgfaltspflichten an Unternehmen stellt. Das heißt: Wir werden künftig additive Dienstleitungen bieten müssen, um Hersteller zu unterstützen. Im Fachbereich Sourcing haben wir bereits das interne Know-how und unsere Kompetenz in den Lieferketten noch einmal sehr stark ausgebaut.

Wäre es Ihr Wunsch, dass Fairtrade irgendwann überflüssig werden könnte?
Der tollste Erfolg wäre tatsächlich, wenn Organisationen wie Fairtrade überflüssig würden. Aber leider zeigt die Realität: Ohne „Watchdog“ wird die Welt nicht besser, sozialer oder nachhaltiger. Klar ist auch: Fairtrade allein kann die Welt nicht retten. Wir werden daher Kooperationen eingehen mit anderen seriösen Nachhaltigkeits-Siegeln, um unsere Stärken zu bündeln und einander zu ergänzen.

In welchen Produkt- und Geschäftsbereichen sehen Sie für Fairtrade Deutschland weiteres Potenzial?
Wir müssen noch einige Nüsse knacken und bei der Nuss würde ich gerne ansetzen. Auch bei Frischeprodukten wie Ananas sowie Reis müssen wir nachlegen. Wir werden uns aber auch nicht mit den aktuellen Marktanteilen in den bestehenden Food-Segmenten zufriedengeben. Schauen wir auf Konsumenten-Umfragen, so sind vor allem mehr Fairtrade-Textilien gewünscht. Hier werden wir Gas geben. Fairtrade-Berufskleidung wäre ein sehr wichtiger Baustein. Durch die Brille der Fairtrade-Produzenten betrachtet, wird es sehr wichtig sein, dass lokale Absatzmärkte erschlossen werden, um die Produzenten unabhängiger vom Weltmarkt zu machen. Je größer der Teil der Wertschöpfungskette, der in den Produzentenländern verbleibt, desto größer ist der Impact vor Ort –ökologisch und sozial.

Wo gibt es bereits Positiv-Beispiele?
Kurz bevor Fairtrade Deutschland 1992 gegründet wurde, war ich zu einer Hochzeit in Costa Rica und habe meinen Aufenthalt dort verlängert, um einige Wochen bei der Kaffee-Ernte zu helfen und die Herausforderungen der Produzenten zu verstehen. Die Kooperative hieß Coope Victoria. Getrunken wurde damals vor Ort erschreckenderweise jedoch kein Kaffee aus eigenen Bohnen, sondern Nescafé. Heute wird der eigene Kaffee vor Ort in Supermärkten und sogar bis nach Hong Kong unter der eigenen Marke verkauft. Dies ist für mich natürlich das emotionalste Beispiel. Den enormen Fortschritt konnte ich mir auf meiner letzten Reise vor Corona persönlich vor Ort anschauen.