Trend 2017 Was uns erwartet

Online-Handel versus offene Produktion, Discount versus Verführung, Rendite versus Personalkosten – Aldi und Amazon greifen an, doch die Supermarkt-Betreiber schlafen nicht und antworten mit Persönlichkeit und Charme: Die Themen für das Jahr 2017 sind nicht neu, aber deswegen nicht weniger spannend.

Samstag, 07. Januar 2017 - Management
Reiner Mihr
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Martin Fassnacht<br />

Einige Branchen-Experten und ihr Ausblick auf das neue Jahr

Martin Fassnacht, Professor für Marketing und Handel, WHU Vallender

Diskurs, Discount, Digital

  1. Die Annäherung der Formate wird weiterhin fordernd sein, da der hybride Verbraucher kein loyaler Verbraucher ist. Der Wettbewerb wird somit noch intensiver, sodass auch die Forderungen gegenüber der Industrie noch aggressiver werden.
  2. Die Markenlistungen von Aldi stellen keinen Paradigmenwechsel mehr dar, sondern sind zur Normalität geworden. Die verheerenden Auswirkungen für die Wettbewerber von Aldi bleiben jedoch, sodass diskutierte Maßnahmen häufig nur der Schadensbegrenzung dienen.
  3. Die Discounter bleiben auch künftig die Kostenführer. Supermärkte müssen sich im Gegenzug noch klarer über das Einkaufserlebnis, das Sortiment und eine standortspezifische Ausrichtung differenzieren. Daher muss man auch verstehen, dass man nicht gleichzeitig Kosten- und Qualitätsführer sein kann.
  4. Amazon Fresh wird 2017 kommen. Trotzdem wird auch 2017 das Online-Geschäft mit Lebensmitteln eine Nische bleiben. Die größere Herausforderung liegt in der Denkweise von Amazon, das kein Handels- sondern ein kundenzentriertes Unternehmen ist und seine verschiedenen Angebote miteinander verzahnen kann.
  5. Amazon Go ist eine Revolution, die den Convenience-Trend perfekt umsetzt. Bei allem Respekt: Kein deutscher Händler wäre auf die Idee des kassenlosen Bezahlens gekommen. Diese digitale Kultur, die wahre Innovationen entstehen lässt, fehlt deutschen Händlern und muss schnellstmöglich aufgebaut werden.
Daniela Bautz, Inhaberin, Headline Daniela Bautz Projectmanagement

Präsenz, Profil, Personal

  1. Große Veränderungen 2016 im Lebensmittel-Einzelhandel waren die Aufwertung des Ladendesigns bei Aldi, die stärkere Präsenz von Frischeprodukten inklusive Backwaren dort und die damit verbundene Annäherung an die Vollsortimenter.
  2. Die größten Herausforderungen im Jahr 2017 werden die eigenständige und standortbezogene Profilierung durch Sortimentsvielfalt und impulsstarke Inszenierung, qualifiziertes, motiviertes Personal und die Intensivierung der Kundenbindung durch individuelle Serviceleistungen sein.
  3. Der Vollsortimenter kann sich profilieren: mit offener Produktion auf der Fläche, Anteil gastronomischer Flächen vor und nach der Kasse, Front-Cooking-Konzepten, und kann dem Kunden für wichtige Ernährungstrends warengruppen-übergreifende Lösungen anbieten.
Jörg Petzel, Geschäftsführer GS1 Germany

Die Digitalisierung schreitet weiter voran
Langfristig wird kein Lebensbereich und folglich auch kein Unternehmen von der Digitalisierung und den damit einhergehenden Veränderungen ausgenommen bleiben. Diese Entwicklung wird sich im Jahr 2017 noch weiter verstärken.

So weist die Online- und Versandhandelsbranche im dritten Quartal 2016 erneut eine zweistellige Wachstumsrate von 10,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf, wodurch immer deutlicher wird, dass die Anzahl der klassischen „Offline“-Kunden weiter abnehmen wird. Längst ist aus dem Kunden von gestern ein hybrider Shopper geworden, der für seine Kaufentscheidung zunehmend die Vielzahl der Absatzkanäle nutzt. Selbst im Lebensmittelhandel, einer online noch wenig etablierten Branche, weist die Shopper Journey verschiedenste Berührungspunkte auf. Sei es das Web, Social Media, TV oder stationäres Geschäft – der Shopper nutzt die verschiedenen Kanäle ganz selbstverständlich und vor allem situativ. Er erwartet zwar weder von einem Vollsortimenter noch von einem Discounter zwangsläufig ein 1:1-Online-Angebot. Was jedoch auch auf den internetfähigen Devices vorausgesetzt wird, ist ein umfassendes Produkt-Informationsangebot beispielsweise zu Allergenen, Inhaltsstoffen oder der Herkunft. Dafür müssen Hersteller und Händler vollständige und aktuelle Stammdaten, Produktabbildungen sowie Informationen zur Rückverfolgbarkeit für die digitale Welt verfügbar machen. Somit ist es weniger eine Frage der Differenzierung zwischen Online und Offline, sondern vielmehr eine intelligente Kombination von beidem, die letztendlich zu größtmöglichem Erfolg führt. Denn am Ende ist es entscheidend, die Bedürfnisse des hybriden Shoppers bestmöglich zu erfüllen.


Boris Planer, Chefökonom Planet Retail

Handel braucht offene Grenzen
Der Lebensmittelhandel muss 2017 wachsam agieren, um bei seiner Flucht nach vorne nicht in eine Falle zu tappen.

Die Flucht nach vorne, das ist der Trend zur inspirierenden und zum Verweilen einladenden Lebensmittelfläche für Entdecker. Während Discounter sich attraktiv machen, Amazon unerbittlich Nonfood-Abteilungen angreift und der aufkeimende Online-Lebensmittelhandel eine größere Disruption erahnen lässt, geben die Vollsortimenter klare Antworten. Inspirierend-verführerische Supermärkte, die vor zehn Jahren undenkbar schienen, werden nun von Edeka- und Rewe-Kaufleuten umgesetzt; Real gelang kürzlich in Krefeld gar ein international beachteter großer Wurf.

Die potenzielle Falle ist politischer Natur. Wo Handel sich durch inspirierende Produktauswahl differenzieren will, da ist er auf offene Grenzen angewiesen. Doch das Brexit-Referendum, das Erstarken eines wirtschaftlichen Protektionismus in Europa, das Ende von TTIP unter Trump, russische Sanktionen, die politische Unsicherheit in der Türkei, ein mögliches Wiederaufflammen der Flüchtlingskrise: All dies deutet darauf hin, dass das Europa des Jahres 2020 weniger offen sein könnte als das Europa von heute.

Für den Handel und seine Lieferanten wird sich 2017 also die Frage stellen, wie sich ein politisch und wirtschaftlich stabiler internationaler Raum definieren lässt, in dem zuverlässige Lieferketten langfristig möglich sind.

Richard Cope, Senior Trends Consultant, Mintel

Internationale Einflüsse

  1. Der süße Feind: Nach Finnland, Norwegen, Ungarn und Frankreich ist das Vereinigte Königreich jetzt das nächste europäische Land, das eine Zuckersteuer einführen will.
  2. Digital bezahlen: Das Vertrauen der Verbraucher in digitale Zahlungsmethoden wächst, und die Akzeptanz wird sich noch weiter erhöhen. Laut Mintel haben sich bereits 30 Prozent der britischen Konsumenten an den Gedanken gewöhnt, bald in einer völlig bargeldlosen Gesellschaft zu leben, während 29 Prozent die Bezahlung via Smartphone als bequemste Methode empfinden.
  3. Afrika: Laut Mintels Datenbank weltweiter Produkteinführungen ist der Anteil der Lebensmittel und Getränke, die Zutaten aus Afrika enthalten, zwischen 2011 und 2015 um 41 Prozent gestiegen. Enormes Potenzial in Europa haben unter anderem glutenfreiem Urgetreide wie Sorghum, authentische Gourmet-Schokolade aus Tanzania, Tella-Bier aus Äthiopien, Snacks aus Kichererbsen und Wegerich oder auch afrikanische Schönheitsprodukte wie schwarze Seife aus Asche.
  4. Genau jetzt, genau hier: Die Beacon-Technologie wird leistungsfähiger und durchdringt den Einzelhandel. „Happy Hour“- und Countdown-Rabatte können auf alles reagieren, von der aktuellen Wetterlage bis hin zu politischen oder kulturellen Ereignissen vor Ort.
Verena Veith, Thekentrainerin

Das Personal ist der Schlüssel
Im Rückblick sehe ich das Jahr 2016 positiv. Der Handel hätte meiner Meinung nach noch mehr Rendite erreichen können, wenn er seine Fleischwaren nicht verschenkt hätte. Das Vertrauen in Fleisch hat das nicht gerade gefördert. Und die Spanne fehlte dann auch. Nicht jeder Einzelhändler hatte so die Personalkosten im Griff.

Die größte Herausforderung wird 2017 sein, Mitarbeiter mit Fachkompetenz zu gewinnen. Jeder Einzelhändler muss klar definieren: „Wer bin ich, was habe ich zu bieten, und mit wem vergleiche ich mich ?“ Dies wird umso wichtiger, da sich Amazon nach einer Trainingszeit doch entschlossen hat, mit Lebensmittel online zu gehen.

Versprechungen, die der Lebensmittelhändler macht, müssen für den Kunden auch erlebbar sein. Dafür wird er die richtigen Mitarbeiter brauchen. Am besten bilden sie diese Mitarbeiter der Zukunft selbst aus. Und vor allem beherzigen Sie: Ausbildung heißt auch, sich um diese Menschen zu kümmern. Das muss Chefsache sein.


Michael Gerling, Geschäftsführer EHI Retail Institute

Online und Discount bestimmen Wettbewerb
Das vergangene Jahr wurde besonders durch die Übernahmeverhandlungen von Kaiser‘s Tengelmann geprägt. Gut, dass sich Edeka und Rewe am Ende einigen konnten. Es bleibt zu hoffen, dass zwischen den beiden Unternehmen bald wieder freundlichere Töne herrschen. Schließlich haben beide Genossenschaften eine prägende Gemeinsamkeit: starke, selbstständige Kaufleute.

Der Wettbewerb zwischen Discount und Vollsortiment wird sich sicherlich im Jahr 2017 in aller Schärfe fortsetzen. Die Discounter haben allerdings trotz vieler Bemühungen noch nicht das richtige Rezept gefunden, um an alte Wachstumsraten anzuknüpfen. Sie müssen aufpassen, dass sie nicht die gleichen Fehler machen wie die Vollsortimenter vor 20 Jahren. Damals haben die Supermärkte mit Sortimentsreduzierungen und Abbau von Bedienungs- und Serviceleistungen versucht, die Erfolgsfaktoren der Discounter zu kopieren. Damit sind sie in jeder Hinsicht gescheitert. Jetzt versuchen die Discounter ihrerseits, die Erfolgsrezepte der Supermärkte nachzuvollziehen. Diese Strategie ist gewiss nicht ohne Risiko und eröffnet neuen Raum für preisaggressive Discountformate.

Die Branche schaut derzeit besonders auf das Online-Geschäft. Bisher gibt es viele Versuche, aber schwarze Zahlen schreibt mit einem klassischen Supermarktsortiment niemand. Mittel- bis langfristig können wir davon ausgehen, dass Amazon auch in diesem Markt ein gewichtiges Wort mitreden wird. Dort muss nicht auf die Profitabilität einzelner Sortimente geachtet werden, es geht vielmehr darum, insgesamt gut dazustehen. Wenn die Heimbelieferung mit Lebensmitteln keine Überschüsse erwirtschaftet, wird das durch andere Bereiche ausgeglichen. Wir dürfen gespannt sein, ob unsere großen Lebensmittelhändler die Investition in das Online-Geschäft auch so entspannt angehen.

Sabine Eichner, Geschäftsführerin Deutsches Tiefkühlinstitut

Auf eigene Stärken besinnen
2016 war ein spannendes Jahr für den Handel. Der Kampf um Marktanteile, die Herausforderung Online-Handel und die Entwicklung neuer Shopkonzepte – langweilig war es mitnichten. Der Lebensmittelhandel wird auch 2017 ein extrem dynamischer Wirtschaftsbereich bleiben. Die Suche nach einer sinnvollen Verzahnung von stationärem und Online-Geschäft wird 2017 weiter vorangetrieben werden. Der klassische Lebensmittelhandel sollte sich dabei auf seine Stärken besinnen: die Sortimentskompetenz, die Lust am Verkaufen und Dienstleistungen, die uns den Einkauf angenehmer machen. Den Appetit auf leckere Lebensmittel kann auch die beste Website nicht wecken, da haben attraktive Verkaufsflächen mit kenntnisreichem und engagiertem Personal in jedem Fall die Nase vorn. Spannende Konzepte, die auf Inszenierung, Emotion und Kreativität bei der Warenpräsentation setzen, zeigen heute schon, wie es geht. Die Zukunft wird denen gehören, die ihren Kunden den Einkauf erleichtern und ihnen Unterstützung bieten mit Warenexpertise und guten Ideen für eine gesunde Ernährung. Convenience ist für die Zukunft weiter ein wichtiger Trend, weil die Menschen nach guten Lebensmitteln suchen, die ihnen den Alltag vereinfachen. Auch die engere Verbindung mit gastronomischen Angeboten bietet dem Handel große Chancen, weil sie Lebensmittelkompetenz erlebbar macht. Bei der Weiterentwicklung der Shop-Konzepte sollte einer wachsenden Convenience-Kategorie par excellence wie der Tiefkühlkost 2017 mehr Beachtung geschenkt werden. Hier wird noch Umsatzpotenzial verschenkt, das man mit einfachen Mitteln heben kann. Emotionalisierung, mehr Orientierung am PoS für den Kunden und Aufklärung über die Produktvorteile von Tiefkühlkost sind hierzu wichtige Ansatzpunkte.

Franz-Martin Rausch, Hauptgeschäftsführer BVLH

2017 wird spannend
2016 hat uns vor allem die Erzeugerpreiskrise auf dem Milchmarkt sehr beschäftigt. Ihre Ursachen, aber auch die aktuelle positive Marktentwicklung haben erneut bewiesen, wie stark der heimische Markt mittlerweile vom Angebots- und Nachfrageverhalten auf den Weltmärkten abhängig ist. Diesen Zusammenhang hat der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels (BVLH) stets betont, und das werden wir auch künftig tun.

2017 wird uns natürlich die Bundestagswahl in Atem halten, vor allem wegen ihrer großen Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Aus agrarpolitischer Sicht steht die Verbesserung des Tierwohls weit oben auf der Agenda. Das angekündigte staatliche Tierwohl-Label könnte dabei eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen erreichen, dass sowohl die Haltungsbedingungen möglichst vieler Nutztiere verbessert werden, als auch, dass Tierwohlprodukte breite Akzeptanz am Point of Sale finden. Getragen durch die Zunahme der Beschäftigung und höhere Einkommen, wird die Verbrauchskonjunktur auch 2017 wichtige Stütze der Volkswirtschaft sein. Der bereits seit Jahren steigende private Konsum bestätigt Lebensmittelhändler darin, auch in diesem Jahr an ihrer Trading-up-Strategie festzuhalten. Zurecht werden sie aber den Lebensmittel-Online-Handel nicht aus den Augen verlieren. Amazon hat mit City-Hubs in Berlin und München sowie mit „Amazon Go“ gezeigt, wohin die Reise gehen kann.

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