ECR-Tag „Keiner weiß, wo es langgeht“

Der ECR-Tag beschäftigte sich einmal mehr mit der Digitalisierung und den starken Veränderungen, denen sich der Handel ausgesetzt sieht. Die LP war in Berlin vor Ort und sprach mit einzelnen Teilnehmern.

Donnerstag, 20. Oktober 2016 - Management
Tobias Dünnebacke
Artikelbild „Keiner weiß, wo es langgeht“

„Der Handel war für lange Zeit ein gediegenes Fahrwasser, das sich jetzt in einen schnellen Fluss mit Stromschnellen und Wirbeln verwandelt hat“, bemüht Dirk Homberg vom Softwareanbieter JDA Technologies ein plastisches Bild der derzeitigen Situation. Dass der eine oder andere stationäre Händler davon bedroht ist, in den Stromschnellen unterzugehen, daraus macht Homberg keinen Hehl. „Ich sage nicht, dass der stationäre Einzelhandel völlig verschwindet. Im Hinblick auf die Geschichte, wo neue Technologien alte Player völlig aus dem Markt verdrängt haben, sage ich aber: Sei vorsichtig was Du denkst, was passieren könnte und was nicht.“

ECR-Tag in Berlin

Die Entscheider nutzten den Kongress in der Hauptstadt, um Trends zur Optimierung der Value Chain zu diskutieren.

Der ECR-Tag fand in einer Zeit statt, die umwälzender kaum sein könnte. Amazon Fresh steht nach dem Start in Großbritannien auch in Deutschland in den Startlöchern, selbstständige Lebensmittel-Einzelhändler experimentieren in ländlichen Regionen mit Pick-up-Stationen und Kaufland beliefert den Online-Kunden seit Kurzem im Großraum Berlin im engsten Zeitfenster bis an die Haustür. Dass sich die alten Platzhirsche der Ernährungswirtschaft nicht von US-Konzernen oder kleinen Start-ups die Butter vom Brot nehmen lassen möchten, ist verständlich. Jedoch wurde beim ECR-Tag mehr als deutlich, wie schwierig es einigen „Offlinern“ fällt, ihr altes Geschäftsmodell in die neue digitale Wirklichkeit zu übertragen.

Globus-Marketing-Chefin Petra Schäfer beispielsweise sprach von den vielen Baustellen des saarländischen Händlers: Scan & Go, Globus Drive, NFC, Mobile Apps und Kundenprofile. Das alles und 99.000 Facebook-Freunde sei allerdings nichts gegen die eigentliche Einkaufsstätte, wo der Kunde „emotional eingefangen“ werden solle, damit er als Markenbotschafter in die Welt geht und „Ich muss in diesen Laden, die verstehen mich“ ruft. Globus ist ein erfolgreiches Unternehmen, dem man sicher nicht vorwerfen kann, den Anschluss an die neuen digitalen Möglichkeiten zu verschlafen, aber der Vortrag von Schäfer zeigte deutlich die Denkweise vieler deutscher Händler: Offline first. Ob das der rasanten Geschwindigkeit gerecht wird, mit der sich der Handel durch die neuen Technologien verändert, wird sich zeigen. Jörg Pretzel, Geschäftsführer von GS1 Germany, ist sicher: „Es ist künftig erforderlich, mehrdimensionale Wertschöpfungsnetze und Multi-Channel-Ansätze zu managen und sich von rein linearen Abläufen zu verabschieden. Und das gilt in nahezu jeder Branche.“ Die Voraussetzung für Erfolg sei absolute Kundenorientierung.

Wofür steht ECR?

„E“ wie „Efficient“, „C“ wie „Consumer“, „R“ wie „Response beschreibt die Suche nach der optimalen Organisation der Supply Chain, also des Weges vom Produzenten zum Verbraucher.

Wie genau diese neuen Wertschöpfungsnetze aussehen, wurde nicht immer deutlich. So konstatierte Ulli Gritzuhn, Executive Vice President bei Unilever, dass die Digitalisierung mittels Google Ads, Online-Shop und der Kooperation mit Seiten wie Chefkoch.de zwar vor „dem Aussterben schütze“. Gleichzeitig ließ aber auch Gritzuhn keinen Zweifel daran, dass Unilever mit 60.000 Beschäftigten weltweit das absolute Gegenteil zu den Start-ups seien, die das Geschäftsmodell von Unilever in Frage stellten.

Auch Bitburger-Chef Werner Wolf, der ob seines Weggangs beim Eifeler Braukonzern mit seinem Vortrag in Berlin seine letzte Amtshandlung vollzog, war sich aufgrund der rasanten Veränderungen nicht sicher, ob das Thema überhaupt relevant ist, denn der Brauer sei ja in der Regel eher konservativ. Trotzdem sei Erfolg nur garantiert, wenn man dorthin geht, wo sich die Konsumenten aufhalten würden. Man müsse auf das neue Medienverhalten reagieren, z. B. mit einem stärkeren WLAN-Angebot in der Gastronomie.

Dirk Homberg, der an einer aktuellen EHI-Studie („Handelslogistik 2026“, erscheint im November) beteiligt war, hält radikalere Veränderungen für möglich. 9 Szenarien hätten Experten aus Handel, Industrie und Beratungsunternehmen erarbeitet. „Eine realistische Möglichkeit ist, dass der stationäre Handel völlig verschwindet. Demgegenüber steht das Szenario, bei dem sich wenig ändert, also der Handel in seiner derzeitigen Form bestehen bleibt und Online nur eine marginale Rolle spielt.“ Ebenso sei eine stark zunehmende Vertikalisierung des Handels in Betracht zu ziehen, also dass der Eigenmarkenanteil sich weiter erhöhen wird. Auf der anderen Seite gebe es deutliche Hinweise darauf, dass Industrieunternehmen wie Start-ups stärker in den stationären Handel drängten. In Deutschland zeigt das derzeit die Entwicklung des Online-Händlers Mymuesli, der bereits an 51 Standorten Geschäfte für den exklusiven Verkauf der eigenen Marke eröffnet hat. Die erfolgreichen Buchläden von Amazon in den USA seien das perfekte Beispiel, wie ein relativ neuer Online-Marktplayer versuchen würde, dem stationären Handel Marktanteile abzuknüpfen. Vor dieser Entwicklung sei auch der Lebensmittel-Einzelhandel nicht gefeit. „Die neuen Player werden Marktanteile gewinnen, deswegen ist es so wichtig, dass der LEH, wie Rewe, früh mit innovativen Online-Konzepten und Belieferung auch im Rahmen enger Timeslots Amazon Fresh Paroli bietet.“ Konkret glaubt Homberg zudem an die Zukunft von Click & Collect. „Insgesamt ist der Ereignisraum, in dem sich was abspielen kann, viel größer geworden. Früher haben wir über kleinere Veränderungen gesprochen, wie Ultrafrische. Heute umfasst der Korridor 180 Grad und keiner weiß, wo die Reise hingeht.“