Türkischer Handel Ein Fall für sich

Der türkische Handel ist ein Sonderfall in der Handelsszene: viele Einzelkämpfer auf kleinen Flächen. Aber es zeichnen sich Veränderungen ab. Eine Bestandsaufnahme von Tanju Aygün, Studiengangsleiter Handelsmanagement an der Europäischen Fachhochschule Rhein / Erft.

Freitag, 06. März 2020 - Management
Dieter Druck
Artikelbild Ein Fall für sich
Bildquelle: Peter Eilers

Mit mehr als 3.000 Standorten bewegt sich der türkische Handel in Deutschland, was die Zahl der Verkaufsstellen angeht, auf Lidl-Niveau. Also erst einmal beachtenswert oder doch nur eine kleine Nummer?
Tanju Aygün: Die Einstufung ist relativ und wechselt mit den Maßstäben. Wir registrieren über die vergangenen Jahre einen Strukturwandel. Vordergründig ist ein fortlaufender Abschmelzungsprozess bei den kleinen Flächen. Gleichzeitig sind die Umsätze über die letzten Jahre auf mehr als 4,2 Milliarden Euro gestiegen. Damit verbunden ist eine deutliche Umsatzverlagerung zu den größeren Märkten zwischen 400 und 800 Quadratmetern. Das heißt, was vor Jahren Tante Emma widerfahren ist, tritt jetzt bei Onkel Mehmet ein.

Sind die Gründe für den deutlichen Rückgang der Kleinen die gleichen wie im deutschen Handel seinerzeit?
Im Grunde genommen ja. Es besteht eine Nachfolgeproblematik, und die Wettbewerbsfähigkeit ist nicht immer gegeben. Insbesondere die Flächen in der Größenordnung unter 100 Quadratmeter sind überwiegend noch familiär geführt und agieren als Einzelkämpfer. Es herrscht keine „Öffnungskultur“ für Allianzen innerhalb der Szene, sondern eher ein misstrauisches Verhalten, das noch stark geprägt ist von der ersten Generation Anfang der 70er- und 80er-Jahre. Hinzu kommen oft lückenhafte, überschaubare Sortimente.

Gibt es Anzeichen, dass sich hier etwas ändert?
Es gibt einige positive Beispiele, aber generell ist der Organisationsgrad innerhalb des türkischen Lebensmittelhandels wenig ausgeprägt. Ein kaufmännischer Hintergrund ist oft nicht vorhanden. Da hapert es schon manchmal an einer vernünftigen Kalkulation Auch fehlt oftmals die unternehmerische Einstellung, insbesondere wenn es darum geht, zu investieren und zu expandieren. Es fehlt schlicht weg an Professionalität.

Wo sehen Sie Entwicklungspotenzial für den türkischen Handel?
Ein wesentlicher Faktor ist beispielsweise, dass mit den Flüchtlingen aus Syrien, Libanon und dem übrigen arabischen Raum die Zahl der potenziellen Kunden für Ethno- und vor allem Halal-Produkte wächst. Hier genießt der türkische Handel eine besondere Vertrauensposition, die ausbaufähig ist. Und wenn die Sortimente ausgebaut und angepasst werden, zieht es neue Kunden aus diesen Ländern an.

Da verändern auch die wachsenden Angebote ethnischer Produkte und Länderwochen bei den Discountern und Vollsortimentern nichts?
Diese bieten bei Produkten wie beispielsweise Oliven, Bulgur und Hülsenfrüchten aus meiner Sicht im Vergleich zum türkischen Supermarkt zu wenig Tiefe. Zudem sind häufig verschiedene Länderspezialitäten unter einem Dach zusammengefasst, also unstrukturiert. Und frische Halal-Produkte bedürfen eines besonderen Vertrauen, das dem deutschen Handel nicht entgegengebracht wird.

Aber der deutsche Handel schläft nicht....
Gewiss nicht und ich bin überzeugt, dass man sich dort vor dem Hintergrund eines hoch kompetitiven Marktes mit den Ansprüchen und Erwartungen ethnischer Kunden intensiv auseinandersetzt.

Wie steht es um die Anziehungskraft türkischer Geschäfte auf deutsche Kunden?
Wir haben Studenten an unserer Hochschule nach ihren Eindrücken beim türkischen Handel befragt. Als positive Aspekte werden angeführt eine freundliche, familiäre Atmosphäre, lange Öffnungszeiten, wobei sich dieser Punkt inzwischen relativiert haben dürfte sowie authentische Spezialitäten und Ethno-Produkte, die insgesamt ein kulturelles Einkaufserlebnis vermitteln

Was gefiel nicht?
Angeführt werden kleine, dunkle Läden, altmodische Einrichtung, mangelnde Deutschkenntnisse, ablehnendes Verhalten, unattraktive Sortimente, unbekannte Produkte, Produktbeschriftungen nur auf türkisch und, zumindest gefühlt, hohe Preise. Aber es geht dann oftmals auch um richtige Spezialitäten und nicht um eine Sorte Kichererbsen aus der Dose wie im deutschen Discount.

Der wohnungsnahe Einkauf ist in aller Munde. Kann der türkische Händler sich als Nahversorger etablieren?
Dafür müsste man sich, was die Sortimente angeht, weiter öffnen. Alkoholfreie Getränke in Mehrweg verbunden mit Pfand, alkoholische Getränke, Hygienepapiere, Drogerieartikel oder mehr frische Molkereiprodukte fallen mir da spontan ein. Dafür mangelt es oftmals schon an Verkaufs- und Kühlfläche. Und das ist zudem sehr stark standortabhängig. Wir kennen Lagen, wo deutsche Kunden 40 Prozent des Umsatzes bringen.

Kauft die jüngere Generation noch gezielt im türkischen Handel oder eher beim deutschen Discounter?
Etwa 50 bis 60 Prozent der ersten Generation gehen nach wie vor mindestens einmal pro Woche zu ihrem türkischen Markt. In den nachfolgenden Generationen erkennen wir tendenziell eine etwas geringere Frequenz. Die nutzen auch öfters andere Einkaufstätten. Aber sobald halal ins Spiel kommt, ist der türkische Händler wieder erste Wahl. Für mehr als 70 Prozent der Kunden ist halal ausschlaggebend bei der Einkaufsstättenwahl. Wir sprechen also nach wie vor von einer sehr hohen Kundenloyalität.

Ändert sich etwas am Konsumverhalten, getrieben durch Trends wie zum Beispiel vegan, Convenience oder kleinere Gebinde?
Gerade der letzte Punkt ist ein guter Aufhänger. Die türkische, kinderreiche Großfamilie aus den 60er- und 70er-Jahren gehört der Vergangenheit an. Das zieht rückläufige Einkaufsmengen nach sich und kleinere Gebinde. Hinzu kommt hier ein Wandel der Besuchskultur. Früher waren häufige Besuche innerhalb der türkischen Community gang und gäbe, vor allem an den Wochenenden. Auch das ist heute nicht mehr so ausgeprägt. Beim Fleisch geht es nicht mehr um ein ganzes Lamm, wie vor einigen Jahrzehnten noch, sondern um Teilstücke und convenient zubereitete Produkte wie Spieße, Köfte und anderes.

Das heißt, auch der türkische Handel nähert sich den deutschen Vollsortimentern an wie die Discounter?
Ja, aber deutlich verhaltener und wie gesagt nur die größeren Märkte.

Wo finden sich Flächen für diese größeren Märkte?
Sicherlich immer noch überwiegend im städtischen Umfeld und in Wohngebieten mit den klaren Verdichtungszentren im Ruhrgebiet, Rhein-Main und Berlin. Das sind oftmals ehemalige Lidl- oder Aldi-Standorte in einer Größenordnung um die 700 oder 800 Quadratmeter, übrig geblieben aus den frühen Zeiten der Discounter, die damals zentrumsnah und mit straffen Sortimenten agierten. Aber hier ist schon mal eine Basis mit akzeptabler Substanz vorhanden, auf der sich aufbauen lässt.

Ist E-Food ein Thema in der türkischen Handelsszene?
Nein, noch weniger als in der deutschen. Und das dürfte auch noch etliche Zeit so bleiben.