Fleisch, Wurst & Geflügel Das Fleisch von morgen

Eine Innovation aus dem Labor könnte in naher Zeit die Fleischmärkte auf den Kopf stellen: Fleisch aus dem Labor. Wie es hergestellt wird, und wann wir mit ersten Produkten rechnen können.

Montag, 30. März 2020 - Fleisch
Heidrun Mittler
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Tel Aviv, Israel. Beim Unternehmen Super Meat sieht es aus wie in einer Brauerei. Nur, dass in den geschlossenen Kesseln kein Bier heranreift. Sondern die Zukunft. So jedenfalls denkt Ido Savir, Geschäftsführer von Super Meat.

Genauer gesagt, vermehren sich in den „Bioreaktoren“, wie die großen Behältnisse heißen, Stammzellen von Hühnchen, Enten oder anderem Geflügel. In ein paar Stunden werden sie „geerntet“, wie die Wissenschaftler hier in Israel sagen. Sie entnehmen etwa die Hälfte der Masse und stellen daraus Fleischerzeugnisse her. Und über Nacht wächst die gleiche Menge wieder nach.

Technologie weit entwickelt
Das ist kein Hokuspokus, sondern Biologie: Der Zyklus, innerhalb dessen sich die Zellen verdoppeln, beträgt nur zehn Stunden. Dieses „exponentielle Wachstum“ ist eine der Grundlagen, warum die Technologie so erfolgversprechend ist. Ido Savir macht das so deutlich: Stellen Sie sich vor, Sie halten 10.000 Hühner. Abends schlachten Sie 5.000, am nächsten Tag ist die Menge wieder auf 10.000 Tiere angewachsen. Was im Geflügelstall utopisch ist, funktioniert im Bioreaktor wunderbar. Und bietet möglicherweise die Grundlage, zehn Milliarden Menschen oder noch mehr auf unserer Erde satt zu bekommen und mit ausreichend Protein zu versorgen.

Ortswechsel nach Maastricht in den Niederlanden: Schon vor sieben Jahren hat Uni-Professor Mark Post öffentlichkeitswirksam im Fernsehen einen Hamburger gebraten. Das Rindfleisch für den Patty stammte aus seinem Labor, es war immens teuer. Die Boulevard-Medien verpassten ihm den abfälligen Namen „Klon-Fleisch“. Post gründete mit Mitstreitern das Unternehmen Mosa Meat und arbeitete emsig weiter. Jetzt ist die Marktreife in greifbare Nähe gerückt.

Im Juli 2018 hat sich die international tätige Bell-Gruppe an Mosa Meat beteiligt. Das Unternehmen, die Nummer eins der Schweizer Fleischbranche, hat rund zwei Millionen Euro investiert. „Wir wollen dabei sein, wenn neue Technologien in unserem Kerngeschäft entwickelt werden“, begründet Lorenz Wyss das Engagement. Er leitet seit 2011 die Bell Food Group. In dieser Funktion war er zwischenzeitlich federführend in der Expansionsstrategie der Gruppe in Europa.

Viel Geld im Spiel
Die Fleischbranche investiert also in „Cultured Meat“, wie der Fachbegriff im Englischen heißt. Dieses Phänomen kann man auf mehreren Kontinenten beobachten: Tyson und Cargill, zwei amerikanische Lebensmittelkonzerne, haben in den USA Geld locker gemacht. In Deutschland ist die PHW-Gruppe bereits 2018 eine strategische Partnerschaft mit Super Meat eingegangen. Die Gruppe, erfolgreich unter anderem mit der Marke Wiesenhof, ist weltweit tätig und produziert in erster Linie Geflügel für den europäischen Markt.

Frage an Ido Savir in Israel: Wer schafft als erster den Durchbruch und bringt Ware auf den Markt? Der Super-Meat-Geschäftsführer legt sich nicht fest. Er spricht stattdessen von einem Wettrennen, das derzeit in die entscheidende Phase geht. Die USA und Singapur könnten die Nase vorn haben, ebenso Europa. Es kommt eben nicht nur auf die Technologie an, sondern auch auf den gesetzlichen Rahmen. Und dieser Regulations- und Zulassungsprozess ist bekanntermaßen in den Ländern sehr unterschiedlich.

Der Herstellungsprozess an sich bereitet dem Forscher aus Tel Aviv keine Sorgen: „Die Technologie funktioniert schon seit einem Jahrzehnt.“ Die pharmazeutische Industrie nutzt entsprechende Methoden, beispielsweise für Zelltherapien und regenerative Medizin.

Das Zellwachstum in der Petrischale wird nun auf den Nahrungsmittelbereich adaptiert und gleichzeitig auf Effizienz getrimmt. Hatte man im Versuchslabor kleine Apparate und kleine Mengen, so müssen sie für den Produktionsbetrieb auf große Anlagen wachsen. Das Endprodukt – also das In-vitro-Fleisch – wird dann entsprechend günstiger produziert. Die Herstellungskosten sind ein entscheidender Faktor, wenn man im Markt mit konventionellem Fleisch mithalten will.

Beim Thema Geschmack und Konsistenz sieht sich Savir schon heute auf der sicheren Seite. Das Produkt „schmeckt wie Hühnchen“. Er betont auch, dass es sich nicht um ein Ersatzprodukt handelt, wie etwas Patties aus dem Eiweiß von Soja, Hülsenfrüchten wie Erbsen oder Lupinen. Sondern um Fleisch – Fleisch, für das kein Tier in Massentierhaltung aufwächst und geschlachtet wird.

Nur ganz am Anfang des Prozesses muss ein Tier eine Biopsie über sich ergehen lassen, bei der Zellen entnommen werden. Danach werden die Zellen ausgereift und vermehrt. Wenn sich die Prognosen bewahrheiten, könnte aus einer einzigen Biopsie bis zu 10.000 Kilogramm kultiviertes Fleisch wachsen. Klar, dass die Forscher beim Ausgangs-Huhn (-oder Rind, -Schwein) auf besonders gute Qualität des Tieres und artgerechte Haltung setzen.

Die eingesetzte Nährlösung entscheidet maßgeblich, wie sich die Zellen entwickeln. Savir erklärt einen großen Vorteil gegenüber der Tierhaltung: Die Forscher arbeiten mit einzelnen Zellen, die direkt auf Veränderung reagieren. Wenn man die Nährlösung verändert, ändert sich auch der Anteil an Proteinen oder Fetten in der Zelle. So ist es möglich, die Zusammensetzung der Fette oder den Gehalt an Cholesterin beim späteren Fleisch zu steuern.

Allerdings gibt es bei der Nährlösung ein schwer wiegendes Problem: Bislang haben die meisten Forscher auf fetales Kälberserum gesetzt. Dabei wird einem ungeborenen Kalb mit einer dicken Kanüle noch im Mutterleib Blut abgesaugt, das Tier stirbt. Jedem Verbraucher, der weiß, wie dieses Serum entnommen wird, vergeht augenblicklich und nachhaltig der Appetit auf Cultured Meat.

Das wissen auch die Forscher, die zudem nur allzu gern das Argument „tierfreundlich“ nutzen wollen. Ido Savir: „Wir arbeiten an Alternativen. Das ist eine Herausforderung, die man meistern kann.“ Die neuen Nährlösungen kommen teilweise sogar ganz ohne tierische Bestandteile aus.

Er betont gern die Vorteile, welche die Aufzucht im Bioreaktor bringt: Das System ist weitgehend von der Umgebung abgeschlossen und wird nicht durch Umwelteinflüsse kontaminiert. Deshalb benötigt man – anders als der Massentierhaltung – keine Antibiotika. Bei der Geflügelmast ist jedes Tier eine Produktionseinheit, die anfällig für Krankheiten oder Kontaminationen ist. Bei der Herstellung im Bioreaktor jedoch handelt es sich um ein großes, gut kontrolliertes System. Das kann sich auch positiv auf die spätere Haltbarkeit von Cultured-Meat-Produkten im Regal auswirken.

In den nächsten zwei bis drei Jahren, schätzt Savir, kann Super Meat die ersten Produkte auf den deutschen Markt bringen. Starten wird man mit gehacktem Geflügelfleisch, also etwa für Burger-Patties oder Hack. Zuerst werde man ausgesuchte Restaurants beliefern, dann Restaurantketten und schließlich den Lebensmittelhandel. Für Fleisch mit Struktur (wie ein Schnitzel) braucht die Entwicklung noch länger Zeit.

Der Forscher hat auch eine Antwort auf die Frage, wie teuer ein Hamburger mit In-vitro-Fleisch wohl sein wird: Wenn die großen Anlagen erst einmal produzieren, ist die Herstellung deutlich günstiger als die Aufzucht von Tieren im Stall. Deshalb sei das Fleisch wettbewerbsfähig.

Bell-Manager Lorenz Wyss geht sogar noch weiter. Befragt nach den Marktchancen für Cultured Meat, antwortet er: „Ich glaube, dass solche Produkte eine Chance auf dem Markt hätten, wenn es gelingt, das Preisniveau auf leicht über dem von herkömmlichen Fleisch zu bringen.“ Denn seiner Einschätzung nach sind „gewisse Konsumenten bereit, etwas mehr zu bezahlen, wenn für ihr Fleisch kein Tier geschlachtet wird“. Wie viel teurer ein entsprechender Burger seiner Meinung nach sein dürfte? „Nicht mehr als 20 bis 30 Prozent“, meint Wyss.

LP-Befragung zeigt Neugierde
Bleibt noch die Frage, ob deutsche und europäische Konsumenten überhaupt Fleisch aus dem Labor essen möchten. Dazu gibt es verschiedene Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen: Mal wollen 30, mal 60 Prozent der Befragten das neuartige Fleisch probieren. Die LP-Redaktion hat mithilfe ihres „Händlerechos“ eine eigene Leserbefragung durchgeführt. Die Befragung ist zwar nicht repräsentativ, gibt aber immerhin viele Meinungen aus dem deutschen Lebensmittelhandel wider.

Danach will die Mehrheit der Befragten auf jeden Fall mehr über Cultured Meat wissen (57 Prozent). Interessant: 76 Prozent der Interviewten würden das Fleisch sofort verkosten, sobald es möglich wäre. Und darüber hinaus würden diese Händler die Produkte auch ihren Kunden zum Testen anbieten.

Das restliche Viertel der Probanden jedoch verneint die Frage, weil es „grundsätzlich nichts essen mag, was aus dem Labor kommt“ (83 Prozent). Ein Drittel der Kritiker sieht keine Notwendigkeit für weitere Fleischalternativen. Schließlich gebe es ausreichend Ersatzprodukte, etwa aus Soja oder Hülsenfrüchten.

Bei den Befürwortern von Cultured Meat spielen die Argumente Tierwohl und die Vermeidung von Massentierhaltung ein große Rolle (64 bzw. 56 Prozent Zustimmung). Nicht zu vergessen die Ernährungsfrage allgemein.

Über den Tellerrand schauen
Wer über Cultured Meat diskutiert, sollte auf jeden Fall über den Tellerrand schauen. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass die Nachfrage nach Fleisch bis zum Jahr 2050 um 70 Prozent steigen wird, getrieben von der Zunahme der Weltbevölkerung und der wachsenden Mittelschicht in Entwicklungsländern. Die Erde hat nicht genügend Ressourcen, um diesen Fleischbedarf mit konventioneller Landwirtschaft zu decken. Deshalb lautet das Fazit von Mark Post aus Maastricht: „Wenn wir weiterhin Fleisch essen wollen, brauchen wir Alternativen – und kultiviertes Fleisch kann hier einen entscheidenden Beitrag leisten.“