Lebensmittelverschwendung Lieber zweite Wahl als einfach weggeworfen

Valentin Thurn, Macher des Dokumentarfilms „Taste the Waste“, hätte gerne im Supermarkt auch optisch nicht perfektes Obst und Gemüse zu vergünstigten Preisen.

Donnerstag, 18. Oktober 2012 - Management
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Bildquelle: Belz

Die Mülltonnen der Lebensmittel-Einzelhandelsgeschäfte sind jeden Abend voll. Mülltaucher, ein Begriff, den vor fünf Jahren kaum jemand kannte, nehmen sich des Inhalts an. Das ist zwar illegal, wird aber häufig geduldet. Nach dem Motto: Besser die Lebensmittel werden verwertet als weggeworfen. Dasselbe Ziel hat mit einer anderen Idee auch Valentin Thurn (49). Der Macher des Films „Taste the Waste“ fände es gut, wenn es in Lebensmittelgeschäften so wie in Jeansläden oder bei Porzellan, Artikel zweiter Wahl gebe.

Hat ein Apfel eine kleine Delle oder eine Kartoffel Mickey-Maus-Öhrchen, dann gelten sie im deutschen Handel als schwer verkäuflich, kommen meist gar nicht in den Verkauf. Fast die Hälfte aller Kartoffeln wird schon während der Ernte zu Ausschuss aussortiert, bleibt auf dem Feld liegen, wird an Tiere verfüttert oder vernichtet – nur wegen der Optik. Jeder zweite Kopfsalat wird aussortiert, jedes fünfte Brot muss unverkauft entsorgt werden. Schuld daran seien keineswegs alleine die Handelsunternehmen, sondern auch die schizophrenen Verbraucher (siehe Interview auf Seite 2) und vor allem Handelsnormen, solche der EU, aber auch die, die sich der Handel selbst auferlege, so Thurn.

Thurn wollte mit „Taste the Waste“ eine Debatte auslösen. Mehr als 120.000 Zuschauer zählte der Kinofilm in Deutschland. Die Debatte läuft bis heute. Zwei weitere Lebensmittel-Projekte stehen für Thurn an. In einem Film wird es um Lösungsansätze gehen, gedreht wird auf der halben Welt – in Deutschland allerdings kaum. Und das nicht, weil die Branche verschwiegen ist, sondern weil es hier kaum interessante und ernsthafte Ansätze gebe, so Thurn. Auf einem guten Weg sieht er Tegut, Metro und Rewe. Intensiv und glaubhaft beschäftige sich zudem Kaufland mit dem Thema Müll. Das war es auch schon.

Briten und Niederländer haben z. B. getestet, das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) in den Barcode zu integrieren. Technisch sei dies laut Thurn kein Problem. Automatisch könnten so, je nach Programmierung, etwa Artikel, die in einem Tag das MHD erreichen, beim Ziehen über den Scanner der Kasse um einen bestimmten Prozentsatz vergünstigt verkauft werden. „Arme Leute müssten sich dann nicht so schämen wie jetzt, wenn sie lauter solche Artikel einkaufen“, so Thurn. Es gebe inzwischen auch Kunden, die aus moralischen und ethischen Gründen bereit wären, Obst und Gemüse, das optisch nicht perfekt ist, zu vergünstigten Preise zu kaufen. Händler müssten nicht mehr jeden Abend Unsummen an Werten auf den Müll werfen: „Welcher Unternehmer vernichtet schon gerne Werte?“.

In unserer Gesellschaft mangele es an Wertschätzung für Lebensmittel und an Ahnung. „Vor nur zwei Generationen war das noch anders. Für meine Großmutter waren Lebensmittel quasi heilig, da wurde alles irgendwie verwertet.“ Die heutige Überflussgesellschaft kennt keinen Hunger. Thurns Großmutter ist in einem Arbeitslager in Folge von Unterernährung an Typhus gestorben.


Valentin Thurn wörtlich...

Ist der Verbraucher, der so öko und nachhaltig sein will, aber Waren ganzjährig frisch und rund um die Uhr haben will, schizophren?
Ja natürlich. Das sind wir alle, zumal 60 bis 70 Prozent der Kaufentscheidungen spontan fallen. Es ist schön und tut gut, sich beim Einkauf etwas zu gönnen, seiner Lust nachzugeben.

Stimmt es, dass Coop in der Schweiz im Mai in Zürich die Vorpremiere Ihres Films, initiiert vom Verein „Tischlein deck dich (Tdd)“, verhindert hat?
Das würde ich so nicht sagen. Fakt ist, dass Coop Tdd sponsert, Lebensmittel und Fahrzeuge bereitstellt und dass die Veranstaltung abgesagt wurde.

Reden Händler noch mit Ihnen?
Aber ja. Fälschlicherweise glauben viele, ich würde in „Taste the Waste“ den Handel anklagen. Ich kritisiere genauso das Verhalten der Verbraucher. Der Handel macht nur, was der Konsument will. Allmählich findet bei beiden wie überhaupt in der Gesellschaft ein Umdenken statt. Das merke ich seit zwei Jahren verstärkt. Zum Filmstart in der Schweiz kam z. B. auch Bruno Cabernard, der Nachhaltigkeitsbeauftragte der Coop Schweiz.

Und der deutsche Handel...?
...hinkt hinterher. Die Niederlande und Großbritannien sind viel weiter. Kaufland macht sich sehr ernsthaft Gedanken um Müll. Tegut, Metro und Rewe sehe ich am Anfang eines guten Wegs.

Bilder zum Artikel

Bild öffnen Das Buch „Die Essensvernichter“ und die Community Foodsharing fußen auf „Taste the Waste“. (Bildquelle: Belz)
Bild öffnen Valentin Thurn (Bildquelle: Belz)