Ausbildung behinderte Jugendliche - Metro Group „Ganz normal!“

Integration statt Fürsorge: Die Metro Group bildet behinderte Jugendliche aus. Das nutzt beiden Seiten, dem Arbeitgeber und den Menschen mit Handicap.

Montag, 06. September 2010 - Management
Heidrun Mittler

„Ich bin viel zu früh auf die Welt gekommen, schon nach 28 Schwangerschafts-Wochen. Damals habe ich nur 670 g gewogen. Deshalb habe ich heute noch Aussetzer beim Sprechen und lerne nicht so schnell wie andere.“ Sonja Hagedorn, eine sympathische, blonde Frau von 20 Jahren, gilt in der Amtssprache hier zu Lande als „geistig behindert“. Man sieht ihr die Behinderung nicht an – und wenn man mit ihr ins Gespräch kommt, vergisst man diesen Stempel auch schnell wieder.
Die junge Frau hat Glück gehabt: Sie hat eine Ausbildungsstelle, verdient eigenes Geld, hat die Chance, ihren Lebensunterhalt später selbst zu bestreiten. Leider zählt sie damit zu den rühmlichen Ausnahmen, nur wenigen Behinderten gelingt es, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzukommen. Sonja Hagedorn arbeitet bei Galeria Kaufhof in Essen, sie nimmt teil am Projekt „verzahnte Ausbildung behinderter Jugendlicher“, kurz: Vamb.

Wie läuft es denn so in ihrer Ausbildung? „Gut. Ganz normal“, lacht sie, „ich lerne, berate Kunden und habe Arbeitskollegen“ – die Tätigkeit im Handel macht ihr sichtlich Spaß. Im Unterschied zu anderen Azubis hat sie länger Zeit, ihr Lernpensum zu bewältigen: Sie wird innerhalb von zwei Jahren zur Verkaufshelferin ausgebildet, wenn sie das schafft, hat sie die Chance, nach einem dritten Jahr den Abschluss zur Verkäuferin zu machen. Neben ihrer Ausbilderin bei Galeria Kaufhof hat die Azubine mit Birgit von Elmpt-Hybel noch eine weitere Ansprechpartnerin: Diese kümmert sich sich intensiv um den theoretischen Teil. Im Kolping-Berufsbildungswerk Essen wiederholt und vertieft sie die Lerninhalte mit ihren Vamb-Schützlingen und steht auch sonst immer für alle Fragen zur Verfügung. 


Arbeiten in der Gruppe: Birgit von Elmpt-Hybel weiß: „Die jungen Leute sind froh, dass sie hier in der Ausbildung endlich einmal in ein ‚normales’ Umfeld integriert werden.“ Die meisten Menschen mit Behinderungen haben vorher spezialisierte Einrichtungen besucht – angefangen von der Kita bis zu Sonderschulen. Doch hier in der verzahnten Ausbildung leben die Azubis nicht in einem gesonderten, wenn auch behütetem Raum, sie spielen keine Sonderrolle, sondern arbeiten in der Gemeinschaft mit. Das mag sich für Nicht-Behinderte banal anhören, ist aber für viele Menschen mit Handicap existenziell: Sie wollen Integration statt Fürsorge.

Mit gutem Beispiel voran: Die Metro Group zählt auf Arbeitgeberseite unbestritten zu den Vorreitern im Handel, wenn es um die Ausbildung von behinderten Mitarbeitern geht. Der Konzern hat das Vamb-Projekt vor sechs Jahren angeschoben, auf politischer Ebene unverdrossen dafür gekämpft und mittlerweile auch viele andere Unternehmen von der Notwendigkeit überzeugt. Dr. Jürgen Pfister und Olaf Stieper, die „geistigen Väter“ der Initiative innerhalb der Metro AG, sind stolz, dass ihr Unternehmen mittlerweile bereits 201 behinderte junge Menschen ausgebildet hat, inklusive bestandener IHK-Prüfung. „Wir haben bei diesen jungen Menschen riesige Entwicklungssprünge beobachtet“, berichtet Olaf Stieper. Natürlich hat sich das Projekt ebenfalls weiter entwickelt, anders als zu Beginn stehen heute Unterlagen wie Ausbildungspläne, Musterzeugnisse und Checklisten im Internet zur Verfügung. Längst machen neben der Metro andere Handelsunternehmen mit: Edeka, Rewe, Karstadt oder Plus, um nur einige Beispiele zu nennen.


Klassische Win-Win-Situation: Bei einer Fachtagung im März machten Dr. Pfister und Stieper deutlich, dass die verzahnte Ausbildung „ein Gewinn für Unternehmen und behinderte Menschen“ sein kann. Die Metro verstehe sich dabei keineswegs als „Samariter“, es entstünde vielmehr eine Situation, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen profitieren könnten. So zeigen die Vamb-Mitarbeiter laut Dr. Pfister meist ein enormes Engagement bei der praktischen Arbeit: „Behindert heißt nicht automatisch weniger Leistung.“ Zudem bleiben sie ihrem Ausbildungsbetrieb lange Zeit treu, „Job-Hopping“ ist für sie kein Thema. Noch wichtiger aber ist die längerfristige Perspektive: Aufgrund der demographischen Entwicklung werden in Deutschland die Auszubildenden knapp. Können sich Unternehmen dann noch leisten, eine Gruppe von Bewerbern (sprich: Menschen mit Behinderung) vor vornherein auszugrenzen?

Prof. Dr. Mathilde Niehaus, Uni Köln, begleitet das Vamb-Projekt aus wissenschaftlicher Sicht. Sie weist darauf hin, dass Firmen von ihrem Sozialengagement erheblich profitieren können: Zum einem verbessern sie ihr Image aus Kundensicht, zum anderen steigern sie intern ihre Sozialkompetenz: Wenn „normale“ Mitarbeiter mit behinderten Kollegen zusammenarbeiten, entwickeln sie Verständnis für die Unterschiede, was sich positiv auf das Verhalten innerhalb der Gruppe auswirkt. Neue Wege gehen: Wer behinderte Azubis integrieren will, muss neue Wege gehen. Olaf Stieper schildert ein konkretes Beispiel: Er habe sich anfangs auch nicht vorstellen können, wie ein Rollstuhlfahrer im Verkauf arbeiten könne. Aber es kommt darauf an, wie man den Arbeitsplatz gestaltet. Sicher ist es schwierig, wenn ein solcher Mitarbeiter kleine Teile wie Deostifte ins Regal einräumen soll.

In der Warengruppe Unterhaltungselektronik sieht das ganz anders aus: Hier kann der Verkäufer seine Kunden gut beraten, er braucht lediglich dann Unterstützung durch Kollegen, wenn der Fernseher schließlich über die Ladentheke geht. „Schema X“ geht nicht, der Arbeitsplatz muss auf die Bedürfnisse des Lehrlings zugeschnitten werden.


Diesen Punkt betont auch Richard Fischels, Leiter der Arbeitsgruppe Rehabilitation im Bundesministerium für Arbeit und Soziales: „Zu fragen, was nicht geht, ist der falsche Ansatz.“ Das Ministerium koordiniert im Rahmen der Initiative „Job“ („Jobs ohne Barrieren“) Maßnahmen, mit denen die Integration von behinderten Menschen in Ausbildung und Beschäftigung verbessert werden soll. Dabei setzen sie unter anderem Geld aus der so genannten „Ausgleichsabgabe“ ein: In Deutschland muss jedes Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern von Rechts wegen auch Behinderte einstellen. Falls nicht, zahlt es die erwähnte Abgabe – die dann der Förderung spezieller Projekte zugute kommt.
Die verzahnte Ausbildung funktioniert bei großen Arbeitgebern wie Metro oder der Daimler AG. Wie aber klappt es bei kleinen Unternehmen, etwa einem Verbrauchermarkt?O

laf Stieper macht Mut: Bei der (damals zur Metro Group gehörenden) Vertriebsschiene Extra zeigten einige Beispiele, dass es geht – es komme immer auf die Menschen an, welche die Integration wollen und voran treiben. Zweifel sind menschlich: Er verschweigt nicht, dass auch einige Metro-Ausbilder, die erstmals im Rahmen der verzahnten Ausbildung tätig werden sollten, im ersten Moment zögerlich reagiert haben, mit Zweifeln, ob die neue Herausforderung zu bewältigen sei. Doch nach der ersten erfolgreichen Runde waren die gleichen Ausbilder alle bereit, erneut gehandicapte Azubis auszubilden. Mit mehr Zeit, Nachhilfe und Verständnis auf beiden Seiten haben fast alle der oben erwähnten 201 Vamb-Azubis den Schritt ins Berufsleben geschafft.

Die Eingliederung gelingt sogar bei „schwierigen Fällen“, in denen man das als Laie kaum für möglich hält. Auf der Fachtagung berichtete Johann-Andreas Werhahn, Geschäftsführer der Georg Plange GmbH in Neuss/Homberg, dass er gerade versucht, eine autistische junge Frau zur Industriekauffrau auszubilden. Das sei für beide Seiten nicht immer einfach. Er macht unter anderem eine positive Beobachtung: Die Mitarbeiter der industriellen Mehlmühle müssen sich verändern, lernen neue Umgangsformen, denn: „Brüllen und Motzen nutzt bei der Autistin nicht.“
Solches Engagement ist bitter nötig: Pro Jahr besuchen rund 40.000 beeinträchtige Schüler eine Förderschule. Derzeit machen jedes Jahr etwa 26.000 lernbehinderte junge Menschen einen Schulabschluss. Nur 5 Prozent davon schaffen den Schritt in eine berufliche Ausbildung. Bittere Realität: Für die übrigen 95 Prozent bleibt allzu oft nur der Weg in Hartz-IV.

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Weitergehende Infos: www.vamb-projekt.de (detaillierte Beschreibung des Projektes, Praxisbeispiele, Ansprechpartner) www.bmas.de (Initiative Job, mit Fördermöglichkeiten)

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„Ich will ganz normal mit anderen Kollegen arbeiten.“ Sonja Hagedorn, Azubi im Vamb-Projekt

Querdenker: Dr. Jürgen Pfister (l.) und Olaf Stieper haben die Voraussetzung für die verzahnte Ausbildung bei der Metro geschaffen.

Mitmachen: Ausbilder des Jahres!

Soziales Engagement ist ein wichtiges Kriterium beim LP-Branchenwettbewerb Ausbilder des Jahres.
Dieser Wettbewerb ist in der ganzen Branche tief verwurzelt: Denn viele Ausbilder arbeiten in der Praxis weitaus engagierter als der Gesetzgeber es fordert. Genau dieses Leistung soll anerkannt und geehrt werden. Der Wettbewerb geht in die nächste – es ist schon die siebte – Runde.

Die Teilnahme-Unterlagen werden in der kommenden Ausgabe der LEBENSMITTEL PRAXIS veröffentlicht. Sie stehen bereits jetzt als Download im Internet bereit: www.lebensmittelpraxis.de/events.

Eine Jury ermittelt die Preisträger: Hier entscheiden u. a. Personalentwickler aus neun Handelsunternehmen, wer in den unterschiedlichen Kategorien (von Discountern bis Handelszentralen) auf dem Treppchen stehen soll. Neu in diesem Jahr: ein Projekt-Preis für
innovative Aktivitäten, mit denen die Ausbildung verbessert wird. Nur wer mitmacht, kann gewinnen!