Rund 15 Milliarden Euro gaben die Bundesbürger im vergangenen Jahr für Bio-Lebensmittel aus. Im Jahr 2000 lag der Wert noch bei 2 Milliarden Euro. Die dynamischen Wachstumsraten des Bio-Marktes sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass Verbraucher aus Tierwohl-Gründen zu Eiern, Milch oder Fleisch aus ökologischer Erzeugung greifen. So bleibt laut Ökobarometer 2020 „artgerechte Tierhaltung“ weiterhin der am häufigsten genannte Kaufgrund für Bio (96 Prozent der Befragten).
Neun von zehn Bio-Kunden nutzen das Öko-Angebot im konventionellen Lebensmittel-Einzelhandel. Hier stehen Bio-Produkte tierischen Ursprungs jedoch im Wettbewerb mit einer zunehmenden Anzahl an konventionellen Produkten, die mit Tierwohl-Aspekten und neuen Kennzeichnungen werben. Welche Herausforderungen dies für Erzeuger und Händler mitbringt und wie sich Bio-Eier, -Käse oder -Fleisch über den Aspekt Tierwohl besser vermarkten lassen, darüber sprachen wir mit Experten aus Handel und Erzeugung.
Was erwarten Kunden im konventionellen Supermarkt heute von tierischen Bio-Lebensmitteln?
Frank Schmitt: Wenn Kunden zu Lebensmitteln mit dem Bio-Siegel greifen, erwarten sie größtmögliche Transparenz, eine hohe Produkt-Qualität und die Erzeugung unter Berücksichtigung von Tierwohl-Kriterien. Kunden fragen vor allem beim Fleisch nach, woher dieses stammt und unter welchen Bedingungen die Tiere gehalten werden.
Steffen Ueltzhöfer: Wir machen die gleiche Erfahrung. Zudem wünschen sich Kunden möglichst die Kombination aus Regionalität und Bio. Wenn die Verbindung zum Landwirt in der Region gegeben ist und der Kunde mehr über Betrieb und Haltung der Tiere erfährt, dann schafft dies Vertrauen.
Herr Dapont, Sie sind Bio-Landwirt und Direktvermarkter. Worum geht es Ihren Kunden?
Anton Dapont: Die häufigsten Fragen kommen auch bei uns zur Haltung der Tiere, wie sie gefüttert wurden, wie viel Platz und Freilauf sie haben. Fragen zum Thema Öko-Landbau sind eher zweitrangig. Auch das Thema Regionalität ist unseren Kunden sehr wichtig.
Herr Bär, wie ist Ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Landwirten und dem Handel: wie hat sich der Fokus des Bio-Sektors verändert im Hinblick auf Tierschutz und Tierwohl?
Martin Bär: Wenn wir in die 1970er und 1980er Jahre blicken, lag der Fokus des Öko-Landbaus und damit auch der Richtlinien klar auf dem Thema pflanzliche Produktion. Die Nutztierhaltung gehörte im Sinne des Kreislaufgedankens von Anfang an dazu. Man ging jedoch davon aus, dass die Tierhaltung immer stimmte. Erst Ende der 90er Jahre wurden Richtlinien zur tierischen Erzeugung in die EU-Öko-Verordnung aufgenommen. Dies ist Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels. Nutztiere haben heute einen anderen Wert als noch vor 25 Jahren und das Interesse an den Haltungsformen hat stark zugenommen.
Eier sind das Segment mit dem größten Bio-Marktanteil im Handel. Das Kükentöten beispielsweise ist ein Thema, das in der Öffentlichkeit viel diskutiert wird. Bio-Anbieter gingen hier mit der Idee der Bruderhahn-Aufzucht voran, doch erst vor ein paar Jahren. Der Bio-Sektor setzt ebenso wie konventionelle Betriebe vor allem auf Hochleistungshennen, erlaubt sind in Bio-Ställen sechs Legehennen pro Quadratmeter. Werden die Erwartungen der Verbraucher an die ökologische Nutztierhaltung und -zucht erfüllt?
Bär: Die Frage ist nicht einfach. Erwartungshaltungen entwickeln sich dynamisch. Ställe beispielsweise für Legehennen werden stets nach dem aktuellen Stand der Dinge gebaut. Landwirte können diese nicht einfach schnell umbauen, wenn sich Erwartungshaltungen ändern. Ein Charakteristikum der Öko-Landwirtschaft ist, dass sie stets nach Verbesserungen strebt. Der Bio-Sektor war insbesondere beim Tierwohl in vielen Bereichen Vorreiter, zum Beispiel wurde von Anfang an auf das Kürzen von Schnäbeln und das Kupieren von Ringelschwänzen verzichtet. Die Branche muss und wird daran arbeiten, beim Tierwohl Vorreiter zu bleiben.
In welchen Bereichen arbeiten die Bio-Anbauverände wie Naturland aktuell an Verbesserungen in Sachen Tierwohl in der Bio-Landwirtschaft?
Bär: Wir diskutieren im Verband weiterhin intensiv über das Thema Kükentöten, insbesondere über die Frage, ob die Selektion über die Geschlechtsbestimmung im Ei erfolgen soll. Wir lehnen dies im Verband ab. Ein Tier hat für uns immer einen Wert. Eine ähnliche Problematik sind Kälber in der Milchviehhaltung. Auch die Rinderzucht ist aufgespalten in Zuchtlinien für die Fleischerzeugung und solche für die Milcherzeugung. Um weiter Milch geben zu können, muss eine Kuh jedes Jahr ein Kalb bekommen, jedoch können die Landwirte nur einen geringen Teil der weiblichen Nachzucht für den eigenen Betrieb gebrauchen. Die restlichen Jungtiere sind im Grunde in diesem System nicht zu gebrauchen. Diese Entwicklung ist für die Öko-Landwirtschaft nicht zukunftsfähig. Hier suchen und finden wir Lösungen mit dem Handel.
Dapont: Für mich beginnt Tierwohl nicht bei einem Label, sondern dort, wo die artgerechte Haltung funktioniert. Artgerecht heißt: eine natürliche Haltung mit Freilauf. Die Spezialisierung auf bestimmt Leistungen, auf Fleisch- oder Milchrassen, Legeleistung, ist eine Verfälschung. Alte Rassen liefern gutes Fleisch und Milch bzw. Eier. Wir sollten zu einer Züchtung zurückfinden, die alte Rassen einbezieht und nicht ins Extreme geht.
Bio ist nicht gleich Bio. Die Bio-Anbauverbände legen hinsichtlich der Nutztierhaltung strengere Kriterien an als EU-Bio. In den vergangenen Jahren sind Tierwohl-Label und -Programme für konventionelle Produkte hinzugekommen. Die Premium-Stufen der Label orientieren sich an den Bio-Richtlinien. Wie sollen Verbraucher das verstehen und unterscheiden können?
Ueltzhöfer: Das ganze Thema der Label ist für den Verbraucher mittlerweile sehr undurchsichtig. Man hat schon manchmal den Eindruck, ein Tierwohl-Label ersetzt ein Bio-Label. Das ist aber nicht der Fall. Bei der Edeka Südwest setzen wir vor allem auf die Zusammenarbeit mit den Bio-Anbauverbänden und bauen gemeinsam Tierwohl-Programme auf. Was sich jedoch jeder bewusst machen muss: Auch mit Tierwohl-Label stirbt ein Tier für das Stück Fleisch. Wertschätzung ist daher ein wesentlicher Faktor und damit verbunden die Ganztiervermarktung.
Schmitt: Da kann ich nur beipflichten. Der Kunde wird von Siegeln überflutet. Es ist sehr wichtig, dass wir Transparenz und Vertrauen schaffen. Maßgeblich sind hierbei unsere Mitarbeiter in den Märkten und an den Frischetheken, die intensiv geschult werden. Wir verkaufen im Fleischbereich einen Großteil der Bio-Ware aktuell über SB. Hier geht es meist um Edelteile wie das Hähnchenbrustfilet. Wir müssen dem Verbraucher jedoch bewusst machen, dass ein Hähnchen nicht nur aus dem Brustfilet besteht. Es ist wichtig, das ganze Tier zu vermarkten und Aufklärungsarbeit zu leisten.
Bär: Damit Verbraucher informierte Kaufentscheidungen treffen können, müssen Sie am PoS klar erkennen können, wie ein Produkt erzeugt wurde. Daher begrüßen wir die Entwicklung mit Tierwohl-Kennzeichnungen. Dass die Öko-Tierhaltung dabei an oberster Stelle ist, ist für uns selbstverständlich. Wir sehen es jedoch sehr kritisch, dass dies nicht in jedem Tierwohl-Zertifizierungssystem gegeben ist.
Sprechen Sie sich für ein nationales Tierwohl-Label der Bundesregierung aus?
Bär: Wir sprechen uns für ein nationales Tierwohllabel aus, dass Bio ganz klar als Premium-Stufe definiert, analog zum etablierten System der Eier-Kennzeichnung. Wenn Tierwohl-Zertifizierungen Maßnahmen und Systeme wie die Bio-Tierhaltung unterschiedlich einordnen, verwirrt dies den Verbraucher.
Ueltzhöfer: Dies sehe ich genauso. Wir brauchen Klarheit in den Kennzeichnungen. Das Fatalste wäre meiner Meinung nach jedoch, wenn man sich bei einem nationalen Label auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt.
Wie schulen Sie Ihre Mitarbeiter, um den Kunden am PoS bestmöglich beraten und Auskunft zu Tierwohl-Aspekten geben zu können?
Schmitt: Wir setzen unter anderem auf E-Learning. Wir haben einige Tierwohl-Programme, auch im konventionellen Bereich. Hierzu könnten wir tolle Videos oder Flyer erstellen. Am meisten lernen unsere Mitarbeiter jedoch, wenn sie sich die Betriebe und Ställe persönlich anschauen können.
Im Bio-Fachhandel kann mit den Unterschieden zwischen Bio und konventionellen Produkten geworben werden (siehe Foto) - im klassischen Supermarkt undenkbar. Herr Schmitt, Herr Ueltzhöfer: Wie nutzen Sie Tierwohl-Aspekte am Point of Sale und darüber hinaus für die Vermarktung von Bio-Produkten?
Schmitt: Tierwohl-TV kann einen direkten visuellen Eindruck geben. Zudem nutzen wir Verlinkungen mit QR-Codes, um direkt am PoS über Tierhaltungsnormen der einzelnen Siegel, aber auch über Projekte, die Tierwohl und Regionalität verbinden, zu informieren.
Wie häufig werden solche Codes abgerufen?
Schmitt: Genaue Auswertungen liegen mir hierzu nicht vor. Aber man kann ganz klar sagen, dass vor allem die junge Kundschaft sehr informiert ist, häufig mit dem Handy durch den Markt geht und solche Codes nutzt.
Ueltzhöfer: Wir werden jetzt auch zeitnah mit Tierwohl-TV starten, dies ist ein gutes Mittel, um über Haltungsbedingungen zu informieren. Zudem kommt Social Media eine größere Bedeutung zu. Hier haben wir eine große Anhängerschaft und können mit dem Kunden in den Austausch gehen. Gerade auf Tierwohl-Themen erhalten wir die größte Resonanz. Der persönliche Kontakt und das Überzeugungsgespräch sind jedoch essenziell. Gerade an der Fleischtheke hat man eine riesige Auswahl und der Bio-Bereich geht schnell unter. Wir nutzen optische Elemente, um Bio hervorzuheben und auch Diskussionen über die unterschiedlichen Qualitäten anzuregen. Im Moment ist dies coronabedingt natürlich erschwert.
Dapont: Es ist wichtig, dass der Kunde mitbekommt, dass hinter dem Stück Fleisch auf dem Teller auch ein Tier steht. Das Tierleasing ist dafür ein guter Ansatz. Verbraucher suchen sich auf unserem Hof ein Schwein oder Rind aus, das Tier wird bei uns artgerecht gehalten. Der Kunde zahlt das Futter und bestimmt selbst, wann das Tier geschlachtet wird.
Was wünschen Sie sich im Hinblick auf die Entwicklung des Bio-Marktes für tierische Lebensmittel von Erzeugern, Händlern, Politik?
Bär: Insgesamt müssen wir über den Fleischkonsum diskutieren. In der Summe werden zu viele Fleischprodukte verzehrt, was Problemen für Klima, Gesundheit etc. mit sich bringt. Auf landwirtschaftlicher Ebene gibt es ordnungsrechtliche Schwierigkeiten, die den Bau von Bio-Ställen verzögern oder verhindern. Die Bio-Nachfrage in Deutschland entwickelt sich sehr positiv, viele Betriebe würden gerne umstellen, doch Kommunen möchten nicht, dass die Produktion in ihrem Kreis erfolgt. Auch hier ist weitere Aufklärungsarbeit erforderlich.
Schmitt: Richtig, auch ich wünsche mir hierzu schnellere Lösungen und Sicherheit für die Erzeuger. Es gibt zu viele bürokratische Hürden, wenn es um den Neubau oder Umbau von Ställen, aber auch die Umstellung auf Bio geht. Die Umstellung eines Betriebes von konventioneller auf Bio-Landwirtschaft dauert drei Jahre. In der Übergangsphase werden die Erzeugnisse als konventionelle vermarktet, der Mehraufwand wird nicht honoriert. Hierfür müssen wir Lösungen finden.
Ueltzhöfer: Ich wünschte, die Politik ließe sich weniger treiben von Lobbyisten etc. und würde stärker mit Praktikern zusammenarbeiten, um zu vernünftigen Lösungen zu kommen.
Dapont: Ich würde mir wünschen, dass das Tier ein Gesicht bekommt. Damit meine ich, dass Betriebe offen sind für Verbraucherbesuche. Im Handel sind Transparenz und eine Verbindung zum Landwirt – sei es über Flyer, Plakate oder Bewegtbild – enorm wichtig.
Die Expertenrunde:
- Martin Bär, Geschäftsführer des Ökoverbands Naturland Baden-Württemberg e.V. und Vorstand der Erzeugergemeinschaft Schwarzwald Bio-Weiderind.
- Anton Dapont, Landwirt und Direktvermarkter vom Biohof Hausberg im Rottal. Er setzt auf Öko-Landwirtschaft unter Berücksichtigung der Permakultur, alte, widerstandsfähige Haustierrassen, eine artgerechte Aufzucht und das Konzept des Tierleasings.
- Frank Schmitt, Vertriebskoordinator Category Management Service + Gastro bei der Rewe West.
- Steffen Ueltzhöfer, Inhaber von sechs Edeka-Märkten in Heilbronn und Umgebung. Seit Ende 2020 betreibt er zudem den Bio-Markt BiorUEbe.