Fleischbranche Systemrelevant

Der Ausfall des Tönnies-Werks in Rheda-Wiedenbrück hat weit reichende Folgen für das Unternehmen, die Branche und den Mann, der beides geprägt hat. Clemens Tönnies kämpft um sein Lebenswerk. Und wenn die Fließbänder wieder laufen, geht das Ringen um Rolle und Reputation erst richtig los.

Mittwoch, 08. Juli 2020 - Management
Christina Steinhausen
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Bildquelle: Tönnies Holding/Susanne Freitag

Die Politik hat es in der Hand – und sie hat ihn in der Hand, Clemens Tönnies. Denn ob, und wenn ja, in welchem Umfang, die Produktion in Rheda-Wiedenbrück wieder anlaufen darf, das entscheidet die Kreisverwaltung Gütersloh. Da es jedoch um Deutschlands größten Schlacht- und Zerlegebetrieb geht, schauen auch die Bezirksregierung Detmold, die Landesregierung NRW und sogar die Bundespolitik ganz genau hin. Die Dimensionen sind in jeder Hinsicht riesig, die Auswirkungen auch.

Jetzt, Ende Juni, liegt die ganze Hoffnung des Unternehmers Clemens Tönnies auf dem 4. Juli, am 3. endet die für zwei Wochen verhängte Quarantäne des Betriebs. Maximal vier Stunden pro Nacht hat der engste Führungszirkel in dieser Zeit nur geschlafen, er tut alles, damit der Laden möglichst schnell, möglichst umfangreich wieder laufen kann. Maschinen, Ausrüstung und alles, was an Geräten und Technik zur Verfügung stehen muss, um die Lüftung in den Griff zu bekommen, wurde bestellt. Man hat sich intensiv mit den Themen Hepa-Filter, UV-Licht und der Umluftanlage beschäftigt. Ein moderner Betrieb wird, wenn er wieder an den Start geht, der modernste sein, den es in Deutschland, mutmaßlich sogar in der gesamten EU gibt. Drei Themenbereiche fordern die Mannschaft aktuell und wohl auch noch für längere Zeit: Corona, Hygiene und Tierwohl.

Wären wir im Box-Sport, der Boxer CT läge mit sichtbaren Blessuren auf dem Boden, er wird angezählt, im Publikum jubeln schon viele (Politiker, Medienschaffende, Nichtregierungsorganisationen, ganz normale Leute), die Stimmung ist aufgepeitscht. Er ist Schalker, er wird aufstehen, der Kampf geht weiter. Wer ihn kennt, der weiß, jetzt gibt er alles, bis aufs Blut gereizt, überschüttet mit Häme, jetzt erst recht.

Die Konkurrenz hilft
Viele in der Branche beklagen, dass sie durch die Corona-Fälle bei ihm, aber auch bei Westfleisch vor einigen Wochen und wer weiß, wo demnächst noch, als Branche wieder am Pranger stehen, wieder in den (schlechten) Schlagzeilen auftauchen. Aber, weil es um mehr geht, als nur darum, ein Exempel zu statuieren, schweißt dieser Werksausfall sie sogar wieder enger zusammen. Die größten Konkurrenten helfen, die Produktionsausfälle zu kompensieren – in geringem Umfang gelingt es ihnen. Ein ganz großer schafft rund zehn Prozent der Ausfallmenge, das sagt alles. Wegen Corona und den Hygienekonzepten ist mehr nicht drin, denn sie produzieren selbst schon seit Monaten an der Kapazitätsgrenze, am Limit vom Limit.

Für die Branche ist dieser Ausfall eine Katastrophe, zwei Wochen lang ging das, aber allmählich stauen sich die Tiere in den Ställen und das SB-Schweinefleisch-Angebot im deutschen LEH bekommt Lücken, die nun jeden Tag größer und sichtbarer werden. Ende Juni gibt es bereits bei Aldi und Lidl so gut wie kein Bio-Schweinefleisch mehr. Kein Wunder, das kam fast ausschließlich über Tönnies. Am 20. Juni gingen in der Produktion in Rheda-Wiedenbrück die allerletzten Lämpchen aus, am 22. Juni wurden noch, aber eben vorerst letztmalig, Kunden beliefert. Deshalb, und nur deshalb, haben Verbraucher die Angebotslücken bisher quasi nicht bemerkt – was natürlich ganz im Interesse des Handels liegt. Der wird Ende Juni ungeduldig, drängelt, man solle doch jetzt bei Tönnies bitte zusehen, dass alles schnellstmöglich wieder läuft. Power-Play wie immer.

Es geht um sein Lebenswerk
CT ist jetzt 64, drei Jahrzehnte Branchen-Erfahrung hat er und das perfektioniert, was einst sein Bruder Bernd begonnen hat. Ihr Vater schlachtete noch 20 Schweine die Woche. Es geht um das Lebenswerk eines Mannes, eines Managers, eines Machers. Als Unternehmer wird CT auch jetzt, wie schon so oft, tun, was getan werden muss, ganz neutral, quasi ideologiefrei, mit manchmal umstrittenen Methoden und oft in der rechtlichen Grauzone. Letzteres ist quasi systembedingt. Puffer gibt es in dem Geschäft, in dem bis auf die vierte Nachkomma-Stelle verhandelt wird, keinen. Und wer just in time produziert, dem tut jeder Tag Ausfall weh.

Am Standort Deutschland rüttelt CT nicht, obwohl er beste Kontakte nach Russland und Osteuropa hat. Er will in Rheda bleiben, was auch immer es kostet – und es wird kosten: Die Banken ziehen mit, auch, weil sich das Unternehmen, wie es selbst betont, an geltendes Recht und Regeln gehalten hat. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld ermittelt. Dem sieht man respektvoll, aber gelassen entgegen. Bei Tönnies glaubt man nicht, dass das Unternehmen oder gar CT persönlich für schadenersatzpflichtig erklärt werden.

Tönnies für Tierwohl-Abgabe
CT hat Tönnies geformt und die Branche geprägt. Und jetzt sieht alles so aus, als würde er beides stark verändern. Die Tierwohl-Abgabe für Landwirte unterstützt er ausdrücklich, denn sie komme da an, wo sie hin muss, um am System etwas verändern zu können. Er war live dazugeschaltet, als die Bundes- sowie zwei Bundesländer-Landwirtschaftsministerinnen die Branche kurzfristig nach Düsseldorf zitiert hatten, um klar zu machen, dass seitens der Politik die Branche keine zweite Chance bekäme. Nun würden Fakten geschaffen. Ob das Abschaffen oder Verändern des Arbeitsmarkt-Instruments Werkverträge, die Tierwohl-Abgabe, das Kontrollsystem – es wird die ganze Branche treffen. Kleine Marktteilnehmer müssen hinnehmen, große wie CT gestalten mit. Systembedingt.