Interview mit Renate Künast Freiwillig klappt nichts

Renate Künast ist streitbar wie eh und je und hat feste Vorstellungen über eine gesündere Ernährung. Die LP traf die Landwirtschaftsministerin a. D. in Berlin.

Freitag, 31. August 2018 - Management
Andrea Kurtz
Artikelbild Freiwillig klappt nichts
Bildquelle: Santiago Engelhardt

Eigentlich redet inzwischen jeder über gesunde Ernährung, über mehr Wertschätzung für Lebensmittel oder über nachhaltige Produktion. Man glaubt fast, es gebe ein neues Bewusstsein für Ernährung. Was hat sich verändert seit Sie als Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft im Amt waren?
Renate Künast
: Jede große Veränderung beginnt mit Zwergenschritten. Diese Strömung kommt ja nicht von ungefähr. Eine meiner ersten Handlungen als Ministerin war, die schwarz-rot-goldene Ähre aus dem Logo des Ministeriums herauszunehmen, denn damit wirkten schon die Vorlagen des Ministeriums als wären sie vierzig Jahre alt. Wir wollten uns aber in die aktuellen Debatten einmischen. Also haben wir begonnen, die größten Ernährungsprobleme zu ermitteln – heraus definiert haben wir dabei dann Kinder und ältere Menschen. Begonnen haben wir mit dem Thema ‚Kinder’ und heute ist noch offensichtlicher, dass unsere Ernährungswelt den Kindern nicht gut tut. Die WHO redet von der Epidemie der Fettleibigkeit. Heute bin ich überzeugt, dass das große Interesse für gesunde Ernährung noch deutlich weiter gewachsen wird.

Ist das ein Trend oder ein tatsächlicher Wandel?
Nein, das ist kein Trend. Das ist ein Wandel, eine Veränderung der Grundhaltung. Und das geht weit über die Ernährung hinaus. Ich sehe ein erfreulich großes Bewusstsein für alles, was mit nachhaltigem Lebensstil, ökologischen oder fairen Produkten und Ernährung zu tun hat. Dazu gehört auch, dass immer mehr junge Leute gar kein Auto mehr kaufen wollen, sondern auf Sharing-Modelle setzen oder sich Fahrräder kaufen. Aber ebenso ist die Auseinandersetzung mit Lebensmitteln, ihrer Herkunft und ihren Inhaltsstoffen inzwischen überall greifbar.

Welche Indikatoren sehen Sie dafür in der Gesellschaft?
Zuallererst sehe ich die Beschäftigung mit Nahrungsmitteln in unserer Gesellschaft. Wenn sich beispielsweise Eltern dafür interessieren, wie ihre Kinder im Kindergarten ernährt werden, zeigt dies, dass sie Einfluss nehmen wollen auf die Gesundheit und Fitness ihrer Kinder – und dies auch vermitteln wollen. Ärzte oder Lehrer setzen sich ebenfalls mehr für Ernährungsfragen ein und betonen, wie wichtig es ist, dass ein Kind gefrühstückt hat. Aber auch Themen wie Insektensterben oder andere Störungen des Naturkreislaufs werden im Alltag diskutiert. In den Städten gründen sich Ernährungsräte, die entwickeln, wie sich Städte ernähren können, und Ernährung zum Bestandteil von Stadtentwicklung machen. Gute Ernährung soll einfach sein. Die vielen Koch-Shows oder die zahlreichen Themen über Ernährung oder Rezepte in den Wochenzeitungen muss ich nicht ansprechen. Dies spielt sich nicht mehr nur im Premium-Bereich ab, sondern ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Vita: Renate Künast
  • Renate Künast wurde am 15. Dezember 1955 in Recklinghausen/ NRW geboren.
  • Sie studierte Sozialarbeit an der Fachhochschule in Düsseldorf. Von 1977 bis 1979 arbeitete sie als Sozialarbeiterin in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, speziell mit Drogenabhängigen. Später studierte sie Jura und schloss das Studium 1985 mit dem zweiten Staatsexamen ab. Sie ist Rechtsanwältin.
  • Der Westberliner Alternativen Liste trat sie 1979 bei und hat seitdem in verschiedenen Funktionen für die Partei gearbeitet.
  • Sie war von Januar 2001 bis zum 4. Oktober 2005 Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft.
  • Renate Künast führte die Fraktion über den Zeitraum von zwei Legislaturperioden.
  • Sie war Spitzenkandidatin der Berliner Grünen für die Bundestagswahl 2013 und von 2014 bis 2017 Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz im 18. Deutschen Bundestag.
  • Seit dem 24. September 2017 ist sie Mitglied des gewählten 19. Bundestages.

Wie kann die neue Bundesregierung dieses Momentum nutzen?
Auf jeden Fall muss sie endlich handeln. Ich habe mit Freude gehört, dass Julia Klöckner sagt, dass sie voran schreiten will. Allerdings zucke ich zusammen, wenn ich einen Satz höre wie ‚Ich will aber nicht vorschreiben, wie Deutschland schmeckt‘. Was soll das denn heißen? Von Schmecken oder Geschmack war ja gar nicht die Rede. Ich plädiere für weniger Ideologie und endlich mal Maßnahmen ergreifen.

Welches Schlüsselthema muss jetzt angepackt werden?
Stadternährung und damit ein ganzheitlicher Ansatz ist für mich vorherrschendes Thema. Städte wie Toronto, Kopenhagen oder Brighton haben Ernährung zum Teil der Stadtplanung gemacht. Sie reden dort über Ernährung genauso konzeptionell wie über ÖPNV, Energie, Straßen, Kliniken, Schulen und Kindergärten. Wie sich eine Stadt ernährt heißt ja auch, wie gesund sind die Bewohner vom Kind bis zu den Senioren.


Warum ist die städtische Ernährung für Sie so wichtig?
Ich habe verschiedene Gründe dafür. Wir haben Abkommen unterzeichnet wie das Klimaschutzabkommen oder Ziele der WHO. Derartige Zielstellungen können wir gar nicht erreichen, wenn wir die Städte nicht mitnehmen – und die Städte ihrerseits diese Aufgaben nicht annehmen. In naher Zukunft werden 80 Prozent der Menschen in Städten leben. Die Gelegenheit für einen solchen Ansatz war noch nie so günstig, eben weil es ein wachsendes Food-Movement gibt. Und dort, wo Eltern sich darin nicht einbringen können oder wollen, um sich um die Ernährung der Kinder zu kümmern, sind wir als Staat gefragt, in Kindergärten und Schulen anzufangen.

Gibt es bereits ein Beispiel für ein solches Stadtkonzept?
Kopenhagen ist derzeit wohl schon am weitesten. Dort wurde entschieden, in allen 900 Gemeinschaftsküchen der Stadt – bis hin zu den Küchen in den Pflegeheimen – auf Bio umzustellen. 90 Prozent wurden mittlerweile umgestellt. Das zeigt für mich, was erreicht werden kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine solche Grundentscheidung großen Einfluss auf die Einkaufsentscheidungen aller Bürger dort hat, eine Absatzperspektive für Bauern ist und gut fürs Klima sowie Biodiversität ist.

Wie wollen Sie dieses Gesamtkonzept umsetzen?
Ich würde an dieser Stelle gern das Wort ‚Foodscape‘ einführen, abgeleitet vom englischen Landscape (Landschaft). Denn das meint die Art, wie sich die Stadt ernährt, für sich selbst zu einer Stadtlandschaft wird und Landschaft außerhalb gestaltet. Das schließt Böden, Gärten, Äcker, aber auch Handel, Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung ein. Wie sich eine Stadt ernährt, muss geplant werden. Woher kommen Lebensmittel für Kindergärten, Schulen, Mensen, Kantinen – und können wir bei diesem Essen darauf achten, dass es Vielfalt hereinholt statt zerstört. Ernährungsstandards wie die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sollen Maßstab werden. Das ewig gleiche Angebot von aufgebackenen Brötchen oder Gebäck unterstützt die gesunde Ernährung einer Stadt jedenfalls nicht. Mir geht es um den gemeinschaftlichen Ansatz dabei, in der Gemeinschaftsverpflegung und im öffentlichen Raum.

Klingt logisch … aber ungeheuer vielschichtig …
Das ist ja das Faszinierende. Hier geht es um Biodiversität, aber auch um die Pflege von regionalen, saisonalen und biologischen Produkten, die verwendet werden. Das ist dann gleichzeitig schon Ernährungsbildung, denn ich kann Kindern erklären, warum es nicht zu jeder Jahreszeit dasselbe Gemüse geben kann. Es bietet der Landwirtschaft im Umland Perspektiven, integriert Stadt und Land neu und nimmt auch die bäuerlichen Betriebe mit, in dem es ihnen Absatzmöglichkeiten beschert. Ich nenne das ‚Erhalten durch Aufessen‘. Das geht natürlich auch mit Trinken, denn regionale Biere oder ein guter Wein gehören auch in dieses Konzept. Stadt und Land müssen ihre Kontaktstrukturen verändern, um diese Produkte in die gesamte städtische Verpflegung einfließen zu lassen.

Welche Rolle hat der Handel dabei?
Ich gehe davon aus, dass der Handel sieht, welche Produkte gefordert sind und dass der Bedarf an Vielfalt steigt. Man merkt dies ja bereits. Auf der Expo in Mailand beispielsweise gab es diesen Modell-Supermarkt, bei dem bei jedem Produkt schon der ökologische Fußabdruck sichtbar war. Nun muss sicher nicht jeder Supermarkt so aussehen, aber die Erkenntnis ‚Genuss ist nicht immer Kaviar‘ ist wünschenswert. Der tolle Apfel von nebenan ist es genauso – plus die große Auswahl, die ein Händler an Äpfeln vorhalten kann. Der Handel hat sich schon auf den Weg gemacht, diese Vielfalt zu zeigen. Darüber hinaus hat er begriffen, dass die Kunden auch Produkte von kleineren Herstellern suchen und bedient diese Vielfalt. Aber die Strecke ist noch weit.

Wie soll der Handel diese Vielfalt denn ausloben?
Mit einer deutlichen Kennzeichnung. Das ist zum einen die Lebensmittelampel, zum anderen ein Siegel für Regionalität etc. So kann damit auch geworben werden. Für die Kunden ist das Lebensqualität, denn sie entscheiden sich ja bewusst, in welches Geschäft mit welchem Angebot sie gehen. Aber das geht nur mittels Transparenz.

Sehen Sie auch Änderungsbedarf in der Lebensmittelherstellung?
Auf jeden Fall. Wir müssen an den Reformulierungen arbeiten. Wir haben eine hohe Anzahl von hoch verarbeiteten Lebensmitteln, bei denen nicht mehr erkennbar ist, was es ist. Darüber hinaus haben diese Lebensmittel eine viel zu hohe Energiedichte. In meinen Augen reicht es nicht, hier auf die Gesamtkalorienzahl zu verweisen, wie Frau Klöckner das macht. Der englische Satz ‚Make it easy to go the healthy way‘ (‚Mach es leicht, gesund zu leben‘) muss unser Grundsatz werden. Es hat sich über die Jahre eine Praxis entwickelt, die häufig den billigsten Rohstoff einsetzt oder bei Rohstoffen trickst. Das darf es nicht mehr geben. Auf jeden Fall brauchen wir Transparenz über alles, was in den Produkten steckt.


Wie wollen Sie das umsetzen?
Hier muss die Industrie in die Pflicht genommen werden, Lebensmittel anders zu entwickeln – und nicht einfach nur Zucker durch Zuckerersatzstoffe zu ersetzen oder mehr Fett wegen des Geschmacks einzusetzen. Ich weiß, das ist schwierig, aber es gibt Länder, die beispielsweise mit einer Zuckersteuer bereits begonnen haben. Da wird dann auf einmal bis zu 30 Prozent Zucker reduziert, um keine Steuern zu zahlen. Im Bereich Tiefkühlkost war Frosta für mich ein hervorragendes Beispiel, weil sie konsequent auf Zusatzstoffe und ähnliches verzichtet haben. Das war zum Einführungszeitpunkt möglicherweise noch zu früh, hat sich aber als der richtige Weg herausgestellt.

Also auch hier klare Vorgaben?
Uneingeschränkt ja. Ich bin immer noch Verfechter einer klaren Ampelkennzeichnung. Ich würde Kindern sagen, ihr dürft euch einmal am Tag etwas Rotes nehmen – das gehört zum genussvollen Leben dazu. Aber man muss wissen, dass Produkte mit grün und gelb die Basis meiner Ernährung sein sollen. Das ist besser als irgendwelche Rechnereien oder merkwürdige Portionsgrößen, die keiner versteht. Deshalb brauchen wir ein Reduktionsziel, wir brauchen dabei konkrete Zahlenvorgaben für einzelne Produktgruppen.

Die Industrie denkt eher an freiwillige Selbstverpflichtungen …
Die Zeit der Freiwilligkeit ist vorbei. Alle freiwilligen Selbstverpflichtungen haben zu gar nichts geführt. Ich gebe ja zu, das mag wirtschaftlich für die Unternehmen schwierig sein, eine Vorgabe gleich ganz umzusetzen, aber wir können ja klare Zielvorgaben für einzelne Schritte festlegen. Auch das haben die Briten mit dem Childhood Obesity Plan vorgemacht, die 2016 Ziele vereinbart haben, die für verschiedene Produktgruppen wie Kekse, Eis, aber auch Joghurt schrittweise bis 2020 umgesetzt werden. Kinder müssen geschützt werden, denn für sie sind die Folgen ungesunder Ernährung in ihrem ganzen Leben spürbar. Das können wir nicht zulassen.

Was muss also passieren?
Zum einen müssen wir für die gesetzlichen Vorgaben bei den verschiedenen Produktgruppen zeitliche Limits setzen. Zum anderen müssen wir das Kindermarketing einschränken. Das habe ich als Ministerin schon versucht, mit der Industrie zu vereinbaren. Da hieß es, klar, machen wir. Aber wenn man genauer hinschaut, wird in diesem Bereich – ähnlich wie früher bei den Tabakwaren – rumgetrickst. Am Ende werden die Kinder dann im Netz eingefangen – zum Beispiel über Spieleseiten für Produkte, auf denen Kinder etwas gewinnen können. Es sollte keine Lebensmittelwerbung an Kinder unter 12 Jahren geben, wenn die Produkte nicht den Kriterien der WHO für ausgewogene Ernährung entsprechen, Punkt. Entsprechend darf die Werbung auch nicht im Umfeld von Schulen etc. hängen.

Kommt von der EU zu diesen Plänen Rückenwind?
Schon eher als hierzulande. Hier wird die Diskussion oft auf eine sehr kuriose Weise geführt – so als wolle man jemanden vorschreiben, was gegessen wird. Dabei ist es doch Realität, dass es schwierig ist, sich gesund zu ernähren. Die Gesellschaft für Ernährung gibt zwar eindeutige Regeln heraus, aber die ganze Umgebung lebt nicht danach und bietet kaum etwas dem entsprechend an. Es ist für einen Konsumenten schwer, rund um die Uhr tapfer zu sein, wenn es überall Eis, Brezeln Schokolade und andere hoch verarbeitete Produkte gibt. Nur vom mündigen Bürger zu reden, ist ein Ablenkungsmanöver.

Was schwebt Ihnen denn vor, um speziell die Kinder zu schützen?
Kinder stehen vor der ganz großen Herausforderung. Sie werden einfach überall animiert; selbst in Restaurants ist das Kindermenü meist das Schnitzel oder Wurst mit Pommes. Und dann ist Naschen auch noch schick: Denken Sie zum Beispiel an die Kinder-Überraschungseier. Hier geht es um Sammeln, aber auch um das Geschichten erzählen. Das dockt bei ganz kindlichen Bedürfnissen an. Ernährungsbildung allein, damit ist es ja nicht getan. Auch der Handel allein kann es nicht richten. Er kann zwar Süßwaren nicht mehr an die Kasse platzieren, aber wenn draußen die Freunde naschen oder geworben wird, nutzt das ja alles nichts. Wir müssen ganzheitlich planen – und die ganze Umgebung, wie die Städte miteinbeziehen.

Konkret gefragt: Gehen die Aktivitäten des Handels mit den Labeln für Tierhaltung in die richtige Richtung?
Ja, es geht in die richtige Richtung, weil es erste Schritte der Transparenz sind. Seit wir das Bio-Siegel auf den Markt gebracht, es beworben und die Strukturen dahinter geschaffen haben, ist klar, dass wir erkennbare, verlässliche Zeichen für die ganze Produktionskette brauchen. Es hat natürlich in Sachen Tierhaltung Versuche gegeben – wie zum Beispiel über QS – aber diese gingen nicht über die gesetzlichen Standards hinaus. Das bringt ja nichts, dies zu kennzeichnen. Seitdem ist aber auch lange nichts mehr passiert. Die Kunden wollen aber Ware, die die Tierhaltung kennzeichnet. Jetzt geht der Lebensmittelhandel los mit einer Kennzeichnung, aber nicht vergessen: Der Fleischkonsum muss runter gehen. Das ist gesünder.

Was ist Ihr Wunsch in dieser Debatte?
Ein verpflichtendes staatliches Siegel, bei dem ich alle Varianten der Tierhaltung, also alle Standards dafür, erkennen kann. Das soll klar und einfach sein – wie beim Frischei! Dazu gehört auch eine Initiative für eine europaweite Kennzeichnung.

Haben Sie den Handel in der Vergangenheit offen für solche Themen erlebt – oder eher als Blockierer?
Inzwischen als offen. Mag sein, dass aus der Energiedebatte gelernt wurde. Energiesparmaßnahmen wie geschlossene Kühltruhen sparen Kosten und zukunftsweisende Technologien lohnen sich. Der Handel ist näher am Kunden dran und weiß daher, was gefordert wird. Die größte Hürde ist für mich eher die Industrie. Die verweigert sich in meinen Augen mehr in Sachen Transparenz oder Inhaltsstoffe – oder auch gesunder Ernährung. Hier kam am meisten Widerstand. Nun jedoch kommt der Widerstand aus den Städten, von Ernährungsräten und Kunden, die wissen, sie gestalten unsere Lebensgrundlagen mit dem Einkaufskorb.

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